Abstimmung?
Antitürkismus und Antisemitismusvon
Dr. C. Schell-Apacik
Es waren ca. 15.000 Menschen aus Frankreich und
ca. 100.000 Menschen aus anderen west- und vor allem osteuropäischen
Ländern, die gerettet wurden. Verglichen mit der Zahl von sechs
Millionen durch Deutsche ermordeter Juden während der Shoah eine
gering anmutende Zahl. Es waren dennoch über einhunderttausend
Jüdinnen und Juden, die gerettet werden konnten durch die
Aktivitäten der Türkischen Republik und ihrer Vertretungen im
Ausland.
Anfang der dreißiger Jahre, als in Deutschland
Juden, Akademiker, Wissenschaftler, Lehrer ihre Arbeit verloren,
erhielten hunderte von ihnen in der Türkei eine Anstellung. Was
viele nicht wissen: in den dreißiger Jahren waren ca. 90% aller
akademischen Hochschulpositionen mit Juden, vornehmlich aus
Deutschland besetzt.
Dadurch, dass die Türkei während der Shoah und des Zweiten
Weltkriegs neutral blieb, war sie in Europa in der einzigartigen
Lage, Juden, die verfolgt, inhaftiert und ermordet wurden zu helfen
– und sie tat es.
Es ist gut dokumentiert, wie türkische Diplomaten zum Beispiel in
Griechenland und in Frankreich beharrlich gegen die Internierung von
„türkischen“ Juden intervenierten. In Frankreich waren es vor allem
die Botschaft in Vichy und die Konsulate in Paris und Marseillle,
die bei deutschen und französischen Stellen die Freilassung von aus
der Türkei stammender Juden bewirkten. Man argumentierte, dass es
sich um türkische Staatsbürger handele, und, da die Türkei keine
Unterschiede zwischen ihren Bürgern nach Religion, Abstammung oder
Herkunft mache, müssten alle türkischen Bürger gleich behandelt
werden. Und dabei handelte es sich nicht immer um türkische Bürger,
sondern vielfach um Menschen, die ihre türkische Staatsangehörigkeit
aufgegeben oder verloren hatten. Man stellte kreative Urkunden über
eine „Irreguläre türkische Staatsbürgerschaft“ an betroffene
Menschen aus. Im Jahr 1943 waren es vier Züge und 1944 weitere acht,
die zusammen etwa 2.000 Menschen aus Frankreich nach Istanbul
brachten. Es gab zahlreiche andere Beispiele in vielen anderen
westeuropäischen und osteuropäischen Ländern wie z. B. Litauen,
Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien und in Griechenland.
Es waren immerhin über einhunderttausend Menschen. Es ist sicherlich
kein Zufall, dass die Türkei nach dem Krieg zu den
Gründungsmitgliedern des Europarates und der NATO gehörte. Es ist
sicher auch kein Zufall, dass die Türkei in der denkwürdigen
Abstimmung der UN-Vollversammlung – und da kam es auf jede einzelne
Stimme an – der Gründung des Staates Israel nicht im Wege stand. Und
es ist sicher auch kein Zufall, dass heute die Türkei und Israel
nicht nur militärisch zusammenarbeiten.
Die Türkei ist in den letzten Monaten und Wochen wieder einmal in
das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt worden. Soll die Türkei
Mitglied der EU werden, oder nicht? Dabei wurden auch zahlreiche
Stereotypien bemüht. Nicht nur wurde zum Beispiel im Morgenmagazin
der ARD und des ZDF vom drohenden Islam und von der historischen
Belagerung der Türken vor Wien gesprochen, auch wurde offen von
konservativen Parteien eine Unterschriftenaktion gegen den Beitritt
der Türkei erwogen.
Es ist dabei viel die Rede von Grundwerten, Rechtstaatlichkeit und
Menschenrechten. Worthülsen ohne ein menschliches Gesicht, die als
selbstgerechte Munition andere treffen soll. Und ich denke, es ist
kein Zufall, dass sie dabei den Argumenten, die beharrlich auch
gegen Israel vorgebracht werden, gefährlich ähneln. Hier wie dort
wird aber über eine etablierte, stabile Demokratie gesprochen:
Die Türkei ist kein islamisches Land, sondern ein laizistischer
Staat, dessen bürgerliches Recht dem schweizerischen und das
Strafrecht dem italienischen folgt. Das Land kämpft seit dem Anfang
des letzten Jahrhunderts beharrlich gegen Terrorismus und gegen den
Islamismus. Am 29.06.2004 erst erklärte der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte das an staatlichen Schulen und Universitäten in
der Türkei geltende Kopftuchverbot für verfassungskonform.
Und auch Israel ist ein demokratisches Staatswesen, das von Anfang
an Terror und Aggression ausgesetzt war, und das von seinem Recht
Gebrauch macht, sich zu wehren. Freiheit ist zerbrechlich und wird
oft missbraucht – eine Binsenwahrheit. Eine andere Binsenwahrheit:
Eine Demokratie muss sich wehren, damit seine Bürger auch in
Freiheit leben können.
Hier wie dort geht es aber nicht um Kritik an einem anderen Land,
sondern es geht auch um Angriffe gegen eine in Deutschland lebende
Minderheit. In der heute-Sendung im ZDF wurde zum Beispiel in diesem
Zusammenhang davon gesprochen, dass derzeit ca. 700.000 Türken mit
deutschem Pass in Deutschland leben. Ist diese nach ethnischen
Kriterien orientierte Wahrnehmung des anderen nicht bezeichnend?
Türke bleibt Türke, genauso wie Jude Jude bleibt, egal, ob er oder
sie einen deutschen Pass besitzt. Ich habe Möllemann und Hohmann
nicht vergessen, und die peinlichen Rechtfertigungen und die Latenz,
bevor die so genannten etablierten Parteien reagierten. Ich habe
auch Mölln und Solingen nicht vergessen.
Erst am 18.10.2004 wurden drei BGS-Beamte zu Bewährungsstrafen von
jeweils neun Monaten verurteilt, weil ein Mann aus dem Sudan bei der
Abschiebung vor fünf Jahren starb, da die Beamten ihn bei der
Abschiebung erstickt hatten. Es handle sich um eine Körperverletzung
mit Todesfolge in einem minderschweren Fall, so das Gericht, weil
der BGS seine Beamten nicht ausreichend für Abschiebungen geschult
habe. Man darf sich fragen, welcher speziellen und ausgeklügelten
Schulung es wohl bedarf, einen Menschen nicht zu töten. Auf der
anderen Seite wurden in einem Aufsehen erregenden Prozess in der
Türkei am 26.03.2003 vier Polizisten zu jeweils viereinhalbjährigen
Haftstrafen wegen Folter und Totschlags verurteilt, weil ein Student
in Polizeigewahrsam starb. In beiden Fällen starb ein Mensch durch
Beamte, wobei man in der Türkei wohl nicht davon ausging, es hätte
einer speziellen Schulung der Beamten bedurft.
Zu Recht gab es nun, nach dem Versuch, gegen die türkische
Minderheit zu polemisieren, eine Welle des Protestes. Zu Recht wurde
darauf hingewiesen, dass die Angelegenheit auf europäischer Ebene
entschieden wird, und kein innenpolitischer Gegenstand ist.
Inzwischen wird eine Unterschriftenaktion von den Konservativen wohl
auch nicht mehr erwogen. Ich hoffe sehr auf die Vernunft. Im
Politbarometer vom 15.10.2004 befürworteten immerhin 69% der
Befragten nicht diese Unterschriftenaktion.
Letztendlich ist es nicht so wichtig, ob die Türkei Mitglied der EU
wird oder nicht. Wichtig ist, wie man hier in diesem Land mit
Minderheiten umgeht, wie Antitürkismus und Antisemitismus
wahrgenommen werden (wenn sie denn wahrgenommen werden), und wie
darauf reagiert wird. Die Wahlerfolge der rechten Parteien der
vergangenen Zeit sind bedrohlich. Sprechen sie nicht für einen
wieder erstarkenden Fremdenhass? Und bei den nächsten
Bundestagswahlen wollen die Rechten gemeinsam antreten – als
„Nationale Front“ sozusagen. Und wie reagieren die so genannten
etablierten Parteien darauf? Da kann man noch gespannt sein – und
wohl auch Befürchtungen hegen.
Es gibt einen Midrash, demzufolge die Welt deswegen nicht untergeht,
weil es in jeder Generation mindestens 36 Gerechte gibt. Aber
niemand – außer dem Ewigen, weiß, wer sie sind. Der Midrash ist an
vielen Stellen in unserer Torah verwurzelt. Man denke nur an Noah,
um dessen willen Gott nicht die gesamte Menschheit in der Sintflut
umkommen lässt; oder an das Zwiegespräch zwischen Gott und Abraham,
in dem es darum geht, dass der Ewige der Gerechten willen, die in
Sodom leben, zu versprechen gewillt ist, die Stadt nicht zu
zerstören. Aber am Ende der Geschichte wird Sodom dennoch zerstört,
trotz Abrahams Mut und Intervention und trotz dem guten Willen des
Ewigen, weil kein Gerechter gefunden werden konnte.
Ich hoffe sehr auf die Vernunft. Ich weiß, dass gerade die Türkei
enorme Anstrengungen unternommen hat, um an dem Punkt zu sein, wo
sie heute ist – ohne fremde Hilfe von außen – und ich bin sicher,
dass sie auf ihrem Weg auch aus eigenem Antrieb weiter gehen wird.
Ich weiß das und ich hoffe.
Ich weiß, dass Israel enorme Anstrengungen unternommen hat, sich und
seine Bürger gegen die arabische Übermacht zu verteidigen und gegen
den Terrorismus vorzugehen. Ich weiß das und ich hoffe.
Ich weiß auch, um Deutschland und die Shoah. Ich weiß, dass die
deutsche Demokratie nicht selbst gewählt wurde, sondern von den
Siegermächten verordnet war.
Ich weiß die Freiheit hier zu schätzen und hoffe dass
Fremdenfeindlichkeit, Antitürkismus und Antisemitismus entschieden
begegnet wird. Und ich hoffe, dass die Freiheit in Israel und der
Türkei bewahrt werden kann.
Ich weiß das alles und hoffe. Nur manchmal, wenn ich so nachdenke
und grüble, kommen mir Zweifel. Dennoch bin ich bereit, um der
Gerechten willen zu hoffen.
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22-10-2004 |