MEMRI Special Dispatch – 11.
Juni 2004
Nader Fergany:
Erdogan und die arabischen Führungen
In der englischsprachigen
Wochenzeitung Al-Ahram Weekly kommentiert der Direktor des Almishkat
Research Centers, Nader Fergany, die vom türkischen Ministerpräsident
bei seinem Besuch in Israel geäußerte Kritik an Israel und den USA.
Er führt Erdogans scharfe
Kritik darauf zurück, dass dieser als frei gewählter Repräsentant
verpflichtet sei, die Stimmung in der türkischen Bevölkerung
widerzugeben. Die arabischen Regierungen hingegen seien viel zu "zahm",
weil sie eher den Interessen der USA als der öffentlichen Meinung in
ihren Ländern folgen würden. Nader Fergany ist einer der Hauptautoren
des im vergangenen Jahr erschienenen und berühmt gewordenen Arab Human
Development Report. Sein Text erschien in der aktuellen Ausgabe von
Al-Ahram Weekly vom 10.6.2004:
"Arabischer als die Araber?"
"Warum steht der türkische Premierminister den israelischen und
amerikanischen Verbrechen kritischer gegenüber als arabische
Staatsmänner?"
"Der türkische Premierminister, Recep Tayyip Erdogan, verhält sich
durchaus merkwürdig. Da ist sein Land Mitglied der NATO und versucht
gerade, der EU beizutreten. Dann wird der Türkei von unserer Seite
häufig vorgeworfen, sich vom Islam und den Arabern zu entfremden und dem
Westen aus der Hand zu fressen. Außerdem hat es bedeutende und ganz
offene politische und militärische Verbindungen zu Israel. Trotzdem hat
Recep, worüber in unseren Medien kaum berichtet wurde, während der
letzten Tage scharfe Kritik an Israels Gräueltaten in Palästina und am
Versuch der US-Administration geübt, ein Modell für den 'Greater Middle
East' aufzuzeigen – selbst wenn es sich dabei um die Türkei handelt.
Recep hätte sich ja auch geehrt fühlen würde, dass sein Land als Modell
für Reformen angesehen wird. Man stelle sich vor, was los wäre, wenn die
amtierende US-Regierung Ägypten als Modell auserwählen würde. Der Jubel
in unseren honorigen offiziellen Medien wäre riesengroß.
Auch könnte Receps Kritik definitiv türkischen Interessen schaden –
insbesondere vor dem Hintergrund, dass der türkische Premierminister am
G-8 Gipfel teilnimmt und Gastgeber der darauf folgenden NATO-Konferenz
ist. Bei beiden Treffen steht das Thema 'Greater Middle East' ganz oben
auf der Agenda und Israel wird in den Korridoren, wenn nicht gar im
Konferenzraum selbst, mit von der Partie sein.
Nun kann man aber nicht unbedingt davon ausgehen, dass arabische
Offizielle dem Beispiel Erdogans folgen werden. Sie tun es vor allem
wegen der Macht ihrer Alliierten nicht. Angst hat die Zungen der
arabischen Führer gelähmt und die Stifte ihrer Redenschreiber
stillgelegt.
Eigentlich hatten wir gehofft, dass der Arabische Gipfel in Tunis eine
Position einnehmen würde, die noch über die Vorwürfe Receps hinausgeht.
Wir hatten auf Taten gewartet, die Rhetorik in politische Realität
verwandeln würden. Aber obwohl der Gipfel diesbezüglich nicht den
Erwartungen der Bevölkerung in den arabischen Länder entsprach, wurde er
trotzdem als Gipfel des ‚Schicksals’ gefeiert. Allerdings scheint uns
Recep, selbst wenn es doch um unser Schicksal geht, immer noch weit
voraus zu sein. Ist der Mann verrückt geworden? Betrachtet er sich als
arabischer Ultra-Nationalist? Fließt etwa arabisches Blut in seinen
Adern?
Wie wir alle wissen repräsentiert Erdogan eine islamische Partei. Aber das
ist nicht die ganze Geschichte. Unsere Führer sind Muslime und rühmen
sich sogar, Hüter der islamischen heiligen Stätten zu sein – obwohl eine
der zwei heiligsten Stätten des Islams nun von Israel gehalten wird.
Die israelischen Übergriffe und die amerikanisch-englische Besatzung des
Irak sind so grausam, dass sie jeden Menschen erzürnen müssen. Aber
erzählen Sie das mal den arabischen Führern. Der Gipfel des ‚Schicksals’
hat es nicht fertig gebracht, im Namen des menschlichen Gewissens zu
sprechen. Genau das hat aber Erdogan getan - wie viele Bürger oder NGOs
aus dem Lagers des Feindes auch.
Die Unterdrückung der Freiheit in arabischen Ländern hindert den
gewöhnlichen Araber daran, seine Gefühle zu äußern, während gleichzeitig
die arabischen Machthaber darum wetteifern, die US-Regierung und deren
Schläger [orig.: goons] in Israel zu besänftigen. Eine arabische
Regierung hat ein Wirtschaftsabkommen mit Israel unterzeichnet als das
Blut in den Straßen von Rafah noch nicht trocken war. Und hinter der
‚Philadelphia Road’ gelegen unterstützt eine andere Sharons Plan für
einen einseitigen Abzug aus Gaza - ein Plan, der die arabischen Rechte
in Palästina unterwandern und die Roadmap umgehen will, die selbst zu
nichts als Mord und Totschlag geführt hat. Die Araber bieten Israel eine
friedliche Koexistenz, noch bevor Israel irgendwelche glaubwürdigen
Verpflichtungen hinsichtlich der legitimen Recht der Palästinenser
eingegangen ist.
Der Gegensatz zwischen Erdogans Standpunkt und dem der arabischen Führer
mag verwirrend erscheinen. Er ist es aber nicht: Erdogan wurde nämlich
demokratisch gewählt und muss deswegen der Nation, die ihn in sein Amt
gebracht hat, Rechenschaft ablegen. Keine Nation, die in Freiheit lebt
und gut regiert [Good Governance] wird, kann Unrecht zulassen - sogar
wenn es anderen geschieht. Ebensowenig können Führer, die in freien und
gerechten Wahlen gewählt wurden, es sich erlauben, die Gefühle ihrer
Bevölkerung zu ignorieren. Sollte uns das nicht eine Lehre sein?"
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