Mehr als nur Totschweigen
Der Antisemitismus hat in der türkischen
Geschichte eine lange Tradition. Darüber reden mag aber niemand,
nicht mal die türkischen Juden.
von rifat n. bali, istanbul
In der Türkei gab es in der Vergangenheit
keinen Antisemitismus, es gibt in der Gegenwart keinen, und es wird
in Zukunft keinen geben. So lautet der Konsens, dem alle Beteiligten
zustimmen – der türkische Staat, die politische und intellektuelle
Elite, die Leitung der türkisch-jüdischen Gemeinde, der Staat Israel
und die jüdischen Organisationen in den USA.
Die Wahrheit sieht indes anders aus, und sie
lautet schlicht: Wie in den übrigen islamischen und europäischen
Ländern gibt es auch in der türkischen Gesellschaft Antisemitismus,
der bisweilen in tödliche Aktion umschlagen kann.
Drastisch vor Augen geführt haben dies die
Terrorangriffe vom 15. November 2003 auf zwei Synagogen in Istanbul.
Es waren die verheerendsten, aber keineswegs die einzigen
antisemitischen Gewaltaktionen türkischer Islamisten in der jüngeren
Geschichte. 1980 wurde ein Bombenanschlag auf den Sitz des
Oberrabbiners in Istanbul verübt, 1992 griffen Militante der
Hizbollah die Neve-Schalom-Synagoge in Istanbul an. 1993 und 1995
scheiterten Mordanschläge auf den Unternehmer Jak Kamhi bzw. den
Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Ankara, Yuda Yürüm. Und 1997
konnte ein Anschlag auf eine Synagoge in Istanbul verhindert werden.
Kurz nach den jüngsten Anschlägen erklärte der
17jährige Sohn eines Attentäters der Tageszeitung Milliyet: »Wenn
keine Muslime ums Leben gekommen wären, hätte ich mich gefreut.«
Abgesehen von ein, zwei Kolumnisten empörte sich niemand. Zwar
hatten solche Äußerungen und natürlich die Anschläge selbst die
Notwendigkeit einer breiten Debatte über Antisemitismus offenbart.
Doch stattdessen redeten Politiker und Journalisten allgemein von
»Terrorismus«. Dass es sich um antisemitisch motivierte Taten
gehandelt hatte, brachte – wiederum abgesehen von einem oder zwei
Autoren – niemand zur Sprache. Spätestens mit den Bomben auf
britische Einrichtungen, die nach fünf Tagen auf die
Synagogenanschläge folgten, wurde das Thema Antisemitismus vollends
verdrängt. Allein die islamistische Presse fuhr unbeirrt mit ihren
Hasstiraden gegen die Juden fort.
Gescheiterte bürgerliche Gesellschaft
Die Wurzeln des gegenwärtigen Antisemitismus in
der Türkei reichen bis in die Gründungsphase der Republik zurück.
Zwischen 1923 und 1945 verfolgte die Elite des neuen Staates eine
unnachgiebig laizistische Politik und versuchte, die Gesellschaft zu
säkularisieren. Die Nichtmuslime aber ließen sich nicht in der von
der Elite gewünschten Geschwindigkeit türkisieren und blieben
folglich »Fremde«. So wurden sie zum Ziel einer
institutionalisierten Diskriminierung. Die Führung der Republik
übernahm ihre diskriminierende Politik vom Osmanischen Reich, in dem
die nicht muslimischen Untertanen als Schutzbefohlene unter der
Vorherrschaft der Muslime als Staatsangehörige zweiter Klasse
gegolten hatten.
In der Frühphase der Republik hatten die Vorwürfe
gegenüber den Juden – selbst wenn sie gelegentlich antisemitische
Züge aufwiesen – im Wesentlichen einen fremdenfeindlichen Charakter.
Den Juden wurde vorgeworfen, kein ausreichendes, akzentfreies
Türkisch zu sprechen, für das Vaterland keinen Blutzoll erbracht zu
haben, die Türkei auszubeuten und keine Loyalität gegenüber dem
türkischen Staat aufzubringen.
1934 kam es im europäischen Teil der Türkei zu
einem antijüdischen Pogrom. Die Plünderungen und Attacken trieben
rund 10 000 thrakische Juden zur Flucht. 1942 beschloss die
türkische Regierung eine Vermögenssteuer, wobei Juden und anderen
Nichtmuslimen ein sehr viel höherer Steuersatz auferlegt wurde als
Muslimen. Wer nicht zahlen konnte, wurde verhaftet und in ein
Arbeitslager deportiert. Diese Kopfsteuer übertrug nicht nur Kapital
von Minderheiten an die Muslime, sondern markierte auch das
endgültige Scheitern des Projekts einer bürgerlichen Gesellschaft.
Bald darauf wanderten viele türkische Juden nach Israel aus. Lebten
1923 – bei der Gründung der Republik – noch etwa 100 000 Juden in
der Türkei, sind es heute nur noch rund 25000.
Zwei antisemitische Ideologen jener Zeit, Cevat
Rifat Atilhan und Nihal Atsiz, sollten prägenden Einfluss erlangen.
Beide entstammten der pantürkischen Bewegung. Während Atsiz zum
Vordenker der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), auch
bekannt als Graue Wölfe, avancierte, wandte sich Atilhan dem
politischen Islam zu. Die islamische Bewegung, die zuvor in den
Untergrund gedrängt worden war, gelangte ab 1946, mit dem Übergang
zu einem Mehrparteiensystem und der Etablierung einer relativen
Demokratie, an die politische Oberfläche.
Die früheren Vorwürfe an die Juden – ungenügende
Türkischkenntnisse, Illoyalität gegenüber dem Staat – verschwanden
im Folgenden. Nur die Bezichtigung, dass die Juden den Handel
beherrschten und die Türkei ausbeuteten, blieb lebendig und wurde im
Laufe der Zeit auch von Linken aufgegriffen. Dennoch: Der
antisemitische Diskurs, wie er ab 1946 einsetzte und bis heute
anhält, wurde am intensivsten und vehementesten im extrem
nationalistischen und im islamistischen Spektrum geführt.
Ein enorm wichtiger Faktor für die Verdichtung des
Antisemitismus im islamistischen Spektrum war die Gründung des
Staates Israel. Die türkischen Islamisten sahen sich als Teil der
Umma, der weltweiten islamischen Gemeinde. Als solcher empfanden sie
den Krieg von 1948, an dessen Ende die Etablierung Israels stand,
als kollektive Niederlage. Für die Islamisten blieb die Existenz
Israels eine zu revidierende Anomalie.
Zu einem wichtigen Handbuch der Islamisten wurden
die »Protokolle der Weisen von Zion«, im extrem nationalistischen
Spektrum kam Adolf Hitlers »Mein Kampf« hinzu. Zwischen 1934 und
2003 erschienen die »Protokolle« 97 Mal, die Übersetzung von »Mein
Kampf« brachte es zwischen 1940 und 2003 auf 33 Ausgaben. Zwischen
1991 und 2000 erschienen mindestens 22 den Holocaust leugnende
Schriften, ferner alle Arten von Verschwörungstheorien, die die
Juden als Drahtzieher allen Übels identifizierten.
Teuflische Ideologie
Gestern wie heute haben in der Türkei die Begriffe
»Zionismus« und »Israel« entweder einen teuflischen Beiklang oder
werden mit »Imperialismus« assoziiert. Dabei hängt jedes Aufflackern
des Antisemitismus mit der internationalen wie der innenpolitischen
Konjunktur zusammen. Nach jeder schweren Konfrontation zwischen
Israelis und Palästinensern steigt die Zahl antisemitischer Artikel
in der islamistischen Presse, organisieren das linke sowie das
extrem rechte Spektrum Demonstrationen, auf denen israelische Fahnen
verbrannt werden.
Ähnliche Wirkung zeigen die innenpolitischen
Konflikte. So führten die Auseinandersetzungen zwischen der
revolutionären Linken und der extremen Rechten in den siebziger
Jahren zu einem Anwachsen des Antisemitismus. Im antisemitischen
Diskurs, wie er seinerzeit bei den Islamisten vorherrschte, wurden
Kommunismus und Kapitalismus zu Spielarten des Zionismus erklärt. Um
die Türkei in seine Gewalt zu bringen, habe der Zionismus das
türkische Volk in zwei verfeindete ideologische Lager gespalten. Das
behaupteten nicht nur antisemitische Propagandisten, sondern auch
der langjährige Anführer des politischen Islams, Necmettin Erbakan.
Antikommunismus und Antisemitismus stifteten
Berührungspunkte zwischen den beiden Strömungen der Rechten, den
extremen Nationalisten und den Islamisten. Beide Kräfte machten
konvertierte, also »heimliche Juden« für die Verbreitung
sozialistischer und kommunistischer Ideen verantwortlich. Diese
paranoide Angst vor den konvertierten Juden sollte auch in den
neunziger Jahren eine wichtige Rolle spielen, als der – bis heute
nicht beigelegte – Machtkampf zwischen der
kemalistisch-laizistischen Elite und den Islamisten ausbrach. Wer
aber sind die Konvertiten, die »Dönme«, die zum festen Bestandteil
des türkischen Antisemitismus gehören?
Heimliche Juden
Als »Dönme« oder »Sabetaisten« werden die Anhänger
des Rabbiners von Izmir, Sabetay Sevi, bezeichnet. Er erklärte sich
im Jahr 1666 zum Messias und löste eine große Aufregung im
Osmanischen Reich aus. Sultan Mehmed IV. zitierte Sevi an seinen Hof
und verkündete, er wolle mit Pfeilen auf Sevi schießen und testen,
ob dieser tatsächlich gottgesandt sei. Daraufhin nahm Sevi seine
Behauptung zurück, bat den Sultan um Vergebung und trat mit seinen
Jüngern zum Islam über. Allerdings führten Sevis Anhänger fortan ein
Doppelleben. Dem äußeren Anschein nach waren sie Muslime, zuhause
befolgten sie aber weiterhin die jüdischen Gebote, heirateten
untereinander, unterhielten eigene Friedhöfe usw.
Viele Dönme lebten in Thessaloniki und wurden beim
griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von 1923 als Muslime
eingestuft und in die Türkei geschickt. Dort standen Intellektuelle
konvertierter Herkunft für Laizismus, Kemalismus, soziale Gleichheit
und einen kosmopolitischen und westlichen Lebensstil. Kein Wunder,
dass die Islamisten in ihnen das wichtigste Hindernis für ein
islamisches Regime sahen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die weit
verbreitete, wenngleich nicht offen formulierte Vorstellung, dass
Mustafa Kemal Atatürk ein Dönme gewesen sei. Nach Sicht der
Islamisten waren es »Zionisten, Freimaurer und Konvertiten«, die
Sultan Abdulhamit II. vom Thron stürzten und so das Ende des
osmanischen Staates einleiteten, nachdem Abdulhamit Theodor Herzls
Ansinnen nach der Übereignung von Land in Palästina zurückgewiesen
hatte. Ein solcher Clan aus Zionisten, Freimaurern und Konvertiten
habe hinter dem Konvertiten Atatürk gestanden, unter dessen Führung
das Kalifat abgeschafft und die moderne Republik gegründet wurde.
Dieses Ressentiment gegen vermeintliche oder tatsächliche
Konvertiten ist nicht nur bei Islamisten, sondern ebenso bei
armenischen und kurdischen Nationalisten anzutreffen.
Waren die Dönme zwischenzeitig in Vergessenheit
geraten, arbeiten seit einigen Jahren Autoren wie der prominente,
ehemals marxistische Wissenschaftler Yalçin Küçük daran, den Hass
auf die Konvertiten wieder zu beleben. Küçük und seinesgleichen
glauben, dass die Türkei von einer »Konvertiten-Bande« beherrscht
werde, so wie sie auch glauben, dass die USA von einer »jüdischen
Bande« regiert werde.
Schweigen der Betroffenen
Nun stellt der Paragraph 312 des türkischen
Strafgesetzbuchs das Schüren von »Hass und Feindschaft zwischen
Klassen, Sprachgemeinschaften, Religionen und Konfessionen« unter
Strafe. Dass die politischen Autoritäten dennoch den Antisemitismus
tolerieren und keinen Gebrauch von diesem Paragraphen machen, den
sie bei anderen Gelegenheiten nur allzu oft anwenden, liegt an der
politischen Struktur des Landes. Die 70 Millionen Muslime stellen
nahezu die gesamte Bevölkerung, die gesellschaftliche und kulturelle
Struktur ist maßgeblich von konservativen, islamischen und
nationalistischen Werten geprägt.
Daneben gibt es eine populistische islamistische Presse, die nur
darauf wartet, Politiker, die den Juden Entgegenkommen zeigen, oder
Autoren, die sich freundlich über Juden äußern, zu »Judenfreunden«
zu erklären. Die jüdischen Wähler haben kein Gewicht, um so mehr
fürchten Politiker, von der islamistischen Presse oder politischen
Kontrahenten als »Judenfreunde« tituliert zu werden. Und in einem
Land, in dem der Zionismus und Israel verteufelt sind, ist es das
Schlimmste, was einem Journalisten oder einem Intellektuellen
widerfahren kann, als »Judenfreund« bezeichnet zu werden. Inzwischen
dient auch der Hinweis auf den angestrebten Ausbau der
Meinungsfreiheit im Rahmen der Angleichung an die Europäische Union
als Vorwand dafür, die antisemitische islamistische Presse ungestört
walten zu lassen.
Dass auch die jüdische Gemeinde der Türkei und ihre inoffiziellen
Beschützer – der Staat Israel und die jüdische Lobby in den USA –
nicht über den Antisemitismus in der Türkei reden mögen, hat andere
Gründe. Die jüdische Gemeinde erfüllt seit der türkischen
Intervention auf Zypern im Jahr 1974 die Funktion, die
internationalen Lobby- und PR-Aktivitäten des türkischen Staates zu
unterstützen. Im Lauf der Zeit wurden auch Israel und
amerikanisch-jüdische Organisationen in diese Strategie eingespannt.
Wenn es etwa zu verhindern gilt, dass im US-amerikanischen Kongress
der historische Massenmord an den Armeniern oder aktuelle
Menschenrechtsverletzungen, der Kurdenkonflikt oder die Situation
der Minderheiten zur Sprache gebracht werden, dient die
türkisch-jüdische Gemeinde als Referenz.
Die türkisch-israelischen Beziehungen erleben gegenwärtig ihre beste
Phase seit 1948. Und auch den USA gilt Ankara als wichtiger
Verbündeter und Bastion gegen den Islamismus im Nahen und Mittleren
Osten, so dass weder Israel noch die USA oder jüdische
Organisationen in den USA Interesse daran haben, den Antisemitismus
in der Türkei zu thematisieren und ihr stattdessen Toleranz
gegenüber den Juden attestieren. Die türkisch-jüdische Gemeinde
wiederum hat keinen politischen und gesellschaftlichen Einfluss, so
dass es ihren Vertretern als kontraproduktiv und aussichtslos
erscheint, die antisemitischen Strömungen in der Gesellschaft offen
anzusprechen.
Gekürzte und überarbeitete Fassung eines
Vortrags, den Rifat N. Bali im Februar 2004 auf Veranstaltungen in
Köln, Berlin und Hamburg hielt. Die Übersetzung besorgte Deniz
Yücel.
Antisemitismus in der Türkei:
"Belagert und bedroht"
Deniz Yücel im Gespräch mit Rifat N. Bali...
hagalil.com
10-03-2004 |