DER ZERFALL DES OSMANISCHEN REICHS
UND DIE NACHKRIEGSORDNUNG
Der Nahe Osten à la carte
ZWISCHEN 1916 und 1922 gab es unzählige Verhandlungen
zwischen Briten und Franzosen um die Aufteilung des ehemaligen Osmanischen
Reiches. Auch die Amerikaner waren nach 1918 mit von der Partie. Sie
propagierten zwar das Selbstbestimmungsrecht der Völker, doch die Völker
selbst wurden nicht gefragt und nur spärlich informiert. Nach wie vor ist
die Region Objekt zahlreicher geopolitischer Rivalitäten.
Von HENRY LAURENS *
* Professor am Institut national des langues et
civilisations orientales (Inalco) in Paris. Autor von "La question
Palestine", Bd. 1 und 2, Paris (Fayard) 2000 und 2002.
1914 standen die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches
unter dem Einfluss der europäischen Mächte sowie der Vereinigten Staaten.
Die 1908 an die Macht gelangten "Jungtürken" versuchten, sich die ständigen
Einmischungen vom Halse zu schaffen, allerdings um den Preis eines
autoritären Zentralismus. Dagegen lehnte sich die arabische
Autonomiebewegung auf, die bei den Europäern bereitwillige Unterstützung
fand. Frankreich war durch sein wirtschaftliches Engagement und seine
Bildungs- und Kulturpolitik die vorherrschende Macht im "natürlichen
Syrien". Zuweilen sprach man sogar von einem levantinischen "Frankreich des
Ostens". Die Briten, die seit 1882 Ägypten besetzt hielten, erkannten diesen
Vorrang zuletzt widerwillig an.
Durch den Kriegseintritt im November 1914 wollten die Osmanen sich von der
Dominanz fremder Mächte befreien und die Ansätze regionaler Autonomie
zunichte machen. Ab Anfang 1915 traf die arabischen politischen Eliten eine
Welle der Repression (Hinrichtungen durch den Strang; Verbannungen nach
Anatolien), von der auch ganze Bevölkerungsgruppen betroffen waren: Die
Christen des Libanongebirges wurden durch Hunger dezimiert, Armenier und
andere anatolische Christen wurden deportiert und massakriert.
Um die beiden großen "muselmanischen Mächte" - das französische und britische
Kolonialreich - zu destabilisieren, riefen die Osmanen zum heiligen Krieg,
zum Dschihad, auf. Die Briten beschränkten sich zunächst auf einen
defensiven Kampf in der Nähe des Suezkanals, während die britisch-indische
Armee mit der schwierigen Eroberung des Irak von Basra aus begann.(1) Doch
der Dschihad bedrohte auch das französische Nordafrika (sowie einen Teil
Schwarzafrikas) und Britisch-Indien. Franzosen und Engländer gerieten in die
Defensive und suchten nach einer neuen juristischen Formel, um ihre frühere
Vorherrschaft wiederherzustellen. Zunächst erwogen sie, das Osmanische Reich
dezentralisiert zu erhalten, was faktisch einem Protektorat gleichgekommen
wäre. Nach der gescheiterten Dardanellen-Offensive 1915 sahen sie sich
jedoch gezwungen, den russischen Anspruch auf Konstantinopel zu akzeptieren
und eine Teilung der Region ins Auge zu fassen.
Die blutige Niederlage an den Dardanellen stellte den Plan nicht prinzipiell in
Frage. In der Hoffnung, der Bedrohung durch den heiligen Krieg ein Ende
setzen und eine neue Front gegen das Osmanische Reich errichten zu können,
stifteten die Engländer den Emir von Mekka, Scherif Hussein, zur Rebellion
an. Der britische Hochkommissar in Ägypten, McMahon, korrespondierte mit
Scherif Hussein, um ihn zum Aufstand zu drängen. Doch Übersetzungsfehler und
Missverständnisse hinsichtlich der Bedeutung der verwendeten Worte
komplizierten die ohnehin zweideutig gehaltene Korrespondenz, und niemand
bemühte sich, die Verwirrung aufzulösen.
Ein paar romantisch gesinnte Engländer in Kairo, darunter der legendäre T. E.
Lawrence, setzten auf eine arabische Wiedergeburt, die - auf der Grundlage
der Beduinenkultur - an die Stelle der osmanischen Korruption und des
frankophonen Levantinismus treten sollte. Diese Beduinen, die von den Söhnen
Husseins, den Prinzen der Haschemiten-Dynastie, angeführt wurden, waren
bereit, eine "wohlgesinnte" britische Einflussnahme hinzunehmen, zumal
London ihnen ein "unabhängiges" Arabien versprach - unabhängig vor allem von
den Osmanen, wie sich zeigen sollte. Die Franzosen hingegen wollten ihr
"Frankreich des Ostens" ins Landesinnere hinein ausdehnen und so ein
Französisch sprechendes und frankreichfreundliches "Großsyrien" aufbauen.
Zur Klärung der schwierigen Frage des Grenzverlaufes zwischen dem britischen
Arabien und dem französischen Syrien, wurden der Franzose François
Georges-Picot und der Engländer Mark Sykes zu Unterhändlern bestimmt. Deren
Verhandlungen zogen sich über Monate hin (zumal die Machtverhältnisse sich
immer wieder verschoben) und mündeten im Mai 1916 in einen Briefwechsel
zwischen dem französischen Botschafter in London, Paul Cambon, und dem
britischen AM Edward Grey.(2) Das Gebiet zwischen der syrischen Küste und
Anatolien sollte der direkten Verwaltung der Franzosen unterstellt werden.
Palästina sollte internationales Protektorat (de facto ein
französisch-britisches Kondominium), die irakische Provinz Basra und eine
palästinische Enklave um Haifa sollten der direkten Verwaltung der Briten
unterstellt werden. Die den Haschemiten überlassenen unabhängigen arabischen
Staaten wurden in zwei Einfluss- und Schutzzonen geteilt, die nördliche
wurde den Franzosen, die südliche den Briten zugewiesen. Die so genannte
Sykes-Picot-Linie sollte zudem den Bau einer englischen Eisenbahnlinie von
Bagdad nach Haifa ermöglichen. Russen und Italiener hatten vorab ihre
Zustimmung zu dieser Vereinbarung geäußert, während die Haschemiten nur sehr
verschlüsselt und spärlich über die Verhandlungen informiert wurden.
Anfang 1917 begannen die Engländer mit der schwierigen Eroberung Palästinas. Im
April traten die USA als "Assoziierte" - nicht "Alliierte" - Frankreichs und
Großbritanniens in den Krieg gegen Deutschland ein. Je stärker die
Kriegführung auf Motoreneinsatz angewiesen war, desto klarer erkannte man in
Frankreich und Großbritannien die künftige Abhängigkeit vom Erdöl (1918
gewannen die Alliierten den Krieg letztlich dank ihrer unbegrenzten
Erdölreserven). US-Präsident Woodrow Wilson fühlte sich an die
"Geheim"-Abkommen seiner Partner nicht im mindesten gebunden. Er gab sich
als Verteidiger des Selbstbestimmungsrechts der Völker, ohne dass je klar
wurde, ob dieses Recht auch für nichtweiße Völker wie die "Braunen" (die
Araber) und die "Gelben" gelten solle - von den "Schwarzen" war ohnehin
nirgends die Rede.(3)
Die englischen Statthalter in Kairo stellten das mit Frankreich geschlossene
Abkommen in Frage, zumindest bezüglich Palästina, wenn nicht gar für das
übrige Syrien. Mit Unterstützung aus London und mit treuherziger Miene
griffen sie auf die Wilson'schen Rhetorik zurück: Unter der "wohlgesinnten"
britischen Oberherrschaft sollten Araber, Kurden, Armenier und Juden künftig
auf den Ruinen des Osmanischen Reiches zusammenarbeiten.
Die "wohlgesinnte" britische Oberherrschaft
SYKES setzte in diesem Zusammenhang auf die zionistische Bewegung. So kam es am
2. November 1917 zur Balfour-Deklaration, die den Zionisten Unterstützung
für eine nationale jüdische Heimstätte "in Palästina" zusicherte. Die
Strategie der Briten beruhte auf der militärischen Einnahme des Gebiets,
begleitet von ermutigenden Signalen an die Araber, ihren Aufstand auf Syrien
(aber nicht auf Palästina) auszudehnen. Zudem beschwor London in mehreren
offiziellen Erklärungen das besagte Selbstbestimmungsrecht. Wobei dieser
Begriff bedeutete, dass die Völker das Recht haben, die Briten zur
Schutzmacht auszuersehen. Als radikale arabische Nationalisten diese
Vorherrschaft ablehnten, wurden sie, wie die profranzösischen Elemente, als
"Levantiner" verunglimpft.
1918 rückte die Erdölfrage in den Vordergrund. Nach dem Sykes-Picot-Abkommen
sollte Frankreich die Region von Mossul kontrollieren, wo bedeutende
Erdölvorkommen vermutet wurden. Allerdings sollten die Briten in dieser
Region die Bohrkonzessionen erhalten. Georges Clemenceau wollte einerseits
die koloniale Lobby zufrieden stellen, andererseits wollte er sich auf ein
"nützliches Syrien" beschränken - das heißt ohne das Heilige Land, aber
dafür mit Zugang zu den Erdölreserven. Wenn das Territorium zu groß war,
riskierte man einen übermäßig hohen Verwaltungsaufwand bei einem womöglich
allzu geringen Ertrag. Daher ließ Clemenceau den Gedanken an ein "integrales
Syrien" (heute würde man sagen: "Großsyrien") fallen und verhandelte
unmittelbar nach dem Waffenstillstand direkt und ohne Zeugen mit Lloyd
George über die Aufteilung des Nahen Ostens.
Unter dem Datum des 11. Dezember 1920 notierte der britische Regierungssekretär
Maurice Hankey in seinem Tagebuch: "Am Ende des Waffenstillstandes setzen
Clemenceau und Foch über [nach England]; sie werden begeistert und mit allen
militärischen Ehrenbezeugungen öffentlich empfangen. Man geleitet Lloyd
George und Clemenceau zur französischen Botschaft. […] Als sie allein sind
[…], sagt Clemenceau: ,Gut. Worüber müssen wir noch reden?' - ,Über
Mesopotamien und Palästina', antwortet Lloyd George. ,Und welches wollen
Sie', fragt Clemenceau. ,Ich will Mossul', sagt Lloyd George. ,Können Sie
haben', sagt Clemenceau. ,Sonst nichts?' - ,Doch, ich will auch Jerusalem',
fährt Lloyd George fort. ,Können Sie auch haben', antwortet Clemenceau,
"aber Pichon(4) wird Schwierigkeiten machen, wegen Mossul.' Es gibt weder
eine schriftliche Aufzeichnung noch ein Memorandum über diesen Moment. […]
Aber obwohl seine Kollegen und alle möglichen betroffenen Parteien ihn
später stark bedrängten, hat Clemenceau, unbeugsam, wie er war, niemals ein
Wort zurückgenommen. Und ich darf mit gutem Grund sagen, dass Lloyd George
ihm auch nie die Gelegenheit dazu gegeben hat. So ist es gewesen."(5)
Da die Franzosen aber jede territoriale Einigung davon abhängig machten, dass
beide Seiten Zugang zum Erdöl erhielten, liefen die beiden Verhandlungen
parallel. Von Anfang an hatte Wilson sich gegen eine Annexion der ehemaligen
deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifik durch das französische bzw.
britische Kolonialreich ausgesprochen: Er wollte sie dem künftigen
Völkerbund unterstellen. Mit großem Geschick schlug Lloyd George vor,
"Mandatsgebiete" des Völkerbunds zu kreieren, die für einen festgelegten
Zeitraum einer "zivilisierten" Macht überlassen werden sollten, die diese
Gebiete dann in die Unabhängigkeit führten sollte. Beiläufig nannte er in
diesem Zusammenhang auch die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches
(die so genannten A-Mandate). Wilson stimmte zu (Januar 1919).
Die Hauptbetroffenen wussten von nichts, als sie nach Paris vor den Obersten
Rat der Alliierten geladen wurden. Arabische Nationalisten, profranzösische
Kräfte aus Syrien wie auch Zionisten (eine libanesische Delegation wurde von
den Engländern an der Reise nach Frankreich gehindert) trugen im Februar
1919 ihre Forderungen vor, ohne zu wissen, was in Wirklichkeit gespielt
wurde. Lloyd George ließ es auf eine Kraftprobe zwischen seinen Vertretern
und den Franzosen ankommen. Die Frage lautete, ob es ein einziges Mandat
über den gesamten Nahen Osten (das dann zweifellos den Briten zugefallen
wäre) oder ob es zwei Mandate geben sollte: ein französisches und ein
britisches. Die Franzosen gaben nicht nach.
Erbost schlug Wilson daraufhin vor, die Bevölkerung zu konsultieren. Die
Engländer befürchteten eine Ablehnung durch die palästinensischen und
irakischen Araber; die Franzosen ihrerseits befürchteten, dass sie nach
einer Ablehnung durch die Syrer am Ende gezwungen sein könnten, der
Forderung nach einem libanesischen Staat mit christlicher Mehrheit
zuzustimmen. Die beiden europäischen Mächte zogen sich aus der Kommission
zurück, die daraufhin nur noch von Amerikanern geleitet wurde.
Nachdem die Kommission herausgefunden hatte, dass die palästinensischen Araber
den Zionismus ablehnten, die christlichen Libanesen Frankreich als
Schutzmacht akzeptierten und die syrischen Araber die Unabhängigkeit
forderten, bestimmte sie am 28. August 1919 niemanden anders als die
Amerikaner zur Mandatsmacht! Aber es war zu spät: Der amerikanische Senat
hatte den Versailler Vertrag nicht ratifiziert; damit zogen sich die
Amerikaner aus sämtlichen interalliierten Konferenzen zurück.
Entsprechend standen sich Franzosen und Briten wieder Auge in Auge gegenüber.
Nunmehr hatte sich das Kräfteverhältnis allerdings zugunsten der Franzosen
verschoben, da diese ihre militärische Präsenz verstärkten, während London
seine Armee demobilisierte. Die Aufteilung in Mandatsgebiete wurde
gebilligt, und zwischen September 1919 (Konferenz von Deauville) und April
1920 (Konferenz von San Remo) wurde in zähen Verhandlungen die
Sykes-Picot-Linie eingerichtet. Die palästinensische Grenze verschob sich um
einige Kilometer nach Norden. Transjordanien sollte zukünftig Palästina mit
dem Irak verbinden, sodass ein Korridor entstand - kurzfristig, um die
Flugstrecke nach Indien zu sichern, mittelfristig, um eine Pipeline zu
bauen, die das Eröl vom Irak zum Mittelmeer transportieren sollte (die Idee
einer Eisenbahn war von der Zeit überholt worden). An dem mit der
Erdölförderung betrauten Konsortium sollten die Franzosen mit einem Viertel
der Anteile (später 23,75 Prozent) beteiligt sein.
Am Ende bedurfte es doch noch einer Gewaltaktion, um die Mandatsherrschaft
tatsächlich durchzusetzen: Die Operationen der Franzosen und Briten in
Palästina, Syrien und im Irak mündeten letztlich in einen Krieg, der die
einheimische Bevölkerung dem Willen der Mandatsmäche unterwarf.
Das Verwerfliche daran war nicht etwa die Teilung als solche: Auch die
Haschemiten hatten zugunsten der älteren Söhne Husseins eine Teilung in
mehrere Staaten erwogen. Verwerflich war vielmehr, dass sie gegen den Willen
der Bevölkerungen erfolgte, und zwar begleitet von einer liberalen Rhetorik,
die sich durch den Einsatz von Gewalt als hohl und sinnlos entlarvte.
Gemessen an der politischen Entwicklung des letzten osmanischen Jahrzehnts,
in dem die Kooptation der Notabeln und die Einführung eines - wenngleich
sehr unvollkommenen - Wahlsystems den Weg zu einer echten politischen
Repräsentation gebahnt hatte, stellte das autoritäre Vorgehen der Franzosen
und Engländer einen nachhaltigen Rückschritt dar.
Als territoriale Aufspaltung hat sich die Teilung vor allem deshalb erhalten,
weil die neuen Länder unter die Herrschaft der neuen Hauptstädte und ihrer
Führungsschichten gerieten. Doch die Ereignisse von 1919/20 sind als Verrat
an den selbst formulierten Verpflichtungen in die Geschichte eingegangen und
in erster Linie als Verrat am Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die lokalen
Eliten büßten ihre eigentliche Rolle ein. Der später erwachende arabische
Nationalismus bestritt die Legitimität der Grenzen und propagierte den
Einheitsstaat als Allheilmittel gegen alle Übel der Region. So wurden die
realen Staaten entlegitimiert und nachhaltig geschwächt. Die Errichtung der
nationalen jüdischen Heimstätte schließlich hat die Konflikte in der Region
weiter angeheizt. Ein Ende ist auch heute nicht absehbar.
Doch in regelmäßigen Abständen taucht es immer wieder auf - das Gespenst eines
neuen "Sykes-Picot-Abkommens" oder einer neuerlichen, von außen
aufgezwungenen Teilung der Region. Der westliche Anspruch auf eine
moralische Überlegenheit, die auf der Praxis von Demokratie und Liberalismus
gründet, nimmt sich angesichts dessen als elender Schwindel aus. Dies ist
vielleicht die verhängnisvollste Konsequenz der damaligen Entscheidungen,
die bis heute fortwirkt.
deutsch von Horst Brühmann
Fußnoten:
(1) Die Engländer - mit ihrer indischen Kolonialerfahrung - träumen nicht von
einem romantischen Arabien, sondern wollen das ungeheure landwirtschaftliche
Potenzial, als welches man Mesopotamien damals betrachtete, ausbeuten, um
"die Welt zu ernähren". Siehe dazu: Charles Tripp, "Von den Briten lernen",
in: Le Monde diplomatique, Januar 2003.
(2) 1919 werden die Engländer die Einigung als "Sykes-Picot-Abkommen"
bezeichnen, um seine Bedeutung herabzustufen.
(3) Auf der Friedenskonferenz werden die Amerikaner die japanische Forderung
nach Rassengleichheit energisch zurückweisen.
(4) Französischer AM.
(5) Stephen Roskill, "Hankey. Man of Secrets", London (Collins) 1972, Bd. 2, S.
28 f.
Le Monde diplomatique Nr. 7028 vom 11.4.2003, 393 Zeilen, HENRY LAURENS
hagalil.com
25-12-2003 |