Beide Seiten haben Unrecht
von Amira Hass
Ha’aretz / ZNet 26.06.2002
Am Sonntag befragte ein Radio-Interviewer den
israelischen Armeesprecher Ron Kitrey zu 3 Kindern, die in Dschenin
(zusammen mit einem 60jährigen Zivilisten) von israelischen Panzersoldaten
getötet worden waren. Der Interviewer wählte seine Worte sehr sorgfältig -
so sorgfältig, dass er gegenüber Kitrey von “Jugendlichen” sprach, die
getötet worden seien: die “Jugendlichen” waren die erst 6jährige Soujoud
Turkey, der ebenfalls 6jährige Ahmed Ghazawi sowie dessen 12jähriger Bruder
Jamil.
Die beiden Brüder waren vor ihrem Haus Rad gefahren. Sie
hatten geglaubt - wie viele andere auch - die Ausgangs- sperre sei für ein
paar Stunden aufgehoben. Das Mädchen Soujoud war mit ihrem Vater
Broteinkaufen gegangen. Der Interviewer kam etwas ins Stottern, als er dem
Armeesprecher seine Fragen vortrug - vielleicht, weil es dieser Tage - bei
all den Selbstmordanschlägen - nicht als ‘politisch korrekt’ gilt, sich über
die palästinensischen Opfer Gedanken zu machen. Diese Kinder in
“Jugendliche” zu verwandeln, war also keineswegs ein Versprecher - vielmehr
war es Ausdruck eines Phänomens. Bereits bevor die Selbstmordanschläge zur
täglichen Routine geworden sind, nahm die israelische Gesellschaft die
zivilen palästinensischen Opfer der Israelischen Armee einfach nicht wahr,
sie lösten sich sozusagen in Luft auf - u. das tun sie noch heute. Weder im
politischen noch im militärischen Kontext gelten diese Opfer ja als
relevant.
Es geht mir nicht um Mitleid oder Moral. Daran will ich nicht appellieren.
Ich vergesse auch keineswegs das Leiden der israelischen Opfer. Worum es mir
vielmehr geht, ist die Fähigkeit der Leute, zu analysieren, weshalb dieser
Konflikt so eskalieren konnte - bis zum heutigen blutigen Teufelskreis der
Gewalt, der nicht mehr kontrollierbar scheint: sie sollen lernen zu
analysieren, um so erneut Kontrolle zu gewinnen. Die analytischen
Fähigkeiten der israelischen Gesellschaft sind verkümmert, weil deren
kollektives politisches Bewußtsein das Gesamt-Leid der Palästinenser - seit
der Intifada u. schon früher während der Oslo-Jahre - einfach nicht
wahrhaben wollte. Das israelische politische Bewußtsein stellte sofort auf
stur - u. das tut es noch heute - sobald ein Versuch oder Vorschlag kam, man
solle sich doch auch mal Gedanken machen, was die fortgesetzte israelische
Herrschaft über ein anderes Volk in ihrer Totalität - also in ihrer
Gesamtheit - so anrichtet: über die Details, die besonderen Charakteristika
u. die letztendlichen Konsequenzen. Sobald man von dieser ‘Totalität’
spricht - allgemein als Okkupation bekannt -, reagiert das ‘soziale
Barometer’, nämlich unsere Medien, mit Zurückweisung. Diese ‘Totalität’
(also Gesamtheit) ist für sie zu abstrakt, zu akademisch, zu offensichtlich.
Reden wir lieber über ‘Einzelschicksale’, heißt es dann immer. Aber wenn man
über ein Einzelschicksal spricht, läuft es doch immer auf dasselbe hinaus:
auf eine Rühr-Story über einen einzelnen leidenden Palästinenser. Vor der
aktuellen Intifada begriff man diese Berichte - Tod an einer Straßensperre,
durch die Israelis rationiertes Trinkwasser, Bauverbot für eine Schule in
Gebiet C, Bewegungseinschränkungen oder ein signifikanter Ausbau der
Siedlungen - lediglich als isolierte Rückschritte innerhalb des
‘Friedensprozesses’ - obgleich diese Dinge die palästinensische Bevölkerung
ja tagtäglich negativ betrafen.
Heute werden Berichte über “palästinensisches Leid” schlicht als Landes-
verrat begriffen. Die Israelis sind jetzt der Überzeugung, die
Selbstmordattentate seien Folge einer angeborenen Neigung der Palästinenser
zu Mord u. Totschlag. Es sei nunmal Teil ihrer Religion, ihrer Mentalität.
Oder anders gesagt: die Leute greifen zu bio-religiösen Erklärungsmustern -
anstatt zu soziologischen oder geschichtlichen. Ein großer Fehler. Denn wenn
man die Terroranschläge im Allgemeinen u. die Selbstmordanschläge im
Besonderen endlich stoppen will, muss man zuvor begreifen, warum die
Mehrheit der Palästinenser sie überhaupt unterstützt. Denn ohne diese
Unterstützung würden palästinensische Organisationen es nämlich nicht wagen,
Selbstmordattentäter loszuschicken - u. damit ja automatisch eine absehbare
u. eskalierende israelische Reaktion zu ‘provozieren’. Die Palästinenser
unterstützen diese Selbstmordattacken inzwischen - selbst die schlimmsten -
weil sie zu der Überzeugung gelangt sind, dass sie selbst, ihre schiere
Existenz sowie ihre nationale Zukunft das eigentliche Angriffsziel der
israelischen Regierung darstellen - bzw. schon während des Oslo-Prozesses
darstellten, als Israel ja eine auf Betrug angelegte Herrschaftstaktik
verfolgte, u. natürlich erst recht jetzt, wo die israelische Taktik
militärische Eskalation u. Belagerung heißt.
Die israelische Gesellschaft nahm die palästinensische Warnung während des
Oslo-Prozesses nicht ernst: eine aufgezwungene Regelung werde unweigerlich
in die Katastrophe führen. Ebensowenig wie das politische Bewußtsein der
Israelis auf die Palästinenser reagierte, als diese zu Beginn der Intifada
auf die exzessive Gewaltanwendung durch israelisches Militär während der
ersten Demonstrationen hinwiesen. Jetzt, 22 Monate später, entnimmt man hier
u. da einem Journalisten- oder Politikerkommentar, dass es rückblickend
bereits unter Barak bzw. Shaul Mofaz zu exzessiver Gewalt mittels tödlicher
Waffen gekommen sei. Wenn es damals ja wirklich darum gegangen sein sollte,
diesen Wirbelwind an Gewalt unter Kontrolle zu bringen, dann war eine
harsche militärische Antwort genau das Falsche. Im palästinensischen
Bewußtsein lebt diese Erfahrung exzessiver Gewalt weiter. Warum sollten die
Palästinenser auch ihre Kinder vergessen, die getötet wurden, nur weil sie
ein paar Steine nach einem gepanzerten Jeep geworfen hatten, nach einem
Panzer oder auf einen gepanzerten Außenposten? Warum sollten sie die
Zivilisten vergessen, die an Straßenblockaden von der israelischen Armee
erschossen wurden oder in ihren Wohnungen - u. nicht etwa im Kampf?
Die Palästinenser sind inzwischen genau von jener falschen Vorstellung
besessen, die Barak, Mofaz u. die Kommandanten vor Ort bei Beginn der
Intifada zu ihren Taten motiviert haben sowie die gesamte israelische
Gesellschaft, die ja hinter ihnen stand: “Mehr Gewalt, mehr Tote, mehr
Leiden - u. das so schnell wie möglich - das wird der anderen Seite eine
Lehre sein u. ihre Pläne durchkreuzen”. Die Selbstmordattentate in Israel
attestieren der Mehrheit der palästinensischen Gesellschaft mangelnde
analytische Fähigkeiten. Was die Palästinenser nicht begreifen wollen, ist,
dass ebenso, wie ihre tagtäglichen Toten durch die israelische Armee bzw.
ihre unerträgliche Lebenssituation unter der immer strengeren Belagerung
ihre Kräfte nur noch mehr stärken, es bei der anderen, der israelischen
Seite, im Grunde genauso ist: der zunehmende Tod, den die Palästinenser in
ihrer Mitte säen, stärkt die Israelis nur noch weiter. Auf diese Weise sind
beide Seiten inzwischen Opfer der irrigen Annahme, nur noch mehr tödliche u.
zerstörerische Gewalt könne die andere Seite stoppen. Aber beide Seiten
haben Unrecht.
27.06.2002:
Beide Seiten haben Unrecht
Übersetzt von: Andrea Noll
hagalil.com
28-06-2002 |