"Niemand denkt an
Gewaltakt gegen Arafat"
Die Palästinenser rücken von ihrem obersten Repräsentanten
ab. Sie fürchten aber auch einen Bürgerkrieg. Der Chef der Fatah, der
von Israel per Haftbefehl gesuchte Marwan Barghouti, meint, Arafat drohe
wegen seiner Politik Gefahr "von Seiten des palästinensischen Volkes"
RAMALLAH/GAZA taz "Wer ist dieser Marwan Barghouti
überhaupt", rief Palästinenserpräsident Jassir Arafat wütend auf die
Frage eines israelischen Fernsehreporters, der mit Zitaten kam, die dem
Chef der Autonomiebehörde gerade nicht ins Konzept passten. Barghouti
ist der Vorsitzende der Fatah, der Partei Arafats, im Westjordanland.
Dort gilt er gleichzeitig als der Chef der Intifada, die - ginge es nach
ihm - zumindest im Westjordanland und im Gaza-Streifen bis zum Ende der
Besatzung andauern würde. In manchen Kreisen wird er gar als
potenzieller Nachfolger für den Präsidentenposten gehandelt.
In diesen Tagen ist der knapp über 40-Jährige schwer zu erreichen. Aus
Sorge vor israelischen Exekutionskommandos arbeitet er täglich in einem
anderen Büro. Gestern stürmten israelische Soldaten sein Haus. Sie
fanden ihn nicht. Gegen Barghouti ist ein israelischer Haftbefehl wegen
"terroristischer Aktivitäten" ausgestellt. Zwei palästinensische
Fernsehreporter wissen, wo sie ihn suchen müssen: Im sechsten Stock
eines Einkaufszentrums in Ramallah. "Ich stehe im Zielfeuer der
israelischen Hetze", sagt er. "Einer meiner Mitarbeiter wurde beinahe
getötet." Zwar meint Barghouti, dass "ein politischer Führer zu jedem
Opfer bereits sein muss", dennoch würde er ungern sterben. "Ich habe
Frau und Kinder, und ich möchte sehen, dass mein Volk in Freiheit lebt",
sagt er.
Über 120 Verhaftungen, so die offizielle Version, hat die palästinensische
Führung seit dem blutigen Wochenende in Jerusalem und Haifa vorgenommen.
Unter den Verhafteten sind nicht nur islamische Fundamentalisten,
sondern auch Anhänger der paramilitärischen Fatah-Gruppe Tansim. "Die
Verhaftungen von Leuten, die sich nur gegen die Besatzung wehren, werden
weder zum Frieden noch zu einer Beruhigung der Lage führen", sagt der
Fatah-Chef dazu. Es gehe nicht an, dass Verhaftungen unternommen werden,
"solange die israelischen Blockaden und Bombardierungen fortgesetzt
werden. Ich glaube, dass er - Arafat - sich damit in eine gefährliche
Lage bringen wird." Und die Gefahr drohe "von Seiten des
palästinensischen Volkes".
Allerdings haben die islamischen Oppositionsgruppen, allen voran die Hamas
und der Islamische Dschihad, wiederholt angekündigt, dass ihnen an
Konflikten mit der palästinensischen Führung nicht gelegen ist. So hält
Abd-al Asis Rantisi, politischer Führer der Hamas in Gaza, einen
Gewaltakt gegen den Palästinenserpräsidenten für ausgeschlossen.
"Niemand denkt an so etwas. Wir sind Muslime. Grundloses Blutvergießen
ist in unserer Religion verboten." Rantisi steht selbst seit knapp zwei
Wochen unter Hausarrest, ebenso Scheich Achmad Jassin, der geistige
Mentor der Bewegung. Die von den Sicherheitskräften verhängten
Beschränkungen werden indes bislang kaum befolgt. So gibt Scheich Jassi,
entgegen den Verboten, weiterhin Interviews auch an ausländische Medien.
Nach dem Terroranschlag am Mittwochabend ließen die Sicherheitsdienste
alle Institutionen der islamischen Oppositionsgruppen schließen. Für ein
paar Stunden - dann wurde die Maßnahme rückgängig gemacht. "Wir leben im
Gaza-Streifen wie in einem großen Gefängnis", erklärt Ranitisi. "Einen
Umsturz kann es nicht geben. Wenn es hier zu einem Bürgerkrieg kommen
sollte, würde es in jedem Heim brennen."
Laut Umfragen unterstützt nur rund ein Drittel der palästinensischen
Bevölkerung Arafats Aufruf zu einem Waffenstillstand. Die überwiegende
Mehrheit begrüßt Terroranschläge auch im israelischen Kernland. Der
Menschenrechtsaktivist Raji Sourani aus Gaza hält diese Angaben jedoch
für irreführend. Der Anwalt erinnert sich an den 13. September 1993, als
Israel und die Palästinenser die Osloer Prinzipienerklärung
unterzeichneten. Damals tanzten die Leute auf den Straßen von Gaza und
brachten den israelischen Soldaten Blumen und Kuchen. "Es sind die
gleichen Leute." Die Situation im Gaza-Streifen "treibe einen in den
Wahnsinn". Es sei an Arafat, zunächst "Ordnung im eigenen Haus zu
machen". Dazu gehöre ein vernünftiges
Rechtssystem
und die Errichtung einer Nationalen Einheitsregierung, an der alle
politischen Bewegungen teilhaben.
SUSANNE KNAUL, taz vom 14.12.2001
© Contrapress media GmbH, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des
taz-Verlags
haGalil onLine 16-12-2001 |