Erschienen am: 19.09.2001
«Ich warne, den Islamismus mit dem Islam zu
verwechseln»
Ein Gespräch mit dem Politologen Bassam Tibi über Osama bin Laden
und den Islamismus
Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi, 1944 in Damaskus
geboren, ist Moslem und lehrt in Göttingen und Harvard Internationale
Beziehungen. Als Experte für Fundamentalismus und Sicherheitspolitik
weist er seit Jahren auf die Gefahren des religiösen Fanatismus hin. In
jüngster Zeit sind von ihm erschienen: «Die neue Weltunordnung» (Econ),
«Der Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden» (Primus
Verlag).
Mit Bassam Tibi sprach Martina Meister.
Martina Meister: Samuel Huntington sagte kürzlich, der «Clash of
Civilizations» liesse sich nur vermeiden, wenn sich die islamischen
Regierungen und Bevölkerungen richtig verhielten. Was können sie tun?
Bassam Tibi: Ich habe ein Jahr vor Huntington ein
Buch mit dem Titel «Krieg der Zivilisationen» veröffentlicht. Der
Unterschied zwischen Huntington und mir ist, dass ich zwischen Islam als
Religion, islamischer Zivilisation und islamischem Fundamentalismus
unterscheide. Das ist keine akademische, sondern eine politische
Unterscheidung. Ich kann nur warnen, den Islamismus mit dem Islam zu
verwechseln, den islamischen Fundamentalismus mit der islamischen
Zivilisation gleichzusetzen. Entscheidend ist jetzt, dass die westliche
Zivilisation, die europäischen Staaten und die USA mit islamischen
Regierungen gegen den islamischen Fundamentalismus zusammenarbeiten. Und
das ist möglich.
Kann sich die muslimische Welt mit der westlichen gegen diese
fundamentalistischen Strömungen solidarisieren?
Den Islam als Einheit gibt es nicht. Er variiert religiös von Ort
zu Ort. Es gibt auch nicht einen Fundamentalismus, sondern
unterschiedliche Spielarten. Die vier Hauptrichtungen des Islam sind
heute: der orthodoxe Islam, der schriftgläubige, der gegen Reformen ist;
dann der fundamentalistische Islam, der eine sehr starke Strömung
überall ist; dann der terroristische wie in Algerien, Sudan und jetzt in
Afghanistan; dann der Sufi-Islam, ein Volksislam, der zwischen Politik
und Religion trennt und in Zentralasien sehr stark ist. Er ist sehr viel
lockerer, und deshalb nennt man ihn den «Wodkaislam». Schliesslich gibt
es den Reformislam, der versucht, den Islam an die Moderne anzupassen.
Diese vier Strömungen sind in der Gesellschaft. Aber man muss zwischen
Gesellschaft und Staat unterscheiden. In Pakistan macht die Regierung
mit den Amerikanern mit, die Bevölkerung aber nicht. Dasselbe gilt für
Ägypten. In Pakistan kann die «Jamaat Islami» Hunderttausende auf der
Strasse mobilisieren. Kürzlich gab es in Islamabad und in Lahore grosse
Demonstrationen mit dem Aufruf: «Bin Laden ist unser Held! Wer ihn
angreift, greift uns an.» Auch in Ägypten und in Palästina hat es derlei
gegeben.
Wie lässt sich eine Spaltung verhindern?
Es gibt zwei Ebenen. Einmal muss man versuchen, mit den
islamischen Staatschefs zusammenzuarbeiten, also mit Pakistan, Ägypten,
Saudi-Arabien, Marokko. Andererseits muss man in Europa zwischen
normalen Muslimen und Fundamentalisten unterscheiden. In Deutschland
beispielsweise sind wir 3,5 Millionen Muslime. Darunter sind ungefähr
100 000 Fundamentalisten unterschiedlichster Ausrichtung. Die muss man
sich näher anschauen. Es sind höchstens 3 Prozent der Muslime, aber man
darf die 3 Prozent nicht mit den 97 Prozent verwechseln.
Die Fundamentalisten scheinen augenblicklich gestärkt. Einerseits
durch die Attacke selbst, andererseits durch jede Art von Gegenschlag.
Wie kann man diese Logik durchbrechen?
Alles hängt jetzt von den Reaktionen ab. Was Bush jetzt vorhat,
wird Öl ins Feuer der Fundamentalisten giessen. Er würde zweierlei damit
erreichen: Er würde die gemässigten islamischen Präsidenten und Könige
schwächen und den Fundamentalismus stärken. Denn die Regierung mag
pro-westlich sein, die Bevölkerung ist pro fundamentalistisch. Eine
Bombardierung wird den fundamentalistischen Teil der Bevölkerung
aktivieren.
Dann käme es zu dieser Vermengung, die Sie Huntington vorwerfen,
nämlich den Islam mit dem Fundamentalismus gleichzusetzen, und zum
berühmten «clash».
Genau. Dann kann man nicht mehr zwischen Islam und Islamismus
unterscheiden. Wichtig ist auch, dass es nicht nur das Feindbild des
Islam im Westen gibt, sondern umgekehrt auch in der Welt des Islam das
Feindbild des Westens. Ich halte Vorlesungen in islamischen Ländern und
versuche zu vermitteln. Sobald ich etwas Gutes über den Westen sage,
wirft man mir vor, Handlanger des Westens zu sein. Der Westen gilt als
Ausdruck des Übels. Wir müssen beide Feindbilder abbauen.
Die Amerikaner fragen sich zum ersten Mal, womit sie diesen Hass
verdient haben. Wie ist das Feindbild des Westens zustande gekommen?
Bin Laden ist kein Verrückter. Er hat die Vorstellung einer
islamischen Weltordnung. Er hat mit den Amerikanern während des
Afghanistankrieges zusammengearbeitet. Er sagt, damals haben sie die
Weltmacht Sowjetunion zu Fall gebracht. Und jetzt wenden wir uns der
anderen Supermacht zu. Meines Erachtens wird er das nicht schaffen, aber
er kann sie destabilisieren. Tatsächlich ist die heutige Weltordnung
westlich geprägt. Aber sie sagen: Das machen die Westler auf unsere
Kosten, und deswegen müssen wir diese Weltordnung verändern, und zwar
mit Gewalt. Der andere Grund für das Feindbild ist tagespolitisch. Die
Amerikaner unterstützen Israel, das als Feind des Islam gilt, und wer
Israel unterstützt, ist gegen Muslime. Es gibt eine Rede von bin Laden
auf Video, die immer noch auf allen Märkten in Lahore, Islamabad,
Karatschi verkauft wird, obwohl der pakistanische Präsident den
Amerikanern helfen will. Bin Laden sagt: «Eure Brüder», von Schwestern
keine Rede, «eure Brüder in Palästina warten auf Euch, um gegen die
Juden zu kämpfen.» Die USA werden gleichgesetzt mit den Juden, der ganze
Westen ist ihrer Ansicht nach in der Hand der Juden. Der Kampf gegen den
Westen ist ein Kampf gegen die Kreuzzügler, gegen die Juden.
Genau dieser Sprache des Kreuzzuges bedient sich Präsident Bush
jetzt...
Etwas Dümmeres kann er nicht machen. Das ist das Wort der
islamischen Fundamentalisten: Der Westen, so sagen sie, führe gegen den
Islam einen Kreuzzug. In Zukunft können sie Bush zitieren. Hier müssen
westliche Politiker mehr Sensibilität zeigen, wenn sie auf die
Unterstützung islamischer Staatschefs rechnen wollen.
Ist jetzt der Moment gekommen, da man die Fehler der amerikanischen
Aussenpolitik benennen muss?
Es gibt zwei Gefahren. Die Amerikaner sind emotional erschüttert.
Wenn die Europäer sie jetzt kritisieren, hätten sie das Gefühl, dass man
ihnen in den Rücken fällt. Das würde die transatlantischen Beziehungen
stören. Die andere Sache ist: Es gibt in Europa in der Tat einen
Antiamerikanismus. Man muss über amerikanische Fehler reden und ihnen
sagen können, dass sie jetzt kein Unheil anrichten dürfen. Aber wir
dürfen ihnen nicht die Solidarität verweigern. Amerika ist tief
verletzt.
Es gibt die These, dass der Mord an Massoud und die Attacke auf die
USA zusammenhängen. Bin Laden hätte also jemanden ausgelöscht, der in
dem Moment, wo das Talibanregime geschwächt werden könnte, zur Stelle
hätte sein können...
Eine plausible These. Aber vielleicht war es nur Zufall, dass
beides zusammen kam. Zentralasien ist multiethnisch, es gibt eine alte
Feindschaft von Paschtunen und Tadschiken. Der Kampf zwischen den
Taliban und Massoud war auch ein ethnischer Konflikt. Massoud war Chef
der Nordallianz, von verschiedenen Stämmen, die gegen die Paschtunen,
also die Taliban sind. Es war ein Schlag gegen die Opposition. Der Mord
hat die Nordallianz geschwächt, denn er galt als «Löwe von Panischar»,
weil er den Russen dort eine erbärmliche Niederlage bereitet hat. Sein
Nachfolger gilt als Schwächling. Der Mord an Massoud hat also die
Taliban gestärkt. Ausserdem waren die beiden an dem Mord beteiligten
Journalisten Jemeniten. Bin Laden ist auch Jemenit. Er ist jemenitischer
Gastarbeiter, der in Saudi-Arabien durch Baugeschäfte Millionär geworden
ist. Der Mord muss von bin Laden ausgegangen sein.
Gibt es eine Chance, dass die Taliban bin Laden ausliefern?
Nein. Der höchste Titel im Islam ist der des Iman. Er leitet das
Freitagsgebet und ist Oberhaupt der Muslime. Diese Institution gibt es
seit 1924 unter den 55 islamischen Ländern nur noch in zweien. Der
marokkanische König nennt sich so, doch das ist nicht so ernst gemeint.
Aber in Afghanistan gibt es keinen Staatschef. Das Oberhaupt der
Gläubigen heisst Mohammed Omar. Er ist ein Geistlicher, der nie
ausserhalb Afghanistans war, und er lebt geistig im Mittelalter. Er hat
gesagt, sie werden ihn nicht ausliefern. Und die Taliban werden das
respektieren.
Was wäre Ihr Ratschlag?
Keine Bombardierung. Das würde nur die amerikanischen Wähler
beruhigen. Man muss bessere Nachrichtendienste aufbauen, denn die
hochtechnologisierten Nachrichtendienste sind der heutigen Entwicklung
nicht angemessen. Die Amerikaner geben 30 Milliarden Dollar im Jahr für
ihre Geheimdienste aus, 80 Prozent davon gehen in die Satelliten, aber
damit können sie bin Laden nicht beobachten. Statt die «satellite
intelligence» muss die «human intelligence» gestärkt werden...
Interview Martina Meister
© Frankfurter Rundschau
Aufklärung für den Dialog:
Der politische
Islam
Die mittel- und westeuropäischen
Gesellschaften sind endlich auf dem Weg, den Islam als eine in ihren
Ländern selbstverständlich praktizierte Religion zu akzeptieren. Die
undogmatischen Diskussionen über den Islam finden immer häufiger statt,
die Gesprächsrunden sind nicht mehr einseitig christlich besetzt. Dabei
werden neue Fragen aufgeworfen...
Hisbulla und graue Wölfe im Hilafet Devleti:
Das Kalifat von Köln
Cemaleddin Kaplan war eine der schillernsten Figuren der
radikal-islamistischen Szene in Deutschland...
Der Tradition geopfert:
Wir sind Eure Töchter,
nicht Eure Ehre!
Sie sollen die Ehre der Familie retten. Sie werden schon
als Kind einem Fremden versprochen: Zwangsheiraten werden immer noch
durchgeführt...
Ist die multikulturelle Gesellschaft
gescheitert?
Fundamentalismus
türkischer Jugendlicher
Focus nennt die im Westen erscheinenden türkischen
Zeitungen "Giftige Gazetten" und macht ihnen den Vorwurf, sie
untergrüben die Integration ihrer Landsleute in Deutschland. Die
türkischen Blattmacher, die ohnehin nie zimperlich waren, revanchieren
sich mit massiven Vorwürfen und Beleidigungen in ihren Schlagzeilen...
haGalil onLine
09-10-2001 |