Keiner begreift die Ängste des Anderen:
Die Apartheids-Mauer
von Gideon Levy,
Ha'aretz, ZNet
Für die Israelis ist es ein "Trennzaun", für die
Palästinenser eine "Apartheids-Mauer". Für die Israelis scheint es
ideal, für die Palästinenser eine existenzielle Bedrohung. Für die
meisten Israelis ist es die Zauberlösung für das Übel des Terrorismus.
Die Palästinenser fürchten sie zutiefst. Hier zeigt sich wieder einmal,
man versteht sich nicht. Hier sind zwei Nationen, von denen keine die
Ängste der anderen begreift.
Trennzaun, Schutzwall, Sicherheit, Krieg gegen den
Terror - die Israelis wissen nicht, welchen Preis die Palästinenser
dafür zahlen. Nach den (jüdischen) Siedlungen, den Außenposten, den
Umgehungsstraßen, den Konfiszierungen, der Abriegelung, der Umzingelung,
nach Arbeitslosigkeit u. Ausgangssperre nun also auch noch dieses neue
Problem für tausende im Zaungebiet lebende Menschen. Erneut wurden sie
zu unschuldigen Opfern. Den Bauern hat man ihre Felder enteignet, den
Winzern ihre Weinberge zertrampelt, den Schäfern hat man die Weiden
genommen, die Grundstücke u. Brunnen von Bauern liegen nun auf der
jenseitigen Seite - der jenseitigen Seite des Zauns. Es sind arbeitslose
Männer, denen man nun auch noch die letzte Erwerbsquelle vernichtet,
ganze Dörfer sind von ihrem Lebensquell abgeschnitten. Ein Zaun - der
israelisches Leben schützen soll -, wird willkürlich auf dem ohnehin
geschrumpften Land dieser Leute errichtet, nicht etwa auf israelischem
Land - Gott bewahre! Aber warum? Weshalb nicht auf israelischem Land?
Diese Leute hat niemand gefragt, niemand hat mit ihnen verhandelt,
koordiniert. Undenkbar, die bloße Vorstellung, sie um Erlaubnis zu
fragen! Wer sind diese Leute schon?
Der Klang der Hämmer trägt weit. Überall in der nördlichen Westbank ist
das Geräusch zu hören: Eisen auf Fels. Ein schreckliches Hämmern echot
aus den Tälern und von den Hügeln herab. Eine Armada aus Lastwagen u.
Bulldozern fährt hin u. her - zerstört die Berge. Was für ein Anblick:
zwischen Tul Karm, Dschenin u. Qalquilya ist die Erde aufgebrochen u.
vernarbt; wie eine große Wunde zieht es sich hin, längs der gesamten
nördlichen Westbank. Was für ein massiver operativer Eingriff: ein
Sicherheitspfad, eine Straße für die Patrouillen, eine Beton-
Infrastruktur - das alles eine gigantische Narbe. Eine hellgrüne
Broschüre ('The Apartheid Wall Campaign'), herausgegeben von den
palästinensischen Umweltorganisationen, informiert über die Statistik.
Danach werden während der ersten Bauphase 2 Prozent des Westbank-Landes
enteignet. Mindestens 30 Dörfer werden einen Teil ihrer Ländereien
verlieren, 15 Dörfer zwischen Zaun u. 'Grüner Linie' eingeklemmt, 160
000 - 180 000 Dunams (entspricht etwa 16 000 - 18 000 Hektar) enteignet,
30 Brunnen für ihre Besitzer unerreichbar. Und diese Zahlen beziehen
sich ausschließlich auf die erste Bauphase bzw. nur auf die nördliche
Westbank.
Die bevorstehende Katastrophe
An der Zufahrtsstraße zum kleinen Dörfchen Izbet Tabib (es liegt neben
der Hauptschnellstraße von Qalqilya nach Nablus) erhob sich diese Woche
wieder eine Straßenblockade aus Abfall u. Dreck. Da die Schnellstraße
nur von Juden benutzt werden darf, wird dadurch die Abriegelung des
kleinen Dörfchens noch perfekter. Nur einem Besatzungsapparat kann
soetwas Widerwärtiges in den Sinn kommen: eine Blockade aus Abfall u.
Müll. Das alles wird einfach zu einer riesigen, häßlichen u. grausamen
Straßenbarriere zusammenrecycelt. Auf dem schmutzigen Pfad, der um die
Straßenblockade führt, sitzt in seinem Auto der Gemeinderatsvorsitzende
von Izbet Tabib u. winkt uns zu. Die Armee war gestern gekommen, hatte
gegraben u. Erde für die Straßenblockaden ausgehoben. Dabei hat man das
Wasserleitungssystem des Dorfs beschädigt. Die Bewohner haben nun kein
Wasser mehr. Unsere Autofahrt geht durch einen Pinienwald. Wir werden
hin- u. hergerüttelt, über Steinbrocken hinweg. Unser Ziel ist das
nächste Dorf. In den Außenbezirken von Isla sind rechts neben der Straße
bereits die Grabungen für den Zaun sichtbar. In Azun werden große
Lastwagen aus Genf entladen. Sie bringen Mehl in weißen Säcken - ein
Geschenk des Internationalen Roten Kreuzes. Gleichgültig sehen die
arbeitslosen Männer des Dorfes der Entladungsaktion zu. Das hier ist
nicht Bagdad oder Kabul. Am Stadtrand stehen die gelben Taxis
versammelt. Sie kennen nur eine Route, und die ist kurz: bis zur
nächsten Straßenblockade. Auch die Taxifahrer sind arbeitslos.
Im Dorf Jiyus hängt in einem Zimmer des frischrenovierten Rathauses eine
Karte mit dem Verlauf der "Apartheids-Mauer". Sie hängt an der Wand im
Büro von Abdel Ataf Khaled von der 'Palästinensischen Hydrologischen
Gesellschaft' (Palestinian Hydrological Group'). Auf der Karte sind
große, breite Purpur- Flecken östlich der 'Grünen Linie' eingezeichnet.
"Wir stehen vor einer Katastrophe", sagt Khaled, der Hydrologe. Als
Aktivist vor Ort kämpft er gegen die Mauer. Im letzten Juli hätte man
über das Dorf eine eintägige Ausgangssperre verhängt. An dem Tag sei die
Israelische Armee mit Bulldozern angerückt u. habe Marker in die
Dorfgrundstücke gepflanzt. Die Bewohner hätten nicht verstanden, was vor
sich ging, hätten nichts begriffen. "Heute wissen wir, das war die
Planungs-Phase", so Khaled. Dann ging die Sache weiter. In der ersten
Septemberwoche des letzten Jahres fanden Bauern Zettel - überall in
ihren Feldern verstreut. Es waren Enteignungsverfügungen, plus Karte.
Geht es nach diesen Verfügungen bzw. nach der eingelegten Karte, so
Khaled, würde der Zaun 55 - 58 Meter breit. 292 Dunams (etwa 30 Hektar)
Land, auf einer Länge von 4 100 Metern, würden dem Dorf enteignet.
"Später fanden wir aber heraus, dass es 600 Dunams (etwa 60 Hektar) sein
werden - auf 6 000 Metern", so Khaled. Eine Woche später wurde Khaled u.
andern Dorfbewohnern von der Israelischen Armee ein Treffen mit Rami von
der (israelischen) 'Zivilen Administration' anvisiert. Man werde eine
Tour durch das betroffene Gebiet arrangieren. "Die Tour hat die
Dorfbewohner geschockt", sagt ihr Vertreter Khaled. "Wir sind doch
Bauern, sagten sie. Sie fragten, wird man uns auch weiter erlauben,
unsere Grundstücke zu bewirtschaften, die auf der andern Seite der Mauer
liegen? Rami sagte 'ja'. Ohne Schwierigkeiten? Ohne Schwierigkeiten,
versprach Rami. Sie haben ihm aber nicht geglaubt".
Letzte Chance
Jiyus hat 3 200 Einwohner, 550 Familien. Etwa 300 dieser Familien, so
erklärt uns Khaled, leben ausschließlich von ihrer
Subsistenzlandwirtschaft, von der Bebauung ihres Landes. Die rund 200
andern Familien hätten von Jobs in Israel gelebt, die nun aber nicht
mehr existieren. Auch diese Familien versuchten nun, Bauern zu werden -
ihre letzte Chance. Von den insgesamt zur Gemeinde zählenden 12 500
Dunams Land (etwa 1 250 Hektar), Häuser eingeschlossen, lägen jetzt 8
600 Dunams (etwa 860 Hektar) jenseits der Mauer. "Und wir sprechen hier
nicht von unfruchtbarem Land", betont Khaled, "das ist kultivierte
Fläche. Hier gibt es 120 Treibhäuser. Jedes davon produziert 35 Tonnen
Tomaten (oder Gurken) pro Jahr. Und 7 Brunnen, die sich die Dorfbewohner
teilen, liegen jetzt auch jenseits der Mauer. 700 Dunams (etwa 70
Hektar) sind Obstgartenfläche, 500 Dunams (etwa 50 Hektar) Früchte- und
Gemüsefläche, dazu 3 000 Dunams (300 Hektar) Oliven, der Rest ist
Weide". Der Hydrologe erklärt: "65 000 Arbeitstage dieser Gemeinde
(Jiyus) liegen jetzt jenseits der Mauer". Und was wird wohl im Sommer
aus denjenigen, deren Brunnenwasser auf der anderen Mauerseite liegt?
"Wenn die Felder nicht bewässert werden können, droht eine
Umweltkatastrophe", so Khaled. "Davon abgesehen hat die Israelische
Armee schon jetzt 6 der 7 Wege zu den Dorffeldern abgeriegelt - noch ehe
der Zaun steht. Schon jetzt braucht man zwei Stunden, bis man die Felder
erreicht - egal, in welche Richtung. Der ganze Tag geht drauf für den
Weg auf die Felder und retour. Die Felderbewirtschaftung ist hier
Familiensache. Was geschieht, wenn sie uns eine Gebühr für die Passage
auferlegen? Muss ein Bauern dann jedesmal 50 NIS (Schekel) zahlen, damit
er mit seiner Familie auf sein Feld kann? Meine Nachbarin hat drei Jahre
gearbeitet, bis sie ein bisschen Geld für ein Stück Land
beisammenhatte", fährt Khaled fort. "Sie hat sich 8 Olivenbäume gekauft
- einen Baum für jedes Familienmitglied. Sie hatte nicht geglaubt, dass
die Mauer ausgerechnet bis zu ihren 8 Bäumen hochkommt - dann entdeckte
sie rote Zeichen an ihren Olivenbäumen. Sie war geschockt, denn das
bedeutet, genau hier wird die Mauer entlanglaufen. Die Bäume haben sie
schon alle abgeholzt. Für sie (die Frau) waren die 8 Bäume ihre ganze
Existenz. Der Mann, der die 8 Bäume abgeholzt hat, weiß sicher nicht,
was für eine Geschichte dahintersteckt. Hier gibt es Menschen, für die
die Bäume wie ihre Kinder sind." Und Khaled weiter: "Die Leute hier
sagen, wir werden zu Flüchtlingen. Was dann, wenn die Mauer steht, und
das Tor bleibt geschlossen? Schon jetzt ist die Situation im Dorf sehr
schwierig. Dieses Jahr mussten 45 Kinder aus dem Kindergarten genommen
werden, weil ihre Eltern die 35 NIS monatliche Gebühr nicht aufbringen
konnten. 60 Familien wurde der Stromanschluss gekappt, weil sie ihre
Schulden an die Regionalverwaltung nicht bezahlen konnten. Was wird da
erst, wenn die Mauer steht?" Und was verlangen diese Menschen -
angesichts der vor ihren Augen entstehenden Mauer? Khaled: "Drei Dinge:
Sie sollen uns unkomplizierten, leichten Zugang zu unseren Feldern
geben. Zweitens wollen wir unseren Landbesitz behalten. Und wir wollen
in Frieden und guter Nachbarschaft mit (den jüdischen Siedlungen) Kochav
Yair, Tzur Yigal und unseren übrigen jüdischen Nachbarn leben können".
Vor dem Dorf haben sich Teenager versammelt. Sie fordern inzwischen
schon etwas anderes: "Geht zurück nach Europa!"
Auf unsere entsprechende Anfrage schreibt die (israelische) 'Zivile
Administration': "Für Land, das für den Zaunbau physisch übernommen
wurde, kann Geld ausgezahlt werden - für die Überlassung bzw. als
Kompensation - sofern der Besitzer den Nachweis über den Besitz
erbringt. Für Ländereien, die auf der westlichen Zaunseite verbleiben,
gilt: Die Besitzer, oder von ihnen beauftragte Personen, können das Land
zu agrikulturellen Zwecken betreten. Der Zugang wird durch Tore
gewährleistet. Diese werden entlang des Zaunverlaufs eingerichtet. Unser
Sicherheitsapparat wird sich um eine Lösung bemühen, sodass die Bewohner
zu ihren Grundstücken und Ländereien passieren können. Nur solche
Landbesitzer können allerdings auf Entschädigung rechnen, deren Land
physisch beschädigt wurde. Für jede Übernahme von Besitz wurde dagegen
ein ordnungsgemäßer Erlass ausgestellt. Dieser Erlass enthält auch eine
arabische Version. Zusätzlich wurde der Erlass auf den zu enteignenden
Grundstücken ausgelegt sowie im jeweils zuständigen Hauptquartier der
'Koordinations- und Verbindungsbüros des Israelischen
Verteidigungsministeriums' ('Offices of Coordination and Liaison of the
Israeli Defense Ministry'). In Kenntnis gesetzt wurde auch das
palästinensische Verbindungsbüro. Einige Tage nach Verteilung der
Enteignungsverfügungen wurden Touren für die Landbesitzer organisiert,
und man teilte ihnen mit, welche Grundstücke man zukünftig noch
beschlagnahmen werde".
In der unabhängigen palästinensischen 'Al-Quds'-Zeitung ist nachzulesen,
es sei geplant, den Bauern, deren Land auf der andern Zaunseite liegt,
jedesmal eine Durchgangsgebühr von 10 NIS pro Person abzuverlangen. Die
'Zivile Administration' bestreitet dies allerdings. Die Bauern, die wir
diese Woche getroffen haben, wären noch froh über eine solche Gebühr:
Schon jetzt läßt man sie nicht mehr auf ihre Felder - dabei ist der Zaun
noch nicht fertiggestellt. Da ist zum Beispiel Bauer Abed Khaled aus
Jiyus. Er hat 8 Kinder u. 15 Jahre lang in Israel gearbeitet. Jetzt ist
er wie alle anderen arbeitslos. Er ist überzeugt, sein Land ist ihm
verloren, er sei nun auch noch seiner letzten Existenzquelle beraubt:
"Keine Arbeit, kein Land", erklärt er uns diese Woche. "Das Leben ist
vorbei".
Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "Apartheid
Wall"
Streit um Gideon Levy:
Nur in HAARETZ
Zum Thema Sicherheitszaun:
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gegen den Terror...
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Über die Sicht der Dinge:
Die Geschichte
von zwei Zäunen
Als Medienkonsumenten brauchen die Amerikaner
und die Europäer weniger Israel und mehr Welt, anderenfalls werden auch
wir von einem Zaun umgeben, der unsere Sicht der Angelegenheiten der
wirklichen Welt blockiert...
The Separation Wall in Abu Dis:
The
Walls of Hurt
M.J. Rosenberg, Director of Policy Analysis for
Israel Policy Forum and former editor of AIPAC’s (The American Israel
Public Affairs Committee) Near East Report, reflects on his recent visit
to Israel and recounts his impressions while visiting the separation
wall Israel is building in the Jerusalem neighbourhood of Abu Dis...
hagalil.com
23-05-03 |