Der Jom-Kippur-Krieg 1973
Nils von der Heyde für das
ARTE TV
Magazin
Wie Völker sich bekriegen, erzählen Geschichtsbücher seit
Jahrtausenden. Der Beginn des letzten klassischen
Zwei-Fronten-Krieges in Nahost folgte speziellen Gesetzen.
Vor 30 Jahren, am späten Freitagabend des 5. Oktober 1973,
herrschten in Israel heilige Ruhe und heilige Furcht zugleich. Die
frommen Juden bereiteten sich auf den wichtigsten Tag des religiösen
Jahres vor: Jom Kippur - das Fest der Versöhnung. Bei Regierung und
Militärführung hingegen wurde heftig diskutiert. Der Countdown lief:
Krieg mit Ägypten und Syrien innerhalb von Stunden?
Seit Tagen schon tickerten Meldungen von Truppenbewegungen am
Suezkanal und Panzerverschiebungen hinter dem Golan-Gebirge über die
Fernschreiber des Verteidigungsministeriums in Tel Aviv. Doch
Israels Militärgeheimdienst AMAN blieb bei der Annahme, die Araber
würden frühestens im März 1974 angreifen können. Premierministerin
Golda Meir und ihr Verteidigungsminister Moshe Dayan, die die
Zeichen der Zeit richtig lasen, wurden von ihren Fachoffizieren in
hitzigen Wortgefechten überstimmt.
Die Psychologische Kriegsführung der Araber kam den Abwieglern zu
Hilfe: Hatte Ägyptens Präsident Anwar el Sadat nicht vor zehn Tagen
in einer sensationellen Erklärung die 21.000 sowjetischen
Militärberater des Landes verwiesen? Ein Bruch mit Moskau hieße:
kein Krieg.
Und hatte Radio Kairo nicht noch am Tag zuvor (am 4. Oktober 1973)
berichtet, dass 20.000 ägyptische Soldaten in den Reservisten-Status
entlassen und vielen tausend Männern die Pilgerreise nach Mekka
gestattet worden sei?
Dass Moskaus Militärausbilder, die Syriens Präsident Hafez Assad
seit Jahren beschäftigte, die Koffer packten und die Tupolevs nach
Moskau flogen, dass Politikerfamilien in sichere Gebiete geschickt
wurden - die AMAN-Offiziere wischten es vom Tisch. Hinzu kam: Golda
Meir konnte sich einen Angriff an Jom Kippur einfach nicht
vorstellen. Trotz der Warnung, fällte die Regierung die
verhängnisvolle Entscheidung, stillzuhalten.
Israels große alte Dame fand in der Nacht zum 6. Oktober wenig
Schlaf. Am nächsten Morgen um 4 Uhr schrillte ihr Telefon. "Golda",
meldete ein junger Oberst, "Syrer und Ägypter attackieren. Sie
überqueren den Kanal mit Schlauchbooten. Die Bar Lev-Bunker auf dem
Sinai haben sie unterspült. Über den Golan rücken sie zu Tausenden
mit Panzern vor. Wir mussten Rückzug befehlen!" Nicht nur die
stahlharte Premierministerin war entsetzt. Millionen sich
unbesiegbar wähnender Israelis erlebten die nächsten Stunden
fassungslos - den Westen erwischte es kalt.
Obwohl letztlich siegreich, musste Nationalheld
Moshe Dayan sechs Monate später als politisch Hauptverantwortlicher
zurücktreten. Die Armee war am Morgen des 6. Oktober schockiert,
nicht jedoch blockiert. Männer, die noch heute Israels Politik
mitbestimmen, wurden zu Helden stilisiert: Ex-Premier-Minister Ehud
Barak, heute Israels höchstdekorierter Offizier, befehligte als
Oberst auf dem Sinai ein siegreiches Panzerkommando.
Brigadegeneral Ariel Sharon kommandierte eine Panzerdivision und
überquerte mit ihr nach zwei Wochen gegen das ausdrücklich über Funk
gebrüllte "Halt"! seines Vorgesetzen Generalmajor Bar Lev (Bar
Lev-Bunker-Linie) den Suezkanal. Er stoppte erst 95 Kilometer vor
Kairo, nachdem er die fliehende ägyptische Invasions-Armee
eingekesselt hatte. Denn dem Befehl von Dayan mochte er dann doch
nicht widersprechen - plötzlich hatte sein Walkie-Talkie auch wieder
Empfang.
Itzhak Rabin, späterer Premierminister (am 4. November 1995 in Tel
Aviv ermordet), koordinierte als Botschafter in Washington
meisterhaft die sich täglich neu verheddernden diplomatischen Fäden.
Er und US-Außenminister Henry Kissinger zwangen die Kriegsführenden
zum Einlenken.
Die ersten Tage des Krieges erwiesen sich für die Israelis als
gnadenlos und grausam.
Zwar zeigte sich das hinterlistige Angriffsdatum als arabisches
Eigentor. Weil an diesem Tage die meisten Männer zuhause blieben,
und nicht wie an anderen Wochenenden verreisten. So funktionierte
die israelische Einberufung wie im Kriegshandbuch. Doch die stets
disziplinierten Soldaten wurden zuhauf Opfer des einsetzenden Chaos:
Rekruten verfehlten ihre Einheiten, Haubitzen-Granaten landeten bei
Panzerverbänden, Kerosin-Tankwagen fanden die Düsenjäger-Staffeln
nicht.
Irrsinniges, aber auch Heroisches: Im Sinai hinderte ein
Panzer-Leutnant neben seinen toten Kameraden die Ägypter sieben
Stunden lang daran, eine kleine Talenge zu durchfahren - sein MG
konnte noch feuern. Auf den Golanhöhen rüstete sich ein Artillerist,
dessen Mörser versagte, mit Panzerfäusten, schlich auf syrisches
Gebiet und knackte in vier Nächten 16 Tanks. Golda Meir: "Sie
kämpften wie wilde Löwen".
2.550 tote israelische Soldatinnen und Soldaten und 7.500 zum Teil
Schwerstverletzte, das war der Preis für Israels bitteren Sieg nach
21 Tagen. Als die Waffenstillstandsverhandlungen begannen, standen
Dayans Armeecorps nicht nur vor Kairo, sondern auch 70 Kilometer vor
Damaskus - in Artillerie-Entfernung.
Sadat begriff damals und begann Friedensverhandlungen, die 1977 zu
seinem Gang nach Jerusalem führten. Dass auch die Israelis so herbe
Verluste erlitten hatten, half ihm, das Gesicht vor seinen
arabischen Nachbarn zu wahren.
Syriens Präsident Hafez Assad dagegen beugte sich nur der Not und
dem Frust gehorchend.
Das hat Israel nicht vergessen: während die Ägypter von den Siegern
den Sinai zurückbekamen, warten die Syrer bis heute noch auf eine
Räumung der Golanhöhen.
Liebe
ARTE-Freundinnen
und Freunde, Chers amis d'ARTE,
am heiligsten Tag im jüdischen Kalender, der
für den gläubigen Juden einen Tag und eine Nacht innerer Einkehr und
Gebet bedeutet, kommt es zum Ausbruch des vierten Nahostkrieges:
Ägyptische und syrische Streitkräfte greifen Israel an. ARTE gedenkt
dieses Jahrestages mit verschiedenen
Dokumentationen und einem Themenabend...
Siehe auch:
Warnungen im Oktober 1973:
"Die Kriegsgefahr ist minimal"
1973 fühlt sich Israel nahezu als Großmacht. Die
Israelis herrschen vom Hermon im Norden bis Scharm el-Scheich im
Süden. Israels Armee ist derart Respekt einflößend, daß es an der
ägyptischen Grenze seit mehr als drei Jahren ruhig ist. Selbst
Syrien stellt kaum noch eine Bedrohung dar...
Vom 6. bis 24.10. 1973:
Der Jom-Kippur-Krieg
Mehr als 2500 israelische Soldaten fallen, 7500
werden verletzt und 300 geraten in Gefangenschaft...
Zum 30. Jahrestag des Yom-Kippur-Krieges:
Siggy's Leben in einem syrischen Gefängnis
Als junger Rekrut wurde Efraim Singer während des Yom-Kippur-Krieges
in einem israelischen Armeeposten am Berg Hermon gefangen genommen.
Zum ersten Mal spricht der Soldat, dessen Spitzname Siggy lautet,
öffentlich über seine damaligen Erlebnisse...
hagalil.com
30-10-2003 |