Mit Nachgiebigkeit gegenüber Islamisten
schadet der Staat sich selbst - und den Moslems - Debatte
Von Hans-Peter Raddatz
Die Welt, 9. Januar 2003
Unlängst hat Muhammad Tantawi, der frühere Azhar-Scheich und
jetzige Großmufti von Ägypten, seinen Lesern eine Lehrstunde in
islamischer Ideologie erteilt ("FAZ", 30.11.02). Nach seiner
Darstellung müssen sich die Moslems für das "Recht" einsetzen, wenn
ihnen "Unrecht" geschieht, eine Vorstellung, die auch den Dschihad,
den Kampf gegen den Unglauben, einschließt.
Dabei ließ der Großmufti keinen Zweifel daran, dass die
islamische Ordnung universal gilt und jeder Versuch, den Moslem an
seiner "Glaubensfreiheit" zu hindern, ihm also den Glaubenswechsel
zu ermöglichen, als Angriff auf diese Ordnung zu betrachten ist. Die
Moslems sind "unschuldig", weil das Recht des Islam sie zur
Verteidigung gegen jedweden Angriff "berechtigt", der allein durch
die Existenz des Unglaubens gegeben ist. Wer sich also in der
direkten Umgebung des Nichtislamischen in die Luft sprengt, hat in
dieser Sicht ebenso als "Märtyrer" zu gelten wie derjenige, der dem
"Unrecht" des Unglaubens, auch in Gestalt New Yorks, Schaden zufügt
und damit den Islam stärkt. Sogar die Besetzung Spaniens zu Beginn
des 8. Jahrhunderts war dieser Logik zufolge ein
"Verteidigungskrieg".
In dieser Verbindung zwischen Islam und Islamismus griff der
Großmufti auf keinen Geringeren als Abu'l-Ala' Al-Maududi (gestorben
1979) zurück, der seinerseits Vorbild Osama Bin Ladens ist.
Al-Maududi sah den Islam als weltumspannende Religion, "deren Zweck
es ist, im Menschen islamische Eigenschaften und islamische
Geisteshaltung zu schaffen". Indem er das Bewusstsein total erfasst,
bestimmt der Islam nicht nur den Glauben, sondern die Wissenschaft
und das Recht. Wer nicht für "den Islam" eintritt, erzeugt
"Unrecht", weil er die "Glaubensfreiheit" missbraucht, die
"natürliche" Entscheidung für den Islam. Diese Ideologie leitet auch
die offiziellen Islamvertretungen in Deutschland wie den Zentralrat
der Muslime. Dessen Charta vom Februar 2002 als Grundlage für das
islamische Leben in der Demokratie ist entsprechend ambivalent
formuliert. Weil "Geistesverfassung und Eigenschaften" der
umgebenden Gesellschaft zweifellos unislamisch sind, muss sich
Religionsfreiheit nicht nur auf Ritenfrömmigkeit, sondern auf den
gesamten Begründungszusammenhang des Islam erstrecken.
Es tritt hier die primäre Funktion des islamischen Rechts
gegenüber der sekundären Stellung des deutschen Rechts zu Tage, das
in den Status eines "Vertrags" abgedrängt wird. Die Moslems sind
verpflichtet, ihren Status auf fremdem Territorium nur als
provisorisch zu betrachten und, sobald es die Umstände erlauben, in
einen Zustand umzuwandeln, welcher der Scharia gerecht wird - ein
Vorgang übrigens, für den die Hidjra, die Auswanderung des
Islamverkünders selbst, als verbindliches Modell gilt. Vor diesem
Hintergrund ist die Einlassung des "Zentralrats" logisch, "mit der
Demokratie leben zu können, solange man in der Minderheit ist".
Von der Demokratie mit ihrem Recht der Religionsfreiheit (Artikel
4 Grundgesetz) wird mithin die Legitimation eines religiös
fundierten, politischen Dominanzstrebens verlangt, das sich - früher
oder später - zum ganzheitlichen Überleben gegen sie selbst richten
muss. Es ist zu bezweifeln, ob Moslems unter diesen Umständen einen
"glaubhaften" Dialog mit einer säkularen Gesellschaft führen können,
wobei es vornehmlich immer wieder um drei sich verstärkende Aspekte
geht: den Moscheenbau, das Kopftuch und - das Recht.
Während für die Heilswirksamkeit des moslemischen Ritenvollzugs
ein hinreichend würdiger Raum ausreicht, wurden in letzter Zeit
immer mehr Genehmigungen für große Moscheenbauten beantragt. Die
jeweilige Genehmigung wurde meist mit dem Hinweis auf Artikel 4 GG
erteilt. Letzterer wurde insbesondere immer dann bemüht, wenn die
jeweilige Moschee mit dem Muezzinruf ausgestattet werden sollte, dem
öffentlichen Aufruf zum Gebet, der - im Gegensatz zum Glockenläuten
- ein Bekenntnis enthält. In Verbindung damit steht das Bekenntnis
zum Kopftuch, welches das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom
Herbst 2002 für Arbeitgeber obligatorisch gemacht hat. Obwohl der
Staat mit dem Kruzifixurteil vor Jahren seine Bekenntnisfreiheit
noch einmal betont hat, führt er in diesem Zusammenhang das
religiöse Bekenntnis wieder in den öffentlichen Raum ein, wobei das
Argument der Religionsfreiheit die zentrale Rolle spielt.
Das Bekenntnis im Muezzinruf kollidiert mit dem Grundrecht der
negativen Glaubensfreiheit und die Kopftuchpflicht mit dem der
unternehmerischen Freiheit. Zudem ist das Kopftuch Symbol der
grundsätzlichen Trennung der Geschlechter, die dem Mann nahezu
unbeschränkte Herrschaftsbefugnisse einräumt und die Frau als Wesen
minderer Qualität aus dem öffentlichen Raum ausgrenzt. Dies gehört
zum unverzichtbaren Bestand der islamischen Ordnung, steht jedoch in
diametralem Gegensatz zur Gleichberechtigung der Frau. Die bisherige
Zurückhaltung des Staates in der Durchsetzung der Frauenrechte in
der moslemischen Gemeinschaft auf seinem Boden hat erheblich zu
einer Gettoisierung beigetragen.
Es scheint an der Zeit, den Moslems in Deutschland deutlich zu
machen, dass sie keinen "Vertrag" mit ihrer neuen Heimat schließen,
sondern von ihr als neue Bürger angenommen werden. Sie müssen auf
ihre "islamische Rechtsgarantie" verzichten, wenn sie als Moslems
gelten wollen und nicht als Islamisten, die auf eine
"Systemüberwindung" im Sinne Tantawis hinarbeiten.
Hans-Peter Raddatz ist Orientalist und Systemanalytiker.
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