Der Fall Irak kann uns eine Menge lehren über
das, was mit einem international geächteten Staat geschieht, der nicht beseitigt
wird, wenn er systematisch internationale Normen bricht, sondern einer
Kombination aus Sanktionen und ungezügelter Tyrannei unterworfen ist. Er wird
zerfressen und verrottet vor sich hin. Dies hat zur Folge, dass die Masse der
Bevölkerung überwältigt wird und verarmt, ohne dass es dadurch notwendigerweise
leichter würde, sich dagegen aufzulehnen oder von Innen heraus einen Umsturz zu
organisieren. Sanktionen wirken nicht in der Weise, wie westliche
Politikgestalter behauptet haben. Und es ist höchste Zeit, aus dieser Erfahrung
die richtigen Folgerungen zu ziehen.
Sadams Opfer ist die Menschlichkeit:
Im Haus der Folter und Verstümmelung
Aus Kanon Makiyas Geleitwort zu
"Saddam
Husseins letztes Gefecht?" Der lange Weg in den III. Golfkrieg,
von Aras Fatah, Thomas von der Osten-Sacken, Thomas Uwer
Seit dem letzten Golfkrieg 1991 hat sich das Gruselkabinett,
das wir als »Saddam Husseins Irak« kennen, in etwas verwandelt, das
sich das krankhafteste Gehirn nicht hätte ausdenken können.
Noch in meinem Buch Republic of Fear, das 1989
veröffentlicht wurde, beschrieb ich die Entstehung einer neuen,
kafkaesken Welt im Irak, welche von Angst beherrscht und
zusammengehalten wird.' In dieser Welt war der ideale Bürger ein
Denunziant. Lügen und sogenannte »Analyse« beherrschten den Raum der
öffentlichen Meinung und schlössen alles andere aus. Angst, so die
These des Buches, war nicht wie in »normaleren« autoritären Staaten
zufälliger Natur oder lediglich auf eine Episode beschränkt; sie war
vielmehr zur tragenden Säule des irakischen Staatskörpers geworden.
Der Ba'th-Staat hat die Politik der Angst zu einer Kunst
entwickelt, mit deren Hilfe er seine Macht legitimiert, indem er
eine Unzahl von Menschen zu Komplizen seiner Gewalt gemacht hat. Das
außergewöhnliche Problem der ba'thistischen Gewalt wird deutlich,
wenn man bedenkt, daß Hunderttausende völlig durchschnittlicher
Leute in sie verwickelt waren. In den meisten Fällen hatten diese
Leute gar keine andere Wahl, ihre Taten mußten aber dennoch
gerechtfertigt werden. Sie bewirkten letzten Endes die Legitimation
eines Regimes, für dessen Auftauchen keinem Außenstehenden die
Schuld mehr zugeschoben werden konnte. Diese Ba'th-Herrschaft war
ein ganz und gar aus dem Inneren sich entfaltendes Phänomen, sie
dauerte, weil die Bevölkerung sich fügte, die Autorität akzeptierte,
bis zum Jahr 1991, als der Golfkrieg kam und alles änderte. An der
Spitze des Systems von Strafen, das der Ba'this-mus im Irak
etabliert hatte, stand Folter. Die gesamten Probleme
gesellschaftlicher Modernisierung, so argumentierte ich in
Republic of Fear, wurden komprimiert auf ein Gemeinwesen, dessen
Bürger sich damit abfanden und geradezu erwarteten, unter gewissen
Umständen gefoltert zu werden. Am Vorabend des Irak-Iran-Krieges im
September 1980 — zu einer Zeit, in der alle Elemente des neuen
totalitären Systems im Irak zusammengekommen waren - stand Saddam
Hussein an der Spitze eines Regimes, das bereits die gesamten
Parameter gesellschaftlich und staatlich organisierter Gewalt im
Land verändert hatte.
Der Ausbau der Gewaltmittel (Armee, Polizei, Sicherheitsapparate,
Spitzelnetze, Parteimiliz, Partei- und Staatsbürokratie) hatte eine
klassische Umkehrung durchlaufen: Vom Mittel zum Zweck - dem
Ausschalten von Gegnern und dem Ausüben roher Macht - hatten sie
sich in einen schrecklichen Selbstzweck verwandelt und verbreiteten
sich unbekümmert über alle Grenzen, die sie einst eingedämmt hatten.
»Krieg, jeder nur denkbare Krieg (wobei es keine Rolle spielt, gegen
wen er sich richtet), ist das nicht unwahrscheinliche Ergebnis des
ungezügelten Wachstums der Gewaltmittel; dies ist ganz besonders
dann der Fall, wenn er so strukturiert ist, daß er buchstäblich
Massen von Menschen in seinem Terror kompromittiert.«2
Diese Worte habe ich während des Irak-Iran-Krieges für ein »Die
endgültige Katastrophe« betiteltes Kapitel geschrieben. Im
Nachhinein betrachtet war die Wortwahl unglücklich, denn eine noch
größere Katastrophe bereitete sich bereits vor: die Invasion,
Okkupation und Annexion von Kuwait, deren Logik man heute in genau
den gleichen Worten zusammenfassen könnte. Im August 1990 war der
gleiche innenpolitische Imperativ am Werk, wie schon im September
1980. Das System, das am Vorabend des Ersten Golfkrieges bereits
eine Art von Perfektion erlangt hatte, blieb durch die gesamten
Erfahrungen des Krieges hindurch intakt. Was jedoch beinahe außer
Kontrolle geriet, war die von ihm freigesetzte Gewalt. Iranische
Geländegewinne auf den Schlachtfeldern der frühen Kriegsjahre hätten
zum Sturz von Saddam Hussein geführt, wenn ihm der Westen nicht zu
Hilfe gekommen wäre (indem man ihm gestattete, chemische Waffen zu
produzieren, mit denen der Irak den Krieg gewann und die heute den
zentralen Streitpunkt darstellen). So war die Macht des Präsidenten
im Irak und unter den Irakern zu keinem Zeitpunkt in den 80er Jahren
ernsthaft bedroht.
Aus diesem acht Jahre währenden menschenverschlingenden Krieg kam
nichts so heraus wie es hineingegangen war. Der Krieg war zwar 1988
mit für den Irak günstigen Bedingungen zu Ende gegangen. Aber hörte
auch die vom Ba'th-Staat losgebrochene Gewalt auf, oder ließ sie
wenigstens nach?
Im Gegenteil. Sie richtete sich erneut nach innen, wie es schon
einmal, von 1968 bis 1980, vom Jahr des ba'thistischen Machtantritts
bis zum Jahr, in dem der Krieg zwischen Irak und Iran begonnen
hatte.
Am Tag nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstandes warfen
irakische Kampfflieger chemische Bomben über kurdischen Dörfern ab.
Vom 25. bis 27. August 1988 starben mehrere tausend wehrlose
Zivilisten - Opfer eines mörderischen Feldzugs gegen die Kurden, der
im Februar des Jahres 1988 eingesetzt hatte, als das Regime zu der
Überzeugung gelangt war, der Krieg könne gewonnen werden.3
Unter dem Codenamen »Anfal-Operation« wurden die Angriffe den
gesamten September hindurch fortgesetzt. Ich schätze die Zahl der im
Verlauf der im Februar 1988 begonnenen Anfal-Operationen getöteten
Menschen auf 100.000.4
Amnesty International erreichten 1989 Berichte, wonach hunderten
Kindern die Augen ausgedrückt wurden, um von ihren erwachsenen
Verwandten Geständnisse zu erpressen.5
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human
Rights Watch haben seit 1990 große Fortschritte gemacht beim
Aufzeichnen des zeitlichen Ablaufs, der Dokumentation und
Überlieferung der begangenen Verbrechen. Verbrechen, die der
UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Irak, Max von der
Stoel, als von »außergewöhnlich schwerwiegendem Charakter«
beschrieb. »So schwer, daß es nur wenige Parallelen gibt seit dem
Ende des Zweiten Weltkriegs.« 6
Diese Grausamkeit gehorcht ihren eigenen Gesetzen und hat ihre
eigene Geschichte. Wie sie in einem Staatsgebilde voranschreitet,
und warum diejenigen, die staatlich sanktionierter Gewalt
unterworfen sind, an unterschiedlichen Punkten ihres Lebens auf
unterschiedliche Weise auf sie reagieren, ist eine grundsätzliche
Frage von Politik.
Die Schauprozesse des Jahres 1969 festigten die Macht des noch
jungen Ba'th-Staates durch das sorgfältig inszenierte und
absichtlich übertriebene Zurschaustellen einer Grausamkeit, die das
Ungleichgewicht zwischen den Opfern und ihren Peinigem effektvoll
darstellte.7
Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der Staat noch schwach
war. Aus diesen Erfahrungen aber resultierte, daß später, während
der gesamten mörderischen acht Jahre des Krieges mit dem Iran, nur
wenige Iraker daran dachten, öffentlich gegen die strengen Strafen
zu protestieren, denen sie routinemäßig unterworfen waren. Nahezu
zwanzig Jahre lang wußte jeder Iraker, daß er oder sie in einem
Folterstaat lebte; die Allwissenheit und die Allmacht der
repressiven Möglichkeiten des Staates lag in der Tatsache begründet,
daß jede oppositionelle Stimme erstickt worden war, die ihn hätte
kritisieren können. Anders ausgedrückt: Es lag am Schweigen und der
undurchdringlichen Geheimhaltung, welche nun alle staatlichen
Operationen umhüllte. Alles, was Bestrafung anbelangte, war geheim -
von der Verhaftung, den Anklagepunkten, dem Verhör, der Herkunft des
Beweismaterials über das Gerichtsverfahren und das Urteil bis zur
Vollstreckung. Die Leiche, die an ihrem Körper noch die letzten
Spuren des Verfahrens trug, wurde der Familie in einem versiegelten
Behälter zurückgegeben. Das waren die Spielregeln in dem geradezu
klassischen, außerordentlich effektiven totalitären Staatssystem der
Republic of Fear.
All dies veränderte sich nach dem Golfkrieg von 1991. Wie nie
zuvor begannen Iraker offen zu sprechen und ihre Geschichten zu
erzählen. Sie nutzten die Niederlage des Regimes und rebellierten,
wobei sie zwei Drittel der Provinzen einnahmen und ganze Städte für
einen Zeitraum von ein bis drei Wochen hielten. Iraker beschreiben
dies als hajiz al-khawf inleiser - die Mauer der Angst war
zerbrochen. Das Undenkbare war geschehen. Um das Regime loszuwerden,
das sie beherrschte, riefen die Aufständischen jene alliierten
Armeen um Hilfe an, die einen sechswöchigen Bombenregen auf ihre
Städte hatten niedergehen lassen.
Dieser Wendepunkt irakischer Politik kam just in dem Augenblick,
als am 28. Februar 1991 ein formeller Waffenstillstand in Kraft
trat. Eine irakische Panzerkolonne, die sich auf der Flucht aus
Kuwait befand, rollte an diesem Tag zufällig auf den Sa'ad-Platz,
eine riesige rechteckige und offene Fläche im Zentrum Basras, der
südlichsten Stadt des Landes. Der kommandierende Offizier an der
Spitze bewegte sein Fahrzeug vor ein gigantisches Wandgemälde von
Saddam in militärischer Uniform, das sich neben dem Hauptquartier
der Ba'th-Partei in der Mitte des Platzes befand. Auf dem Chassis
seines Fahrzeugs stehend und das Porträt Saddams ansprechend,
prangerte er den Diktator in einer flammenden Rede an: »Was uns
zuteil wurde an Niederlage, Schande und Erniedrigung, Saddam, ist
die Folge deiner Torheiten, deiner Fehlkalkulationen und deiner
unverantwortlichen Handlungen.« Eine Menschenmenge versammelte sich,
die Atmosphäre war spannungsgeladen. Der Kommandeur sprang zurück in
seinen Panzer und drehte seinen Geschützturm zu dem Porträt hin. Mit
mehreren Granaten zersprengte er das Bild. Saddam verlor,
buchstäblich, sein Gesicht - in einem klassischen revolutionären
Moment, demjenigen, der die irakische intifada, oder
Volkserhebung, nach dem Golfkrieg auslöste. Innerhalb von Stunden
zerschmolz die staatliche Autorität im Irak, und Saddam Hussein sah
sich mit der bislang schwersten Bedrohung seiner Macht konfrontiert.8
Mit dieser intifada von März/April 1991 hatte sich etwas
ereignet, für das es keinen Vergleich in der gesamten arabischen
Politik gibt. Wie ein Fenster eröffnete sich - durch einen
dramatischen Wandel der Prioritäten - eine neue Hoffnung für die
ganze Region. Den Irakern war klar geworden, daß ihr eigener lokaler
Diktator ganz oben auf der Liste der Verantwortlichen stand und
wichtiger war selbst als der arabisch-israelische Konflikt, der das
Klima der arabischen Politik nach 1967 so entscheidend geprägt
hatte. Diese Möglichkeit wurde nicht genutzt. Die Aufständischen
standen alleine, zurückgewiesen sowohl von ihren arabischen Brüdern
als auch von den westlichen Führern der Koalition, die den Irak aus
Kuwait vertrieben hatte. Das Fenster schloß sich wieder.
Allem Anschein nach war angesichts des Aufstands besonders den
amerikanischen Politikgestaltern der Schrecken in die Glieder
gefahren. Der ehemalige nationale Sicherheitsberater von George Bush
senior, Brent Scowcroft, faßte das Entsetzen seiner Regierung in
einem Sonderreport von »ABC« über die »Unerledigte Angelegenheit im
Irak« zusammen. Von Peter Jennings gefragt, was er über die Revolte
denke, die um alliierte Unterstützung zum Sturz des Tyrannen gebeten
habe und so die Arbeit beenden würde, um derentwillen der Golfkrieg
begann, entgegnete Scowcroft: »Ehrlich gesagt, ich wünschte mir, daß
es nicht geschehen wäre. Weil das Militär sich dem Problem gegenüber
sah, daß vielleicht eine Revolution innerhalb Iraks stattfinden
könnte. Und sie haben lieber die Revolution erstickt als ihren Zorn
gegen Saddam Hussein zu richten.« Peter Jennings: »Verstehe ich Sie
richtig, daß Sie sagen, Sie hätten angesichts der sich entwickelnden
Rebellion einen Staatsstreich bevorzugt?« Bent Scowcroft: »Ja, wir
hätten eindeutig einen Staatsstreich bevorzugt. Das ist keine
Frage.« Jennings: »Glaubten Sie in dieser Phase wirklich daran, daß
irgendwo im Labyrinth um [Saddam Hussein] herum ...« Scowcroft: »Ja,
ja. Ja.«
Das Regime reagierte auf den Aufstand, indem es wieder an eine
Methode anknüpfte, die sich in seinen frühen Tagen so sehr bewährt
hatte: das öffentliche Zurschaustellen extremer Grausamkeit. Am 18.
August 1994 verkündete Präsident Saddam Hussein das Gesetz Nummer
109: »Im Einklang mit Sektion l Artikel 42 der irakischen Verfassung
hat der Revolutionäre Kommandorat verfügt, daß ... die Stirn
derjenigen Individuen, welche das Verbrechen, für welches ihre Hand
abgehackt wurde, wiederholen, gebrandmarkt wird mit einem Zeichen in
der Form eines X. Jede der sich kreuzenden Linien wird einen
Zentimeter lang und einen Millimeter breit sein.« Die Verbrechen,
»für welche ihre Hand abgehackt« werden soll, sind Diebstahl und
Fahnenflucht. Das Brandmarken mit einem rot glühenden Eisen wurde in
Saddams Nach-Golfkriegs-Irak eingeführt als eine neue Form der
Bestrafung für solche Verbrechen.
Auf der Grundlage dieser Gesetze suchte man Soldaten und
Autodiebe aus zur öffentlichen Bestrafung. Das neue Gesetz war sehr
allgemein formuliert. Ein Volljähriger, der etwas stahl, das mehr
als 5.000 Dinar wert war - was 1994 ungefähr zwölf Dollar entsprach
-, konnte im Irak beim ersten Vergehen mit Amputation und beim
zweiten durch Brandmarkung bestraft werden. Dem 37-jährigen 'All
Ubaid Abed Ali wurde zu gleicher Zeit eine Hand amputiert und die
Stirn mit einem »X« gebrandmarkt. Sein Verbrechen bestand darin,
einen Fernseher und 250 irakische Dinar (damals etwa 50 Cent)
gestohlen zu haben. Ali wurde am 9. September 1994 im irakischen
Fernsehen der Bevölkerung präsentiert - im Krankenbett, noch unter
Betäubung stehend, den verstümmelten Arm bandagiert. Nahaufnahmen
zeigten das Brandmal." Nach Berichten von Militärpersonal, das 1994
nach Kuwait entkommen konnte, waren bis zu 2.000 derartige
Brandmarkungen an Soldaten durchgeführt worden. Eine im nördlichen
Irak angesiedelte kurdische oppositionelle Radiostation meldete, daß
800 Soldaten mit derartigen Brandmalen von kurdischen Truppen in der
Nähe der Grenze zum Nordirak gefangen genommen wurden." Ungeachtet
der Frage, ob diese Zahlen genau zutreffen oder nicht, zeigt sich,
daß diese Bestrafungen offenbar keine bloße Randerscheinung waren.
Die Zahl der Strafen, mit denen der Staat öffentlich die Körper
seiner Untertanen entstellte, nahm explosionsartig zu. Je nach
Tatbestand wurde die Stirn des Verurteilten mit einem Zeichen in der
Form einer horizontalen Linie von drei bis fünf Zentimeter Breite
gebrandmarkt oder in der Form eines Kreises zusammen mit dem »X«,
wie es in Gesetz Nummer 109 bestimmt war. Deserteuren und denen, die
ihnen Zuflucht boten, wird eine Sonderbehandlung zuteil. Bei
erstmaligem Vergehen soll das Ohr abgeschnitten, im
Wiederholungsfall auch das zweite Ohr sowie ein Kreis auf die Stirn
gebrannt und beim dritten Mal soll der Soldat hingerichtet werden.
Dies stellt eine gewisse Verbesserung im Vergleich zur Situation vor
der Verabschiedung der neuen Gesetze dar, als die Strafe für
Desertieren der sofortige und sichere Tod durch ein
Erschießungskommando war.
Im System von Vergehen und Strafe in Saddam Husseins Irak hatte
sich ein Wandlungsprozess vollzogen. Auch die Reaktionen ganz
normaler Iraker auf diese neuen Gesetze waren vollkommen neu. Zwei
Männer, deren Ohren abgeschnitten worden waren, begingen im Oktober
1994 mitten in Bagdad öffentlich Selbstmord." Nachdem in der
südlichen Stadt Nassirriyya ein Amputationsopfer den ausführenden
Arzt ermordet hatte, traten mehrere hundert Ärzte aus Protest gegen
den Zwang zur Ausführung der Strafen in Streik." Eine Menschenmenge
hatte zuvor das Hauptquartier der Ba'th-Partei in der Stadt Amara
erstürmt und die Ohren von Ba'th-Funktionären abgeschnitten. Die
Ärzte brachen unter der Drohung, daß ihnen selbst die Ohren
amputiert würden, den Streik ab. Unverzüglich wurde Gesetz Nummer
117 erlassen, das alle Ärzte mit Amputationen bedroht, die an einer
kosmetischen Verschönerung eines von staatlicher Seite verstümmelten
Körpers mitwirken. Der Wortlaut dieses Gesetzes schließt mit der
folgenden merkwürdigen Anerkennung der öffentlichen Entrüstung: »Die
Wirkungen« der Bestrafung, die von der Amputation einer Hand oder
eines Ohrs oder einer Brandmarkung ausgehen, »werden [vom Staat]
beseitigt werden, falls die derart Bestraften heroische und
patriotische Taten vollbringen«.14
Diese auf den Golfkrieg von 1991 folgende Politik körperlicher
Entstellung griff zurück auf eine Tradition von Strafe, die Norm war
in den ersten Jahren der Ba'th-Herrschaft. In Republic of Fear
berichtete ich darüber, wie sich die grausamen öffentlichen
Schauprozesse fortentwickelten hin zur Folter unter den Bedingungen
der totalen Geheimhaltung.15
Der Unterschied zu den neuen Erfahrungen der 90er Jahre liegt im
Auseinanderbrechen des Absolutismus, mit dem das Regime regiert.
Während und nach dem letzten Golfkrieg von 1991 fingen gewöhnliche
Soldaten an, in großer Zahl aus Saddams Armee zu desertieren. Iraker
begannen offen zu sprechen und ihre Geschichten zu erzählen, wie sie
es noch nie zuvor getan hatten. (Ich war gezwungen, Re-public of
Fear unter einem Pseudonym zu veröffentlichen; das ist nicht
mehr nötig.) Selbst hochrangige Angehörige des Staatsapparates, zum
Beispiel der ehemalige Chef der militärischen Aufklärung, Wafiq
al-Samarrai oder der Armeestabschef Nazar al-Khazragi, liefen zur
Opposition über, die gerade vom Norden aus zu operieren begann
(nicht zu erwähnen die Flucht von Saddams Schwiegersöhnen und
Töchtern nach Jordanien im August 1995, wie auch von zahllosen
Mitgliedern der gefürchteten Geheimpolizei, dem Mukhbarat, nach dem
11. September 2001). Die gebildeten Bürger der städtischen
Mittelklasse erfuhren aber auch zum ersten Mal in ihrem Leben, was
es heißt, hungrig zu sein. Verzweiflung herrschte im Süden, der den
Aufstand vom März 1991 angeführt hatte und nun dafür zahlen sollte.
Die öffentliche Ordnung in Bagdad war zusammengebrochen. Unter
solchen Bedingungen war es weder effektiv noch möglich, alle und
jeden zu erschießen oder zu foltern.
Saddams Irak hat sich seit dem Golfkrieg von 1991 in ungeheurem
Ausmaß verändert. Die Ursachen dafür waren der Krieg, der folgende
Aufstand und die schrecklichen Jahre der Sanktionen und
wirtschaftlichen Not. Nichts ist im heutigen Irak so, wie es auf dem
Höhepunkt des ba'thistischen Absolutismus einmal war. Dennoch ist
Saddam Hussein immer noch an der Macht. Ein nach westlichen
Standards kleiner, schäbiger Diktator überlebte physisch oder
politisch eine beeindruckende Phalanx von Feinden: Ayatollah
Khomeini, George Bush senior, Margaret Thatcher. Tatsächlich strafte
der irakische Führer mehr als ein Jahrzehnt lang beinahe alle
Vorhersagen Lügen, die über seinen bald bevorstehenden Abgang
gemacht wurden.
Zur Zeit der Niederschrift dieser Worte deuten allerdings alle
Zeichen darauf hin, daß sich die US-Administration zum ersten Mal
ernsthaft und kraftvoll in Richtung eines »Regimewechsels« bewegt.
Ein bedeutsamer Luft- und Boden-Feldzug im Irak ist ins Auge gefaßt
worden, der den Einsatz von bis zu 250.000 Soldaten beinhalten
könnte. In Washington und in den Reihen der irakischen Opposition
sind Gerüchte über eine vorübergehende amerikanische Besetzung im
Umlauf, während derer eine neue, pro-westliche Regierung versammelt
werden solle. Der Feldzug in Afghanistan, der die letzte
islamistische Bewegung stürzte, welche einen Staat in der
sunnitisch-muslimischen Welt kontrollierte, ist dabei nicht das
Vorbild für das, was für den Irak gerade vorgeschlagen wird. »Alle
Anstrengungen gegen den Irak werden nicht so aussehen wie das, was
wir in Afghanistan getan haben«, sagte ein hoher
Verteidigungsbeamter, der von New York Times zitiert wurde."
Dieser amerikanische Sinneswandel, der natürlich von
strategischen Erwägungen nach dem 11. September angetrieben wird,
wurde offen begrüßt in irakischen Oppositionskreisen, wenngleich die
übrige arabische Welt ihn fürchtet und kritisiert. Die 1991
aufgetretene Spaltung, die Saddam Hussein selbst in die arabische
Politik einführte, besteht noch immer. Was aus dieser Politik in den
kommenden Monaten und Jahren werden wird, hängt davon ab, wie die
Vereinigten Staaten beim angekündigten »Regimewechsel« vorgehen. Es
ist lange her, daß die US-Regierung, oder eine andere westliche
Macht, sich zu einer solchen Unternehmung verpflichtete. Der
Ausdruck »Regimewechsel« selbst ist unglücklich gewählt, da er eine
Operation suggeriert, die zeitlich und räumlich begrenzt ist. Im
Irak steht jedoch weit mehr auf dem Spiel als die Ausschaltung von
Massenvernichtungswaffen und die Absetzung Saddam Husseins - so
wichtig diese Angelegenheiten auch sind.
Die arabische Politik der nächsten 25 Jahre wird weitgehend
dadurch bestimmt werden, was die Vereinigten Staaten in der nächsten
Zeit im Irak zu unternehmen beschließen. Wie schon im Jahr 1991 gibt
es eine historische Gelegenheit, die Malaise dieses Teils der Welt
zu durchbrechen. Die weit verbreitete Meinung war, daß Oslo genau
dies leisten würde und unter der Clinton
Administration bedeutete dies, daß die Irak-Frage zurückgestellt
wurde. Doch in der Zwischenzeit ist die gesamte Ordnung der
Nachkriegs-Arrangements, durch welche die USA seit dem Golfkrieg
versuchten, Saddam Hussein »einzudämmen« [»contain«], in sich
zusammengebrochen - und der Friedensprozeß von Oslo ist praktisch
tot.
Saddam fing an, aus seinem »Gefängnis« auszubrechen, als er im
Sommer 1996 seine Truppen in der nördlichen Schutzzone einfallen
ließ, um die damals unter dem Dach des Irakischen Nationalkongresses
versammelte irakische Opposition zu zermalmen. 1996 waren weder
Saudi-Arabien noch die Türkei - beides erprobte Alliierte der
Vereinigten Staaten und ehemals Säulen der Golfkriegskoalition -
bereit, ihr Territorium amerikanischen Flugzeugen zu überlassen, um
einen Vergeltungsschlag durchzuführen. Von der amerikanische Politik
gegenüber dem Irak, die man mit den zwei Worten »Sanktionen« und
»Eindämmung« zusammenfassen könnte, blieb nicht mehr als ein
Scherbenhaufen zurück. Und wieder einmal bezahlten am Ende jene
Iraker, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, das Regime in Bagdad
mit Hilfe des Westens zu stürzen, den höchsten Preis von allen.
Hunderte Oppositionelle wurden 1996 umgebracht; Tausende wurden ins
Gefängnis geworfen oder ins Exil getrieben; darüber hinaus wurde die
gesamte Infrastruktur der Opposition im nördlichen Irak zerstört. 17
Der Fall Irak kann uns eine Menge lehren über das, was mit einem
international geächteten Staat geschieht, der nicht beseitigt wird,
wenn er systematisch internationale Normen bricht, sondern einer
Kombination aus Sanktionen und ungezügelter Tyrannei unterworfen
ist. Er wird zerfressen und verrottet vor sich hin. Dies hat zur
Folge, dass die Masse der Bevölkerung überwältigt wird und verarmt,
ohne dass es dadurch notwendigerweise leichter würde, sich dagegen
aufzulehnen oder von Innen heraus einen Umsturz zu organisieren.
Sanktionen wirken nicht in der Weise, wie westliche Politikgestalter
behauptet haben. Und es ist höchste Zeit, aus dieser Erfahrung die
richtigen Folgerungen zu ziehen.
Arabisches Denken und Kultur wiederum können sich nur erneuern in
einem neuen politischen Milieu - und zwar in einem, das die
arabische Beziehung zum Westen grundlegend neu bestimmt. Eine
Gelegenheit, eine solche Neudefinition herbeizuführen, bietet sich
zum zweiten Mal in der jüngeren Geschichte durch einen Regimewechsel
im Irak. Die einzige Art von Staat, die eine Chance hatte, im Irak
zu funktionieren, wäre ein bundesstaatlich organisierter und
entmilitarisierter Staat (was bereits die offizielle Position des
Irakischen Nationalkongresses darstellt). Eine logische Folge dieser
Positionen ist, dass er säkular und zum Westen hin orientiert sein
muss, und - meiner Meinung nach - ein nicht ausschließlich
arabischer Staat sein darf (weil die Kurden 20 Prozent der
Bevölkerung bilden und ihnen nicht ein Status zweiter Klasse
zugewiesen werden sollte wie den israelischen Arabern). Dies sind
die Voraussetzungen für einen künftigen demokratischen Staat im
Irak, dem der Westen bei der Geburt helfen kann. Natürlich ist dies
ein großes Wagnis. Heutzutage existiert kein derartiger Staat im
Mittleren Osten. Doch aus Gründen, die mit der beherrschenden
Stellung zu tun haben, welche die Erfahrung der Diktatur im
Bewusstsein der Iraker einnimmt, ist das irakische Volk dazu bereit
- in einer Weise, wie es andere arabische Bevölkerungen in diesem
Augenblick vermutlich nicht sind. Darin liegt eine historische
Chance, die grundlegende Gleichung arabischer Politik, die zu einem
so permanenten und festen Bestandteil der politischen Landschaft
nach der Niederlage von 1967 wurde, zu verändern.
Übertragung ins Deutsche: Stephan Wendel
Anmerkungen
- 1 Kanan Maklya Republic of Fear The Politics of Modern
Iraq,
University of California Press, 1989
- 2 Republic of Fear, S 271
- 3 Middle East Watch Human Rights in Iraq, New York
Human Rights Watch, 1990), S 144
- 4 Darüber, wie ich zu dieser Schätzung gelangt bin, vergleiche
Kapitel 5, »Taimour«, meines Buchs Cruelty andSilence
(Nonon 1993), S 168 Bei Taimour handelt es sich um einen
Überlebenden der Anfal-Opera-tionen, die übrigens nicht an die
Öffentlichkeit drangen bis zum Golf-kneg Die Geschichte wurde m
einer BBC-Dokumentation mit dem Titel The Road To Hell
bekannt gemacht, die am 12 Januar 1992 gesendet wurde Der Film,
der von Gwynne Roberts gedreht wurde und für dessen
Berichterstattung ich selbst verantwortlich war, wurde m den
Vereinigten Staaten unter dem Titel Saddam's Killing Ftelds,
womit auf die Massengraber des vom Pol-Pot-Regime m Kambodscha
durchgeführten Volkermords, die dem Film Ktlling Fields
den Titel gaben, angespielt wird — Anm d Übers ] auf »Frontline«
am 31 März 1992 ausgestrahlt Human Rights Watch veröffentlichte
einen ausführlichen Bericht mit dem Titel Genocide in Iraq
The Anfal Campaign Agamst the Kurds
- 5 Siehe den Rundbrief »Iraq's War on its Children«, von
Amnesty Ac-tion, Marz/Apnl 1989, S 6 Vergleiche auch den Bericht
von Frances Williams m The Sunday Times vom 5 März 1989
- 6 Zitat aus einer vor der UN Menschenrechtskommission
abgegebenen Stellungnahme vom 2 März 1993
- 7 Siehe Kapitel 2 von Republic ofFear
- 8 Ich habe eine Schilderung des Aufstandes in den Worten eines
der Beledigten gegeben in Kapitel 2, »Abu Haydar«, im Buch
Cruelty and Silence 'War, Tyranny, Upnsmg and the Arab Worid,
Norton 1993
- 9 Das Gesetz wurde m der offiziellen Tageszeitung
Al-Thaiara
am 26 August 1994 veröffentlicht
- 10 Bericht von Amnesty International, Urgent Action
Nottficatwn, mit dem Datum 6 Oktober 1994 (AI Index MDE
14/12/94)
- 11 Berichtet von Al-Hayat am 8 September 1994
- 12 Diese Geschichte wurde von einem Iraker aus Bagdad erzahlt,
der ein Zeuge des Vorfalls gewesen zu sein behauptet
- 13 Bericht von The Times, 13 September 1994
- 14 Veröffentlicht m der halb-offiziellen Tageszeitung
AI-'Iraq
am 6 September 1994
- 15 Diese Entwicklung ist Thema des zweiten Kapitels, »A Worid
of Fear«
- 16 The New York Times vom 28 Apnl 2002
- 17 Zur Verantwortung der kurdischen Fuhrung für diesen
historischen Ruckschlag bezüglich der kurdischen Hoffnungen
vergleiche ineinen Artikel »Betrayal m Iraq«, The New York
Review of Books, 17 Oktober 1996
Was will man in Deutschland überhaupt wissen?
Die Wirklichkeit des Ba'th-Regimes
Ein anderer Irak:
Wer ihn will, muss die Wirklichkeit des Ba'th-Regimes kennen,
und wer die kennt, will einen anderen Irak.
hagalil.com
13-01-2003 |