September 2003:
Der Frieden wartet nicht um die Ecke
Von Amira Hass
(Aus dem Epilog für die deutsche Ausgabe von "Gaza - Tage und
Nächte in einem besetzten Land" [BESTELLEN]
[PRÄSENTATION])
Als ich im Sommer 1995 den Vertrag für die
ursprüngliche, hebräische Fassung des Buches "Gaza
- Tage und Nächte in einem besetzten Land" unterzeichnete,
gab mir Jemand den Rat, "mich mit dem Schreiben zu beeilen, weil
sehr bald Frieden eintreten und das Buch überholt sein wird".
"Darüber machen Sie sich mal keine Sorgen", gab ich verärgert
zurück. "Der Frieden wartet nicht um die Ecke, und das Buch, das ich
über die israelische Besatzung schreiben werde, wird leider Gottes
noch lange aktuell bleiben."
Ich war verärgert, weil ich überzeugt war, daß
meine Artikel in der Ha'aretz
die Leser täglich mit genügend Material und Fakten versorgten, um
sie in die Lage zu versetzen, den Mythos vom "Friedensprozess"
kritisch zu überdenken und Israels Versuch zur Kenntnis zu nehmen,
die militärische Besatzung durch ein sehr viel ausgeklügelteres
System zu ersetzen, in dem zwar das Militär unsichtbar sein, Israels
Kontrolle über das Leben eines anderen Volkes jedoch weiterhin
erhalten bleiben würde - sei es als Ziel oder als Mittel zu dem
Zweck, schließlich ein für Israel günstiges Abkommen zu erreichen,
in dem sich die Palästinenser den meisten israelischen Forderungen
beugen wurden.
In den Jahren bis 2000 waren von den
Palästinensern genügend Warnzeichen gekommen, die den Israelis auf
vielerlei Weise - friedlich wie auch gewaltsam - signalisiert
hatten, dass eine Kapitulation weder Stabilität noch Frieden bringen
würde, dass ein der palästinensischen Führung infolge des ungleichen
Kräfteverhältnisses aufgezwungenes Abkommen, das nicht auf den
internationalen Resolutionen basierte und vom Prinzip der
Gerechtigkeit und Gleichheit ausging, letztlich zum Scheitern
verurteilt sein würde.
Die Warnungen bezogen sich auf vier Hauptelemente:
die Fortsetzung des Siedlungsbaus,
die umfassende Kontrolle des Lebens der Palästinenser durch ein
System der Abriegelung und der Einschränkung der Bewegungsfreiheit,
die Weigerung Israels, sich mit seiner Verantwortung für das Elend
der Flüchtlinge auseinanderzusetzen,
und die herablassende Grundhaltung der israelischen Unterhändler.
Die Signale und Warnungen fanden in Israel nur wenige offene Ohren.
So war es denn kein Wunder, daß die meisten Israelis schockiert
reagierten und sich persönlich beleidigt fühlten, als die besetzten
Gebiete Ende September 2ooo durch eine Serie von Zusammenstoßen mit
der Armee erschüttert wurden - ebenso schockiert und beleidigt, wie
sie einige Monate zuvor, im Juli und August 2000, reagiert hatten,
als Israels in Camp David in den USA vorgelegter Vorschlag für ein
endgültiges Abkommen von der palästinensischen Delegation nicht mit
Dankbarkeit begrüßt worden war.
Die meisten Israelis akzeptierten die offizielle Version, dass
Israel den Palästinensern in Camp David ein "außerordentlich
großzügiges" Angebot für einen palästinensischen Staat gemacht habe.
Die Sicht der Palästinenser - dass der angebotene Staat nichts als
eine Ansammlung palästinensischer Enklaven gewesen sei - erschien
den meisten Israelis nicht überzeugend.
Über das Scheitern des Friedens und das Wiederaufflammen der
bewaffneten, blutigen Phase des israelisch-palästinensischen
Konflikts sind bereits ganze Bücher geschrieben worden, und weitere
werden mit Sicherheit noch geschrieben werden. Ich kann und will mit
diesem Epilog nicht mit ihnen konkurrieren. Ich möchte nur
feststellen, dass alle Elemente der Kontrolle und Unterdrückung, die
während der Oslo-Jahre fortdauerten - und die in diesem
Buch
über Gaza beschrieben sind -, die Ursache für den erneuten Aufstand
der Palästinenser sind und dass die militärischen Reaktionen Israels
eingebettet sind in die politische Vision einer Fortdauer der
Herrschaft über die Palästinenser.
Anfang 1997 zog ich nach Ramallah im
Westjordanland. Von dort aus verfolgte ich eine ähnliche Entwicklung
wie die, die in Gaza so augenscheinlich gewesen war, von
hoffnungsvoller Gewissheit und vorsichtiger Erleichterung bis zur
Desillusionierung, dem Gefühl, betrogen worden zu sein, dem
Bewusstsein der Ohnmacht und der Schwache. Auch hier verfolgte ich
den Aufstieg der palästinensischen Autonomiebehörde mit ihren hohlen
Erklärungen und Versprechungen von "schrittweise befreiten Gebieten"
und ihren drohenden, arroganten Sicherheitsorganen, die wachsende
Spannung zwischen der Führung und der palästinensischen Bevölkerung,
den Schock über die von Israel verhängten, ständig wachsenden
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, den Schock über die
israelischen Bulldozer, die fröhlich und ungestört immer mehr
palästinensisches Land für die stetig wachsenden israelischen
Siedlungen auffraßen, den Schock darüber, dass die israelische
Zollverwaltung weiterhin Anordnungen erließ, mit denen "nicht
genehmigte" Bautätigkeit in den palästinensischen Ortschaften
eingestellt oder die Vergrößerung des Wasserversorgungssystems oder
des Stromnetzes in palästinensischen Gemeinden unterbunden wurde.
Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr stellten immer mehr
Palästinenser die Frage, was für eine Art von Friedensprozess dies
denn sein solle.
Am 29. September 2000 schließlich begannen die Palästinenser in
Jerusalem auf dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee, Steine nach der
israelischen Polizei zu werfen. Die Polizei eröffnete aus kurzer
Entfernung das Feuer und tötete an dieser den Moslems heiligen
Stätte vier Menschen. Ohne Ariel Sharons provozierenden Auftritt im
Vorhof der Al-Aqsa-Moschee am Tag vor diesen Ereignissen wäre die
Explosion vielleicht ein paar Tage, Wochen oder Monate später
erfolgt. Aber die Luft vibrierte vor unterdrücktem Zorn.
Am nächsten Tag breiteten sich die Demonstrationen auf Gaza, das
Westjordanland und die palästinensischen Gemeinden in Israel selbst
aus. Innerhalb weniger Tage wurden Dutzende von palästinensischen
Demonstranten und Steinewerfern von israelischen Soldaten und
Polizisten erschossen. An einigen Orten, an denen Zusammenstöße
stattfanden - an militärischen Checkpoints an den Ausgängen
palästinensischer Städte -, tauchten bewaffnete Kampfer auf, die
auch einige Schusse abgaben. Die israelische Armee behauptete, sie
hatten das Leben der Soldaten gefährdet, die aus diesem Grund
gezielt Zurückgeschoßen hätten. Die Palästinenser reagierten mit
Zorn auf diese bewaffneten Männer, deren Schüsse aus einer
unbewaffneten Menschenmenge heraus (und später aus Wohngebieten)
ebenso wirkungslos und ineffektiv waren (das heißt keinen einzigen
Soldaten in Gefahr brachten), wie sie das Leben aller anderen
gefährdeten. Sehr oft jedoch - und das kann ich selbst bezeugen -
begann die israelische Armee, schon lange bevor irgendein
Bewaffneter sich blicken ließ oder von seinem Gewehr Gebrauch
machte, auf die Demonstranten zu schießen.
Schon Monate vor dem Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada
hatte die israelische Armee ihre Soldaten im Westprdanland und dem
Gazastreifen auf einen "Krieg auf kleiner Flamme" vorbereitet. Grund
hierfür war die Annahme, dass die politische Stagnation den
Vorsitzenden der palästinensischen Autonomiebehörde, Arafat, dazu
treiben wurde, zu Zusammenstößen aufzurufen. Seit den
"Tunnelereignissen" im September 1996 oder nach Auffassung einiger
Leute seit den Terroranschlägen im März 1996 hatte die israelische
Armee ihre Taktik für den Fall einer bewaffneten Konfrontation
geplant. Dies wurde israelischen Journalisten von hohen Offizieren
mitgeteilt. Für uns als Augenzeugen war es klar erkennbar, dass die
Armee im voraus eine Serie militärischer Gegenmaßnahmen mit
stufenweise zunehmender Härte vorbereitet hatte. Als die ersten
Steine flogen, bombardierte der israelische Sicherheitsapparat die
Öffentlichkeit, einschließlich der Soldaten, mit der Behauptung,
dass die PA und Arafat alles im voraus geplant hatten. Gleichzeitig
reagierten die IDF, die Polizei und der Shin Bet (Allgemeiner
Sicherheitsdienst) in unangemessener Weise auf die ersten Steine und
die dann enthaltene politische Botschaft, dass der "Friedensprozess"
nur ein Deckmantel für die erneute Durchsetzung der israelischen
Besatzung war. Von Anfang an griffen sie zu unverhältnismäßig harten
Maßnahmen, die für Aktionen angemessen gewesen waren, die in der
Skala der erwarteten palästinensischen Proteste jeweils um eine
Stufe höher gestanden hatten. Damit setzten sie diesen Protesten
nicht ein Ende, sondern lösten die Eskalation auf der
palästinensischen Seite erst eigentlich aus. Das Karussell des
Blutvergießens drehte sich weiter. Immer weniger Menschen nahmen an
den offenen Konfrontationen teil (Steine gegen Gewehre,
Molotowcocktails gegen Panzer), immer mehr Palästinenser
unterstützten die militärische Eskalation, wie sie zuerst von
anonymen bewaffneten Kämpfern praktiziert wurde, die israelische
Zivilisten und Soldaten innerhalb der besetzten Gebiete bedrohten
und schließlich zu blutigen Angriffen auf israelische Zivilisten in
Israel selbst übergingen, häufig in Form von Selbstmordattentaten.
Eine der frustrierendsten und
niederschmetterndsten Erfahrungen für eine Journalistin - keine
neutrale Journalistin, muss ich zugeben, schließlich bin ich Israeli
- war es, zu diesen Demonstrationen zu gehen, wo Jugendliche von
weit entfernt stehenden israelischen Soldaten verwundet und getötet
wurden, und unfähig zu sein, der eigenen Seite rechtzeitig
klarzumachen, dass ein derart exzessiver Gebrauch der eigenen Macht
auf einen selbst zurückfallt, dass steinewerfende Jugendliche keine
so fürchterliche Gefahr für die Soldaten sind, dass die
Armeesprecher Halbwahrheiten und Lügen verbreiteten, wenn sie
behaupteten, dass die Soldaten auf "Feuer" reagierten. Hatte es
nicht einen politischen Plan gegeben, eine politische Unterwerfung
zu erzwingen, hatte die Armee sich auch nicht berechtigt gefühlt,
einen Aufstand von Zivilisten zur Eskalation zu bringen und zu
militarisieren.
... wird
fortgesetzt...
Anmerkung: Drei Jahre nach den Oktober-Unruhen legte das staatliche
Untersuchungskomitee seine Schlussfolgerungen vor. Die Polizei muss
scharfe Kritik einstecken:
Wer
ist verantwortlich?...
Epilog Teil
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3 - 4
Lesungen mit Amira Hass
hagalil.com
10-09-2003 |