Planlos im Chaos:
Arafat und die zweite Intifada
Von Amira Hass
(Aus dem Epilog für die deutsche Ausgabe von "Gaza - Tage und
Nächte in einem besetzten Land" [BESTELLEN]
[PRÄSENTATION])
Epilog Teil 1
- 2 - 3 -4
... Die Theorie, daß Arafat das alles geplant und
dann die Eskalation befohlen oder befürwortet habe, wurde in Israel
weitgehend geglaubt und gepflegt. In den Augen der Palästinenser
sehen die Dinge vollkommen anders aus: Eine zornige Anhängerschaft
aus frustrierten Jugendlichen zwang die lokalen Führer der Fatah,
sich ihnen anzuschließen, wodurch Arafat und seine Entourage mehr
nolens als volens in eine Konfrontation hineingezogen wurden.
Die Demonstranten standen Arafats Herrschaft nicht
weniger kritisch gegenüber, als sie von der israelischen Besatzung
die Nase voll hatten. Arafat erkannte, daß er seinen
Sicherheitsorganen nicht befehlen konnte, diese Explosion mit
Polizeimaßnahmen (Verhaftungen) aufzuhalten, wie er es in der
Vergangenheit, wahrend der Oslo-Jahre, mehrfach getan hatte. Er
konnte es sich nicht leisten, in der Öffentlichkeit zusätzliche
Ressentiments gegen sein Regime zu provozieren. Schließlich hatte er
keinerlei politischen Gewinn und keine Alternative anzubieten,
obwohl er beides während der letzten sechs Jahre ständig versprochen
hatte. Irgendwann neigte er vermutlich auch zu der Annahme, daß eine
Zwischenphase der Gewalt den politischen Prozess vorantreiben wurde.
Die Palästinenser mussten feststellen, daß die
Explosion sich infolge der wohlbekannten Unfähigkeit ihrer Führung
und Organisationen vollkommen ungeordnet und chaotisch zu einem
Dschungel individueller Einzelentscheidungen entwickelte und nicht
zu einer strategisch vernünftig geführten Aktion unter einer
Führung, die eine klare Botschaft zu vermitteln hat. In einem
patriarchalischen System, wie es sich unter Arafats Herrschaft
entwickelt hatte, in dem nur eine einzige Person die exekutiven
Entscheidungen trifft - nicht nur, ohne sich mit anderen zu beraten,
sondern auch, ohne irgendwelche Befugnisse auf die fähigsten
Mitarbeiter zu delegieren -, sterben alte Gewohnheiten nur schwer,
auch, oder vielleicht sogar erst recht, in Krisensituationen.
Dadurch, daß er sich nicht augenblicklich
entschloss, wie er auf die Explosion reagieren und wie er mit dem
Konflikt umgehen wollte, signalisierte er Nachgiebigkeit -
Nachgiebigkeit in einem Umfeld, in dem die politischen Fraktionen
seit Jahrzehnten den Kult des "bewaffneten Kampfes" und die Anbetung
der Waffen gepflegt hatten. Palästinensische Beobachter, vor allem
aus akademischen Kreisen, warnten angesichts der mächtigen
israelischen Armee vor einer Militarisierung. Andere warnten vor
undifferenziertem Waffengebrauch gegen Israelis auf beiden Seiten
der grünen Linie, durch den der Zweck dieses Aufstandes verwischt
wurde, der ja die Errichtungen eines Staates neben Israel zum Ziel
hatte. Manche Aktivisten, darunter auch etliche hochrangige, spürten
die Gefahr, aber sie ließen zu, daß die gefährliche Strömung ihre
Organisationen und Anhänger mit sich riß.
Trotz einiger Versuche, die Aktivitäten zu
koordinieren, hat seit September 2ooo jede palästinensische Fraktion
- sei es die Fatah, die Hamas, die Volksfront oder der Islamische
Jihad - für sich alleine entschieden, worin die "obersten nationalen
Interessen der Palästinenser" bestünden: Schüsse,
Selbstmordattentate, Minenfallen in Jerusalem, Angriffe aus dem
Hinterhalt. Die Organisationen, besonders Hamas und Fatah, begannen,
miteinander um die zukünftige nationale und politische Legitimation
in Form eines möglichst hohen Anteils an Blutvergießen und Rache zu
konkurrieren. In der Hamas hat es anscheinend einen zentralen
Beschluss gegeben, durch Angriffe auf israelische Zivilisten in
Israel eine Eskalation herbeizuführen. Als die Fatah auf diese
Methode zurückgriff, lagen dieser Entscheidung lokale Entschlüsse
zugrunde, die in unterschiedlichen Regionen von Individuen getroffen
worden waren. Und der Führung der Fatah gelang es nicht, in ihren
Reihen Gehorsam zu erzwingen und der Versuchung zu widerstehen, sich
vom allgemeinen Taumel mitreißen zu lassen, in dem Rache und
Planlosigkeit regierten. Je härter die israelischen Methoden wurden,
je mehr palästinensische Zivilisten in ihren Wohnungen, ihren Läden,
auf ihren Straßen und Feldern getötet wurden - ohne dass die Welt
besonders Notiz davon nahm -, desto weniger konnte sich irgend
jemand zuständig fühlen und zur Vernunft mahnen.
Diese und andere Mängel des politischen Systems
der Palästinenser und die Art ihres Widerstandes ändern nichts an
der Tatsache, daß eine der stärksten Armeen der Welt einen Krieg
gegen die gesamte Bevölkerung eines besetzten Landes führte, die
gegen ebendiese Besatzung protestierte.
... wird
fortgesetzt...
Epilog Teil
1 -
2 -
3 - 4
Lesungen mit Amira Hass
hagalil.com
10-09-2003 |