"Der
Massaker-Mythos"
Israel fühlt sich durch die Berichte der internationalen Medien über die
Kämpfe im Palästinenser-Lager Dschenin verunglimpft
Von Thorsten Schmitz
In weiten Teilen Israels fühlt
man sich durch die Berichterstattung internationaler Medien über die
Kämpfe im palästinensischen Flüchtlingslager Dschenin verunglimpft. Die
Regierung unter Premier Ariel Scharon hat seit dem Wochenende ihre
Anstrengungen verstärkt, Berichten über ein angebliches Massaker
entgegenzusteuern. Minister und Sprecher beteuern allerorten, die auf
palästinensischen Augenzeugen beruhenden Berichte über angebliche
Gräueltaten in Dschenin träfen nicht zu. Dazu gehört auch die
Kooperationsbereitschaft mit einer UN-Kommission, welche die
Vorkommnisse in der Stadt recherchieren soll. Israel habe "nichts zu
verbergen", sagt Verteidigungsminister Benjamin Ben-Elieser.
Außenminister Schimon Peres weist darauf hin, dass es bei 400 permanent
akkreditierten internationalen Korrespondenten, Fotografen und
Kameramännern in Israel unmöglich sei, etwas zu verheimlichen.
Unverantwortlicher
Journalismus
Armeeangehörige und Minister
leugnen zwar nicht, dass es in Dschenin zu erbitterten Kämpfen und zum
Tod palästinensischer Zivilisten gekommen ist, weisen aber den Vorwurf
eines Massakers von sich. Armeesprecher Olivier Rappovicz sagt, Massaker
beinhalteten Massenexekutionen von Zivilisten. Dagegen seien fast
ausschließlich bewaffnete Palästinenser der Hamas, des Islamischen
Dschihad und der Al-Aksa-Brigaden getötet worden. Es habe keinen
Regierungsbefehl gegeben – wie von palästinensischer Seite behauptet –,
die Bevölkerung Dschenins "auszulöschen". Vielmehr hätten die
Palästinenser „mit Erfolg“ den Mythos eines Massakers kreiert. In
internationalen Medien werde von einem Massaker gesprochen, obwohl die
Palästinenser bis heute keine Beweise dafür geliefert hätten.
Augenzeugenberichte würden nicht glaubwürdiger dadurch, dass sie
wiederholt würden. Die Zerstörungen in Dschenin und das Leiden der
Zivilbevölkerung würden von Armee und Regierung nicht beschönigt. Aber
von Massakern zu reden und zu schreiben sei "unverantwortlicher
Journalismus", sagt Rappovicz.
In den israelischen Medien
herrscht seit Tagen Empörung über die ihrer Ansicht nach unausgewogene
Berichterstattung internationaler Medien. Es werde leichtfertig
palästinensischen Augenzeugenberichten Glauben geschenkt, ohne
israelische Stellungnahmen einzuholen. Manche Reporter würden ein
Massaker geradezu herbeireden. Die Tageszeitungen stellten
palästinensische Behauptungen den Tatsachen gegenüber. So seien
Falschmeldungen verbreitet worden wie etwa, dass eine Familie nach einer
Woche lebend aus den Trümmern geborgen worden sei. Dabei sei die Familie
vor dem Einmarsch der Armee zu Verwandten geflohen. Auch Exekutionen
sowie das Überfahren palästinensischer Zivilisten durch israelische
Panzer sei behauptet, aber nie belegt worden.
Israel betont, dass von den etwa
1000 Häusern im Flüchtlingslager Dschenin etwa 100 zerstört worden
seien. Die meisten seien vermint gewesen. In internationalen Berichten
tauchten aber nur die 100 zerstörten Häuser auf, was eine völlige
Verwüstung des Flüchtlingslagers suggeriere. Die Armee sagt, in dem 100
mal 100 Meter großen Areal hätten sich etwa 250 bewaffnete Palästinenser
verschanzt, die zum Teil Zivilisten als Schutzschilde missbraucht
hätten. Rappovicz sagt, trotz der Unübersichtlichkeit im verwinkelten
Flüchtlingslager habe man Haus-zu-Haus-Durchsuchungen vorgenommen und
das Gebiet nicht von Hubschraubern aus bombardiert. Israel habe so die
Zahl getöteter Zivilisten gering halten wollen und dies mit 23 toten
Soldaten bezahlt.
Selbst die regierungskritische
Haaretz schreibt in einem Leitartikel:
"Es gab kein Massaker in Dschenin". In einer Demokratie sei
es unmöglich, angebliche Untaten der Armee zu vertuschen. Die Reporterin
Amira Hess, die für das Blatt seit Jahren aus den Palästinensergebieten
berichtet und mehrere Tage in Dschenin recherchierte, konnte nach
Gesprächen mit Bewohnern keinen Beleg finden für ein Massaker.
Stattdessen berichtet die für ihre Beiträge aus den
Palästinenser-Gebieten mehrfach ausgezeichnete Journalistin
Begebenheiten wie diese: Mehrere Tage seien Soldaten in ihrem Haus
gewesen und hätten das Bad völlig verschmutzt. Der Kommandeur der Truppe
habe daraufhin aus einem leer stehenden Nachbarhaus Wasser besorgt und
das Badezimmer gereinigt.
haGalil onLine 23-04-2002 |