Der alte General:
Premier, Richter, Henker
Urs Gehriger
Die Welt empört sich über den israelischen
Anschlag auf Scheich Jassin. Hätte Israel eine andere Wahl gehabt,
um den Drahtzieher des Terrors aus dem Verkehr zu ziehen?
Gibt es noch Zweifler? Einen blinden Behinderten im Morgengrauen zu
ermorden, nach dem Gebet vor der Moschee – «Staatsterror in seiner
hässlichsten Form» ist das, «ein Verbrechen am palästinensischen
Volk» und «das Ende des Friedensprozesses». Spätestens nach dem Mord
an Hamas-Chef Scheich Jassin ist für Staatschefs und Völker rund um
die Welt der Beweis vollbracht: Scharon ist ein feiger Mörder.
Scharon will keinen Frieden, Scharon will Krieg. Und den wird er
bekommen, schwören Jassins Jünger. «Israel hat die Pforten zur Hölle
aufgestossen.»
Rückblende: Letzte Woche in Aschdod, einer südisraelischen
Hafenstadt am Mittelmeer. Unter Jassins Führerschaft plant Hamas die
Sprengung eines Chemie-Containers. Seit 15 Jahren schickt die
Islamisten-Organisation Selbstmordattentäter nach Israel, bombte
Hunderte Israelis in den Tod. Der Anschlag in Aschdod soll alles
Bisherige übertreffen. Ein Mega-Attentat soll es werden, mit
Hunderten von Toten. Doch die Sache läuft schief, die Bombe
detoniert zu früh; «nur» zehn Israelis sterben.
Nach der «Panne» von Aschdod schreitet Scharon zur Tat und lässt den
«geistigen Führer» der Hamas liquidieren. Jassin war einer von
Israels erbittertsten Gegner, der seine Gruppe als «Speerspitze und
Avantgarde im Kampf gegen den Weltzionismus» sah. In ihrer Charta
1988 schworen die Hamas-Gründer, «alle Kräfte und Energien zu
vereinen, um dieser verabscheuungswürdigen Nazi-Tataren-Invasion» in
Palästina entgegenzutreten. Tod den Juden, Vernichtung Israels,
Errichtung eines Gottesstaates – so lautet das Programm des
Scheichs, um den fast die ganze arabische Welt trauert.
Marschhalt auf dem blutigen Weg
Im Westen weint niemand Jassin eine Träne nach. Man
weiss, der Mann mit dem sanften Gesicht und der Fistelstimme hatte
Böses im Sinn. Man weiss es und hält jetzt trotzdem mit Kritik an
Israel nicht zurück: «Gewalt darf keine Alternative sein für
Verhandlungen», heisst es empört aus der EU-Zentrale. Worüber,
möchte man Beamte und Magistraten in ihren geheizten Büros fragen,
hätte man denn mit Scheich Jassin verhandeln sollen? Hat denn
niemand in Brüssel die Hamas-Charta gelesen? «So genannte friedliche
Lösungen», steht dort unter Artikel 13 geschrieben, «stehen sämtlich
im Widerspruch zu den Auffassungen der Islamischen
Widerstandsbewegung.» Das Äusserste, was man Jassin bisher abringen
konnte, war ein Waffenstillstand; die Hamas nutzte ihn als
Marschhalt, um Kräfte zu sammeln für den blutigen Weg zur
«Endlösung» in Israel.
Europa und (beinahe) der ganze Rest der Welt lässt sich nicht
beeindrucken: Selbst ein «Irak-Hardliner» wie der britische
Aussenminister Jack Straw warnt seine israelischen «Freunde»: «Wir
alle verstehen, dass sich Israel verteidigen muss», aber bitte
«innerhalb der Schranken des internationalen Rechtes». Tönt
vernünftig. Doch ist es das auch? Haben Terroristen, deren Hauptziel
es ist, die Juden in Israel «zurück ins Meer zu treiben», ihren
Anspruch auf das Völkerrecht nicht verspielt? Wie wäre es denn,
fragen manche in Israel zurück, wenn Bin Laden ins Visier des
Westens geriete? Dürfen wir annehmen, Straw & Co. würden ihre Flinte
senken, weil extralegale Tötung verboten ist? Wohl kaum.
Die meisten Israelis sehen sich einmal mehr mit besonderen Ellen
gemessen. Die Welt schere sich einen Deut darum, monieren sie in
einer Mischung aus Wut und Verzweiflung, wie es sich lebe, wenn jede
Busfahrt, jeder Restaurantbesuch, jeder Einkaufsbummel den Tod
bedeuten könnte. Hat man denn nicht alles versucht? Wollte Ehud
Barak vor fast vier Jahren nicht praktisch alle besetzten Gebiete
abtreten und halb Jerusalem dazu? Als Dank erntete Israel eine
zweite Intifada, angeheizt, oder zumindest toleriert, von Jassir
Arafat, der mit seinen – von EU-Geldern alimentierten –
Sicherheitskräften nichts gegen die Hamas unternahm.
Trotzdem: Der Jassin-Mord war keine kluge Tat, weder rechtlich noch
politisch. An den einzigen demokratischen Rechtsstaat im Nahen
Osten, auf den Israel mit gutem Grund stolz ist, darf man hohe
Ansprüche stellen. Auch wenn Jassin sein Recht auf ein freies Leben
verwirkt hatte, die Strafe, die ihm gebührte, hätten Richter, nicht
der Premierminister, festlegen müssen. Der blinde Terror-Greis war
kein Bin Laden, wie Jerusalem der Welt jetzt weiszumachen versucht.
Er sass nicht in einer Höhle im fernen Hindukusch. Jeder kannte
seine Adresse. Ein israelisches Kommando hätte den Rollstuhlfahrer
aus Gaza herausholen und der israelischen Justiz übergeben können.
Der Tod Jassins dürfte die Hamas stärken. Zu Lebzeiten war der
Scheich ein Idol, jetzt ist er ein Märtyrer. Ausserdem war er in all
seiner mörderischen Perfidie die einzige Figur, der die Organisation
führen konnte. Unter den Diadochen droht jetzt in der
palästinensischen Islamistenszene die totale Entfesselung.
Bleibt die Frage: Was hätte Israel tun sollen? Zwischen Appeasement
und Präventivschlag (extralegaler Exekution) gibt es Manövrierraum,
den Scharon nie ausgespielt hat, nie ausspielen wollte. Der alte
General vertraut niemandem mehr, er verhandelt nicht, wittert
überall Terror und schafft nur noch Fakten: Mauerbau und
Exekutionen. Die Quintessenz dieser Logik ist der Abschied ins
Hochsicherheitsgetto.
(c) 2004 by Die Weltwoche, Zürich -
www.weltwoche.ch
Jassin war der wichtigste Geldbeschaffer:
Spenden für den
Krieg
Der getötete Scheich Ahmed Jassin pflegte für die
Hamas Beziehungen zu Staatsoberhäuptern und Würdenträgern...
Siehe auch:
Weitere
Berichterstattung und Kommentare in Deutschland
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24-03-2004 |