David Grossman, Mai 2003, aus
Diesen Krieg kann keiner gewinnen
Direkt nach dem Ende des Golfkrieges richtet die US-Regierung nun
ihre Aufmerksamkeit auf die Erneuerung des Friedensprozesses im
Nahen Osten. Colin Powell wurde in die Region geschickt, um eine
Wiederaufnahme der Verhandlungen in Gang zu setzen. Und die
Palästinenser institutionalisierten die ersten Schritte in Richtung
einer politischen und verwaltungstechnischen Reform, indem sie
Mahmoud Abbas (bekannt als Abu Mäzen), einen der Architekten des
Osloer Abkommens, zum ersten palästinensischen Ministerpräsidenten
bestimmten. Von den Führungskräften Israels und Palästinas erwartet
man nun ein entschlossenes Handeln zur Lösung des Konflikts.
Der amerikanische Außenminister Colin Powell hat den Nahen Osten
besucht, die Führer Israels und der Palästinensischen
Autonomiebehörde getroffen und ist ohne politischen Erfolg wieder
abgereist. Israel hat zwar einige kleinere Gesten gemacht, sich aber
nicht auf den »Fahrplan« verpflichtet. Scharon wies das
amerikanische Ersuchen um Siedlungsstopp zurück, erklärte Powell,
der weitere Siedlungsausbau sei wegen des natürlichen
Bevölkerungszuwachses der Siedler notwendig, und er sprach das
republikanische Herz des Gastes mit der Frage an: »Sollen die
Siedlerinnen denn Abtreibungen vornehmen?«
Auch nach Powells Nahostbesuch schweben viele weitere Fragen im
Raum, und sie alle gehen eigentlich auf ein und dieselbe Hauptfrage
zurück: Was will Ariel Scharon wirklich tun?
Scharon erklärt schon seit über einem Jahr, Israel sei bereit,
»schmerzhafte Schritte« zu unternehmen, um dauerhaften Frieden mit
den Palästinensern zu erreichen. Er redet sogar von einem Prozeß,
der letztendlich zur Aufhebung der Besatzung und zu einem eigenen
Palästinenserstaat führen solle. Das sind ermutigende Versprechungen
aus dem Mund eines Mannes, der früher jeden, der solche Vorschläge
äußerte, als »Verräter« bezeichnet hat.
Spricht er die Wahrheit? Veranstaltet er Täuschungsmanöver, wie
schon so manches Mal? Macht er großzügige Versprechungen, in der
Annahme, sich immer auf den palästinensischen Terror »verlassen« zu
können, der jeden Dialog verhindern oder zumindest einen guten
Vorwand für einen Dialogabbruch liefern werde?
Scharons Versprechungen sind hoffnungserregend - bis man seine
Vorbedingungen für ihre Erfüllung unter die Lupe nimmt: Die
Palästinenser müssen den Terror vollständig einstellen, alle
entsprechenden Organisationen entwaffnen und auf ihre Forderung nach
dem »Rückkehrrecht« verzichten — all das noch vor Aufnahme der
Verhandlungen mit ihnen.
Auf der prinzipiellen Ebene haben Scharons Forderungen ihre Logik
und Berechtigung. Aber sie werden nicht dadurch ihrer Erfüllung
nähergebracht, daß man sie als ultimative Vorbedingung für die
Eröffnung des Prozesses aufstellt. Im Gegenteil, sie als
Vorbedingung für die Verhandlungen aufzustellen bietet Garantie
dafür, daß der Prozeß gar nicht erst in Gang kommt, daß der Terror
weitergeht, daß die resignierten Palästinenser ihre Haltung noch
weiter verschärfen, auch in bezug auf das »Rückkehrrecht«.
Allen ist klar, daß der Verzicht auf die Durchsetzung des
»Rückkehrrechts« der schwerste und schmerzhafteste Schritt auf
palästinensischer Seite ist. Führende Palästinenser, mit denen ich
letzthin gesprochen habe, sagten mir, man wisse mittlerweile, daß
die Bestrebungen palästinensischer Flüchtlinge, ihre heute auf
israelischem Staatsgebiet liegenden Häuser wieder zu beziehen,
letzten Endes aufgegeben werden müßten. Doch sie könnten ihrem Volk
diesen Verzicht nur dann abverlangen, wenn sie im Gegenzug
Verhandlungserfolge und wirkliche israelische Kompromißleistungen
vorweisen könnten. »Ein Palästinenserführer, der dumm genug wäre,
den Verzicht auf das "Rückkehrrecht" als Vorbedingung für die
Verhandlungen mit Israel anzubieten, wäre umgehend ein toter Mann«,
sagte mir kürzlich ein Regierungsmitglied Abu Masens.
Auch Scharons andere Bedingung, über die Pflicht der
Autonomiebehörde zur Terrorbekämpfung, ist praktisch und moralisch
berechtigt. Nur wird doch keiner - weder Israeli noch Palästinenser
- ernsthaft glauben, daß Abu Masen, mit seinen schwachen Kräften,
heute fähig ist, den Terror auszurotten oder auch nur wirkungsvoll
zu bekämpfen. In den letzten drei Jahren hat Israel äußerst
umfangreiche und effektive Maßnahmen zur Terrorbekämpfung
unternommen und dabei genau die palästinensischen Regierungs- und
Sicherheitsapparate zerschlagen, die jetzt den Terror stoppen
sollen. Mehr noch: Abu Masen weiß sehr wohl, daß er nun mit nie
dagewesener Härte gegen die militanten Kräfte von Hamas und Dschihad
vorgehen muß. Doch er ist schier ausweglos zwischen widerstreitenden
Zwängen, Erwartungen und Drohungen von innen und außen eingekeilt:
Bekämpft er mit allen Mitteln die Hamas, verliert er die
Unterstützung seines Volkes (nach der letzten Meinungsumfrage in
Gaza liegt die Hamas in etwa gleichauf mit der Fatah, der
politischen und militärischen Führungskraft der Autonomiebehörde);
bekämpft er die Hamas nicht, verliert er die amerikanische und
europäische Unterstützung.
Außerdem: Kämpft er, könnte ein palästinensischer Bruderkrieg
ausbrechen, und dann stiege auch die palästinensische Unterstützung
für Jassir Arafat, der auf Abu Masens Scheitern lauert; kämpft er
nicht und es kommt zu Terroranschlägen, hat Israel einen guten
Vorwand, die Verhandlungen ganz zu unterlassen...
Kein Zweifel: Die Schlüssel für den Antrieb des Prozesses liegen
nicht in Händen von Abu Mäzen und offenbar auch nicht in Händen von
Präsident Bush, der Scharon notgedrungen unterstützen müßte, wenn
die Palästinenser sich als unfähig erweisen sollten, die strengen -
und wie gesagt aussichtslosen - Forderungen hinsichtlich der
Terrorbekämpfung zu erfüllen. Die Europäer im Quartett haben nur
geringen Einfluß auf Scharon, und Deutschland wird ohnehin — aus
historischen Gründen - jeden massiven wirtschaftlichen Druck auf
Israel vermeiden müssen.
So sind wir denn wieder bei Scharon und der einen wesentlichen
Frage, um die sich in der heutigen Situation alles dreht: Meint es
Scharon mit seinen Versprechungen ernst? Sagt er die Wahrheit, wenn
er von günstigen Gelegenheiten und der Verpflichtung auf Präsident
Bushs Version spricht?
Erstaunlich, wieviel jetzt von einem einzigen Mann abhängt. Nicht
weniger erstaunlich ist es, zu wissen, daß Scharon, falls er sich
entschlösse, tatsächlich den Weg des Kompromisses und der
ernsthaften vertrauensbildenden Schritte einzuschlagen, laut
Meinungsumfragen die Mehrheit der Israelis hinter sich hätte.
Wird er es tun?
Nicht wenige Israelis meinen, Scharon mache nur den Amerikanern -
und eigentlich der ganzen Welt - etwas vor, hoffe, Zeit zu gewinnen,
und schöpfe Ermutigung daraus, daß die Ereignisse letzthin, wie er
meint, zu seinen Gunsten verlaufen. Andere, optimistischere
Zeitgenossen erinnern an die Wandlung, die Jitzhak Rabin im Alter
durchgemacht hat, und sagen, Scharon werde alles tun, um in die
Geschichte einzugehen. Es fällt schwer, echten Trost aus dieser
Hoffnung zu schöpfen — nicht nur, weil Scharon nicht Rabin ist und
seine Aversion gegen Araber weit tiefgehender und sogar
»mythologischer« erscheint, sondern auch, weil nicht ganz klar ist,
in welche »Geschichte« Scharon denn eingehen möchte, ob er wirklich
als derjenige in Erinnerung bleiben will, der mit eigenen Händen den
Palästinenserstaat errichtet und die Siedlungen geräumt hat, die in
vieler Hinsicht sein Lebenswerk sind.
Wäre vor etwa einem Jahr ein Engel vom Himmel herabgeschwebt und
hätte den Israelis schlaglichtartig das Bild der gegenwärtigen Lage
gezeigt - das heißt, eine Situation, in der der Irak keine Bedrohung
für Israel mehr darstellt; Syrien eingeschüchtert ist und
verspricht, die unter seiner Ägide arbeitenden Terrororganisationen
zu zügeln; Jassir Arafat praktisch seiner Regierungsmacht und
Einflussmöglichkeit entkleidet ist; der amtierende palästinensische
Regierungschef den Terror gegen Israel mit scharfen Worten
verurteilt und Israels wichtigster Militärnachbar heute die USA (!)
sind -, hätten die Israelis gedacht, der Messias sei angekommen.
Aber das ist die neue Realität, und man muss sie zu lesen wissen,
um auf das Kommende gefasst zu sein. Ariel Scharon könnte gerade
eine Bestärkung für seine politische Sturheit und Widerspenstigkeit
herauslesen. Wenn er das tut, wenn er wirklich die rare Gelegenheit
verstreichen lässt, endlich den israelisch-palästinensischen
Konflikt zu lösen (unter durchaus günstigen Bedingungen für Israel),
wenn er weiter mit einer Hartnäckigkeit vorgeht, die ein gerüttelt
Maß an Überheblichkeit enthält, wäre das ein politisch und
historisch verantwortungsloser Akt, der die Abneigung gegen Israel
in der Region und in der Welt erhöhen und den Zustand des Krieges,
ohne Aussicht auf ein normales Leben, verewigen würde.
Wird er es tun?
Quo vadis, Scharon?
Quo vadis, Israel?
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Blut an den Händen:
Und wenn Israel
Arafat tatsächlich anrühren sollte?
Richtig, Arafat hat Blut an den Händen. Aber auch
Sharon. Es gibt heute auf beiden Seiten kaum Politiker, die kein
Blut an den Händen haben...
Die starke Anziehungskraft
des Hasses und der Rachsucht:
Diesen Krieg kann
keiner gewinnen
Lärm. Lärm ist das erste Wort, das mir einfällt, wenn
ich an die letzten zehn Jahre denke. Fürchterlicher Lärm...
David
Grossman hat den israelisch-palästinensischen Konflikt seit Jahren
mit kritischen Kommentaren begleitet. Seine persönliche Chronik der
politischen Ereignisse seit dem Osloer Abkommen gibt einen Überblick
über die Situation, zeigt die Argumente der Palästinenser und
Israelis und liefert zugleich einen Einblick in das alltägliche
Leben der Menschen unter dem Einfluss des Terrors.
"Die Fronten verlaufen nicht
zwischen Israelis und Palästinensern, sondern zwischen denen, die
nicht bereit sind, sich mit der Verzweiflung abzufinden, und denen,
die sie in eine Lebensform verwandeln wollen".