Israels sicherer Weg in die Armut:
Die Not im Schatten des Krieges
Streikende Rabbiner,
fehlende Bürgersteige, Fußballstadien ohne Rasen -
Der Kampf gegen die Intifada ist so teuer, dass der Staat seine
Angestellten kaum noch bezahlen kann
Von Thorsten Schmitz
Mitzpe Ramon - Sonja Orlev ist 45 Jahre alt und
arbeitet in der Küche eines staatlichen Kindergartens in der
israelischen Wüstenstadt Mitzpe Ramon. An fünf Tagen in der Woche
bereitet sie Frühstück und Mittagessen zusammen mit einer Kollegin
für 21 hungrige Kinder. Sie selber hat einen zwölfjährigen Sohn und
eine 14-jährige Tochter, die in die Schule gehen. Sonja Orlev ist
geschieden, seit drei Jahren lebt sie mit den Kindern allein, das
Einkommen ist mager, 600 Euro monatlich.
Um ihren Kindern wenigstens einen Kinobesuch zu
ermöglichen, flickt die Mutter nach der Arbeit löchrige Blusen und
Hosen ihrer Nachbarn. Bislang kam Orlev damit über die Runden, seit
drei Monaten jedoch kann sie nachts nicht mehr schlafen. Die
Stadtverwaltung hat ihr seit Juni keinen Lohn mehr überwiesen.
"Meine Eltern schießen mir jetzt Geld zu", sagt sie. Das wenige
Ersparte habe sie längst aufgebraucht, und zum jüdischen
Neujahrsfest vor einer Woche gab es diesmal keine Geschenke.
Die Schlagzeilen über den Nahost-Konflikt drängen
eine Not an den Rand: Die steigende Armut, von der längst auch die
Mittelschicht betroffen ist. Im Kampf gegen die palästinensische
Intifada gibt Israel Hunderte Millionen Dollar für die Sicherheit
aus. Um die Mehrausgaben im Verteidigungshaushalt zu decken, kürzt
Finanzminister Benjamin Netanjahu rigoros, auch bei den Kommunen.
Selbst Gehälter werden einbehalten.
Der Zorn der Araber
Der Bürgermeister von Sachnin, Mohammed Baschir,
sitzt an seinem Schreibtisch, rückt die Brille zurecht und zieht die
Schultern hoch: "Ich kann meine Angestellten nicht mehr bezahlen.
Ich habe kein Geld mehr." Dass Sachnin der Geldhahn abgedreht wurde,
macht sich allerorts in der 25 000 Einwohner zählenden arabischen
Stadt im Norden Israels bemerkbar. Bürgersteige fehlen oder wurden
nie fertiggestellt, in der Hauptstraße lauern Schlaglöcher, in den
Schulen teilen sich bis zu 40 Kinder einen Lehrer. Im Stadion für
die Fußballmannschaft Bnei Sachnin gibt es nicht mal einen Rasen,
geschweige denn Umkleidekabinen für die Kicker, die doch den
israelischen Landespokal gewannen und sich so für die Teilnahme am
Uefa-Cup qualifizierten. Der Verein muss deshalb auf Leihstadien
ausweichen.
Bürgermeister Baschir sagt, er habe eine kaputt
gewirtschaftete Stadtverwaltung von seinem Amtsvorgänger übernommen,
aber er macht auch die Regierung in Jerusalem für das Defizit
verantwortlich. Der jüdische Staat pumpe einfach weniger Geld in
arabische Städte. Sachnin habe keine ausgewiesenen Industriezonen,
in denen sich große Firmen niederlassen, weshalb Sachnin hohe
Steuereinnahmen fehlten. Immer wieder müsse er sich von den eigenen
Angestellten fragen lassen, wie sie ohne Einkommen über die Runden
kommen sollen. Der Sprecher der Vereinigung arabischer Kommunen,
Abed Inbitawi, sagt, die Defizite der arabischen Kommunen, die sich
auf etwa 500 Millionen Euro beliefen, seien auch darauf
zurückzuführen, "dass wir von Israel diskriminiert werden und
weniger Geld erhalten als jüdische Kommunen".
Jakov Pekcha ist Rabbiner und arbeitet im
Religiösen Rat (Rabbanut) in Petach Tikva nahe Tel Aviv. Sein
Aufgabenbereich umfasst Hochzeiten, Beerdigungen und das Überwachen
von koscheren Schlachtungen. In Israel werden nur von Rabbinern
vollzogene Hochzeiten anerkannt, auch Beerdigungen werden von
staatlich angestellten Rabbinern vollzogen. Doch Jakov Pekcha sowie
7000 staatliche Rabbiner verweigerten am vorigen Sonntag für einige
Tage den Dienst; Tote wurden nicht beerdigt, Fleischhändler
vermeldeten einen Mangel an koscherem Rindfleisch, und vielerorts
wurden Hochzeiten abgesagt, weil kein Rabbiner für Trauungen
aufgetrieben werden konnte und auch das Erscheinen der
Hochzeitsgäste angesichts des landesweiten Streiks nicht gesichert
war. Auch die Rabbanute haben seit Monaten keine Gehälter zahlen
können. Rund 70 Millionen Dollar schulde der Staat seinen Rabbinern
an Löhnen, sagt Pekcha. Manche Rabbiner ernährten ihre kinderreichen
Familien, indem sie Kredite aufnähmen. Andere hätten mit Tränen in
den Augen gesagt, ihre Kühlschränke seien leer.
Die drei Beispiele illustrieren eine Not im
jüdischen Staat, die inzwischen deutlich sichtbar ist: Immer mehr
arme Menschen betteln in den Großstädten, suchen in Abfalleimern
nach Essbarem. Nach neuesten Erhebungen der Regierung leben 450 000
Familien unterhalb des Existenzminimums. Alle paar Monate vollzieht
sich in Israel daher dasselbe Schauspiel: Der mächtige
Gewerkschaftsdachverband Histadrut legt das Land lahm. Am Dienstag
stellten hunderttausende Angestellte von See- und Flughäfen ihre
Arbeit ein, Angestellte der Bahn, der Telefongesellschaft Besek, der
Wasserwerke Mekorot, sämtlicher Behörden sowie der Post,
Krankenhäuser und Gerichte.
Diesmal allerdings ging es nicht darum, dass die
Histadrut Lohnerhöhungen verlangt und einen Stopp der
Privatisierungen. Sie will, dass überhaupt Löhne ausgezahlt werden.
Etwa 20 000 Angestellte des öffentlichen Dienstes in 57 Kommunen
haben zum Teil seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten und deshalb
ihre Ersparnisse angebrochen.
Der Chef von Histadrut, Amir Peretz, erklärte
Israel zum "Drittwelt-Land", in dem der Staat seine Angestellten
verhungern lasse. Am Mittwoch wurde der Arbeitskampf auf Beschluss
des Arbeitsgerichts zunächst für beendet erklärt. Das salomonische
Urteil lautete: Alle Arbeiter, von denen die meisten nur aus
Solidarität mit den 20 000 Kommunalangestellten mitgestreikt hatten,
mussten an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Der Staat muss dafür die
ausstehenden Gehälter noch vor Beginn des Laubhüttenfestes in der
nächsten Woche auszahlen.
Alles bleibt im Dunkeln
Dass die Löhne einbehalten wurden, ist nach
Ansicht von Finanzminister Netanjahu, der die israelische Wirtschaft
auf neoliberale Art sanieren will, allein die Schuld der Kommunen.
Bürgermeister kleinerer Kommunen hätten im Laufe ihrer Amtszeit
zudem ein System der Vetternwirtschaft errichtet, in denen Verwandte
und Bekannte Stellvertreter-Posten zugeschachert bekommen haben
sollen oder sichere Jobs in der Stadtverwaltung, ohne ausreichende
Erfahrung zu haben. Die Kommunen hätten zudem jahrzehntelang
Misswirtschaft betrieben und bei leeren Kassen stets auf
Ausgleichszahlungen des Staates spekuliert.
Ein Sanierungskonzept aus dem Finanzministerium,
dem sich die hoch verschuldeten Kommunen nun verpflichten müssen,
sieht drastische Einsparungen vor. Geplant ist ein massiver
Stellenabbau, Angestellte sollen sich wie der private Sektor an
ihrer Alterssicherung beteiligen, zudem sind generelle Lohnkürzungen
vorgesehen. Der Gewerkschaftsdachverband Histadrut lehnte den Plan
als sozial ungerecht ab und droht trotz des Streikendes mit weiteren
Arbeitskämpfen - zusätzlich mit "ungewöhnlichen Streikmethoden". Es
sollen nun nicht, wie bisher bei jedem Streik, Passämter geschlossen
und die Müllentsorgung ausgesetzt werden, sondern auch ganze
Straßenzüge und Städte im Dunkeln bleiben. Bereits zu Beginn des
Jahres hatten die Kommunen für Stunden nachts alle Straßenlaternen
ausgeschaltet. Dies hatte dem Streik zu einem größeren Medienecho
verholfen, aber auch zu negativen Schlagzeilen. Zwei Passanten
wurden in den pechschwarzen Nächten von Autofahrern übersehen - und
überfahren.
Wie Israel immer ärmer wird:
Die zwanzig Plagen und
die Intifada
hagalil.com
27-09-04 |