Wie Israel immer ärmer wird:
Die zwanzig Plagen und die Intifada
Am 15. September hat die
israelische Regierung einen Haushalt verabschiedet, der auf der
einen Seite hohe Ausgaben für Verteidigung, Siedlungsbau und den Bau
der Grenzmauer vorsieht, auf der anderen Seite die bereits knappen
Sozialausgaben noch weiter herunterfahren wird. Israel steckt
derzeit in der schwersten Wirtschaftskrise seit 1953. Wenn das Land
immer mehr Ressourcen in den ebenso kostspieligen wie aussichtslosen
Konflikt mit den Palästinensern investiert, wird für die Belange
seiner Bürger eben immer weniger übrig bleiben.
Von Joseph Algazy
Journalist bei Haaretz, Jerusalem
In einer Hauptstraße Jerusalems, an der wichtige
Ministerien liegen, kommen Minister, Beamte, Besucher und Passanten
seit dem Frühsommer jeden Tag an einer beeindruckenden Reihe von
Zelten vorbei. Dort wohnen Frauen, Männer und Kinder: allein
erziehende Mütter, Wohnungs- und Arbeitslose - Opfer der unsozialen
Maßnahmen der Scharon-Regierung.
Die Initiatorin dieser Bewegung, Vicky Knafo, ist 43
Jahre alt und geschieden. Mit den 1 200 Schekel (240 Euro), die sie
als Teilzeitköchin in einer Kinderkrippe verdient, sorgt sie allein
für ihre drei Kinder. Bis Juli erhielt sie zusätzlich 2 700 Schekel
(540 Euro) im Monat von der Sozialversicherung, womit sie auf das
gesetzlich festgelegte Mindesteinkommen kam. Durch die Sparmaßnahmen
der Regierung wurde diese Beihilfe um 1 200 Schekel
zusammengestrichen.
Vicky Knafo verließ Anfang Juli ihr Haus in Mitspeh
Ramon im Negev und machte sich zu Fuß auf den 200 Kilometer langen
Weg nach Jerusalem. Sie brauchte eine Woche. Andere folgten ihr,
manche in Begleitung ihrer Kinder. Ben Abraham, 59, hat keine
Wohnung, aber einen kleinen Hund. Auf seinem T-Shirt steht: "Der
Hund hat seine Hütte, und was habe ich?". Wann immer die
Protestierenden einen der Minister sprechen wollen, halten die
Ordnungskräfte sie nötigenfalls mit Gewalt zurück. Ganz in der Nähe
haben auch Beduinen aus dem Negev ihr Zelt aufgeschlagen: Sie
protestieren gegen die systematische Zerstörung ihrer Behausungen,
die sie aus ihrem angestammten Lebensraum vertreibt und zu einem
Dasein in Elendsvierteln zwingt - manche sprechen schon von
"Reservaten".
Der Campingplatz der Arbeits- und Wohnungslosen in
Tel Aviv erlebt am 18. August seinen ersten Jahrestag. Er liegt in
einem wohlhabenden Viertel der Hauptstadt: auf dem Kikar Medina
(Platz des Staates), neuerdings umgetauft in Kikar Halehem (Platz
des Brotes). Auch dort wohnen ein paar dutzend Menschen mit ihren
Kindern in alten Autobussen und Zelten. Alle Versuche von
Stadtverwaltung und Eigentümern, die Leute wieder zu vertreiben,
sind bislang gescheitert. "Wir haben uns diesen Platz natürlich
nicht umsonst ausgesucht: Der Gegensatz zwischen unserem armseligen
Zeltlager und den Luxusboutiquen und prächtigen Wohnhäusern hier im
Viertel zeigt, wie die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer
wird", erklärt der 38-jährige Israel Twito. Er ist geschieden und
sorgt allein für seine drei Töchter.
(Anmerkung Redaktion haGalil: Der Kikar haLechem
wurde vergangene Woche geräumt, reichlich Sicherheitspersonal rund
um den Platz soll dafür sorgen, dass der Platz leer bleibt.)
Protestaktionen wie diese veranschaulichen die
schwere Wirtschaftskrise, in die Israel geraten ist. Zwischen 1992
und 1995 erreichte das Wachstum dank der Oslo-Verträge und der
Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion jährlich gut 7 Prozent,
seitdem ist es ständig zurückgegangen. Die zweite Intifada hat eine
tiefe Rezession ausgelöst: Im zweiten Halbjahr 2001 ging das
Bruttosozialprodukt pro Kopf um 6,7 Prozent zurück, im ersten
Halbjahr 2002 um 2,1 Prozent, im zweiten Halbjahr 2002 um 1,3
Prozent und im ersten Halbjahr 2003 um 0,7 Prozent.(1)
Im ersten Halbjahr 2003 ist auch die
Industrieproduktion um 1,1 Prozent geschrumpft. Selbst die
Hightech-Produktion ging im Mai und Juni um 8 Prozent zurück. Der
private Konsum pro Kopf verringerte sich im ersten Halbjahr 2003 um
2,1 Prozent (nach 2,1 Prozent im ersten und 2,8 Prozent im zweiten
Halbjahr 2002).
Bei der Haushaltsdebatte Ende August prognostizierte
das von Benjamin Netanjahu geleitete Finanzministerium für das Jahr
2004 ein Wachstum von 2,5 Prozent, einen Rückgang der öffentlichen
Ausgaben um 2,9 Prozent, eine Rekordarbeitslosigkeit von 11,2
Prozent, eine Verringerung der Reallöhne um 4 Prozent im staatlichen
Sektor und um 2,3 Prozent im Privatsektor sowie eine Inflation von
1,1 bis 1,2 Prozent. Kommentar des früheren Finanzministers und
Abgeordneten der Arbeitspartei, Abraham Schohat: "Von einer
ökonomischen Wende zu sprechen wäre blanker Unsinn. Ohne eine
politische Wende im Nahen Osten wird es weder ausländische noch
israelische Investitionen geben. Nur ein Prozess, der die
Auseinandersetzungen mit den Palästinensern entschärft, kann für
2004 eine Wachstumsrate von 2,5 Prozent sichern."(2) Im Juli lag die
Zahl der registrierten Arbeitslosen bei über 220 000, das waren 14
000 mehr als im Juni. In 34 Gemeinden (29 arabischen und 5
jüdischen) übersteigt die Arbeitslosenquote 10 Prozent. Besserung
ist nicht in Sicht: Kurz vor Beginn des Schuljahres wurden tausende
Lehrer entlassen. Und in den kommenden Monaten werden tausende
Beamte ihre Stelle verlieren oder in den Vorruhestand geschickt.
Nach Aussage des Finanzministeriums wird es im
kommenden Jahr 300 000 registrierte Arbeitslose geben. Ungezählt
bleiben dabei noch alle, die durch die Statistiken nicht erfasst
werden - und die Regierung hat bereits angekündigt, die Zahl der
Anspruchsberechtigten weiter zu reduzieren. Jugendliche unter 25
verlieren beispielsweise ihren Status als Arbeitslose, wenn sie sich
nicht einmal täglich bei den Arbeitsämtern melden. Ziel dieser
Maßnahme ist, dass israelische Arbeitslose über kurz oder lang die
200 000 bis 250 000 Arbeitsimmigranten ablösen. Mehr als 50 000
dieser Arbeitsimmigranten hat die israelische Polizei bereits
ausgewiesen. Sie arbeiteten oft bis zu 14 Stunden am Tag und sieben
Tage in der Woche für einen Monatslohn von 500 bis 600 Dollar - eine
moderne Form der Sklaverei, der sich kaum ein Israeli unterwerfen
will.
Das in diesem Jahr in Kraft getretene
"Sanierungsprogramm für die israelische Wirtschaft" enthält tiefe
Einschnitte in das Sozialbudget von Staat und Gemeinden. Zusätzlich
zu den unsozialen Maßnahmen vorangegangener Jahre haben die neuen
Angriffe gegen den "Wohlfahrtsstaat" vor allem die ärmsten Schichten
getroffen. Aber inzwischen bleibt auch die Mittelschicht nicht mehr
verschont.
So wurde das Arbeitslosengeld reduziert und an
schärfere Bedingungen geknüpft. Das Gleiche gilt für das Mütter- und
Familiengeld sowie für Hilfen an Menschen, die weniger als das
Mindesteinkommen verdienen oder Opfer von Arbeitsunfällen wurden.
Mit der neuerlichen Reduzierung des Familiengeldes geraten weitere
11 000 Familien unter die Armutsgrenze - was inzwischen für jeden
fünften Israeli, das heißt für 1,17 Millionen Menschen gilt. In
ihrem Zynismus behaupten die Sprecher des Finanzministeriums, die
Verringerung der verschiedenen Sozialleistungen werde deren
Empfänger zwingen, nicht länger auf Kosten des Staates zu leben und
endlich arbeiten zu gehen. Damit verkennen sie die Realität der sich
ständig ausbreitenden Arbeitslosigkeit: Zahlreiche Betriebe müssen
schließen und der Regierung gelingt es nicht, Arbeitsplätze zu
schaffen, sie tut vielmehr alles, um noch welche einzusparen.
Die Rentenbezüge sind auf dem Niveau von Januar 2001
eingefroren, die Invalidenrente wird bis 2006 nicht erhöht. Der
Staat hat die Budgets für Gesundheit und Erziehung sowie für
Ausbildung reduziert, also Patienten, Schüler und Studenten mit
höheren Kosten belastet. Auch die Baukredite wurden zurückgefahren,
wodurch junge Familien, die neuen olim (Einwanderer) und die
Wohnungslosen gezwungen sind, sich an private Kreditinstitute zu
wenden. Die Rentenreform setzt ab Oktober 2003 höhere
Arbeitnehmerbeiträge und eine geringere Rente fest. Ab Januar 2004
wird das Rentenalter der Männer schrittweise von 65 auf 67 Jahre und
das der Frauen von 60 auf 67 Jahre erhöht.
Es trifft die Kinder und Familien
Jitzhak Kadman, der Vorsitzende des Nationalen Rats
für das Kind, vergleicht den "Sanierungsplan" mit den zehn Plagen im
Alten Testament, die Ägypten heimsuchten, ehe Moses und sein Volk
ziehen durften: "Er trifft die Kinder und Familien mit Kindern wie
zwanzig üble Plagen."(3 )
"Eine Million Israelis haben Hunger" lautete am 28.
August die Schlagzeile von Jediot Aharonot. Wissenschaftler des
Instituts Brookdale, das mit dem Gesundheitsministerium
zusammenarbeitet, hatten schon Anfang 2003 ermittelt, dass 400 000
Familien, also 22 Prozent der Bevölkerung, unter "unzureichender
Ernährung" litten. Die Betroffenen müssen natürlich nicht hungern,
aber sie sind nicht immer in der Lage, die Nahrungsmittel zu kaufen,
die ihre Kinder gerade brauchen, um sich angemessen zu entwickeln.
Manche bekommen zu kleine Portionen, andere überspringen Mahlzeiten
oder essen in Extremfällen einen ganzen Tag lang nichts. Bei ihren
Mahlzeiten verzichten sie je nachdem auf Fleisch, Milchprodukte,
Gemüse oder Obst. Vier von fünf betroffenen Familien erklären, ihre
Situation habe sich in den letzten beiden Jahren durch die
angespannte wirtschaftliche Lage verschlechtert. 5 Prozent räumen
ein, Nahrungsmittelhilfen von Volksküchen oder
Wohltätigkeitseinrichtungen in Anspruch zu nehmen. Nach einer
Untersuchung der Hilfsorganisation Latet (Geben) ist die Anzahl der
Israelis, die Unterstützung für Lebensmittel beantragt haben, in
einem Jahr um 46 Prozent gestiegen. Hauptantragsteller sind
Alleinerziehende und kinderreiche Familien.
Etwa gleichzeitig gaben einige Banken ihre Gewinne
bekannt - und die Öffentlichkeit war schockiert. Hapoalim, die
größte Bank Israels, verzeichnet für das zweite Quartal 2003 einen
Nettogewinn von 335 Millionen Schekel (67 Millionen Euro), eine
Steigerung um 59 Prozent. Bei der Discount Bank erreicht der
Nettogewinn im selben Zeitraum 116 Millionen Schekel (23 Millionen
Euro), das sind 36,5 Prozent mehr als 2002. Die fünf Großbanken
Hapoalim, Leumi, Discount, Hamizrahi und BenLeoumi machten im ersten
Halbjahr 2003 zusammen einen Nettogewinn von 1,4 Milliarden Schekel
(280 Millionen Euro), eine Steigerung um 130 Prozent gegenüber dem
ersten Halbjahr 2002.
"Für die wirtschaftliche und soziale Krise sind zwei
Faktoren verantwortlich: einerseits Krieg, Besatzung und
Siedlungspolitik und andererseits die neoliberale Wirtschaftspolitik
unserer Regierung", fasst die frühere kommunistische Abgeordnete
Tamar Gujanski zusammen. Das Zusammenwirken dieser beiden Faktoren
"ist katastrophal. Während die Militärausgaben und die Kosten der
Siedlungspolitik gigantisch, aber unantastbar sind, schrumpfen die
Sozialbudgets immer weiter zusammen. Demgegenüber sehen wir ständig
steigende Profite der Banken wie auch der Börse. Diese Regierung
verschärft die Politik ihrer Vorgänger: Sie macht das Gleiche, nur
noch mehr davon."
Mehr vor allem im Hinblick auf soziale Ungleichheit,
wie die Soziologen Barbara und Schlomo Swirsky unterstreichen, die
das Adva-Zentrum leiten: "Wenn wegen angeblich leerer Staatskassen
das Sozialsystem abgebaut wird, dann spiegelt sich darin eine
Veränderung unserer Werte wieder. Die wohlhabenden Israelis, die die
Fäden in der Hand haben, praktizieren Sozialdarwinismus: Die Starken
sind die Würdigen, weil sie stark sind; wer schwächer wird, aus
welchem Grund auch immer, wird sich ohnehin nicht mehr lange auf den
Beinen halten, also gibt es keinen Grund, in ihn zu investieren -
Fazit: Die Schwachen sind nichts nütze." In diesem Sinne, meinen die
Soziologen, "haben unsere Regierungen während dieser Jahre der so
genannten Armut des Staates viel Geld ausgegeben, um die
Kapitalisten von Steuern zu befreien, um übermäßige Militärausgaben
und die Siedlungen zu finanzieren und um den hohen Staatsbeamten
ihre satten Gehälter zu sichern".
Bei einem Besuch auf dem Markt Ha-Carmel in Tel Aviv
fragt Vicky Knafo: "Es ist doch Geld für die mitnahlim [die
jüdischen Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten] da,
warum sollte dann für staatliche Sozialleistungen keines da sein?"
So einleuchtend ihre Argumentation auch sein mag, den allein
stehenden Frauen wie den anderen protestierenden Gruppen ist es
nicht gelungen, eine Massenbewegung anzustoßen.
Woran mag das liegen? Tamar Gujanski erklärt: "Die
Bewegung von Vicky Knafo ist zwar sehr glaubwürdig, wird aber die
breite Bevölkerung kaum für sich gewinnen. Dafür bräuchte sie die
aktive Unterstützung der Oppositionsparteien, darunter Arbeitspartei
und Schas, und des Gewerkschaftsverbandes Histadrut, und die hat sie
nicht. Zwar profitiert die Bewegung von einer gewissen
Frauensolidarität und auch von der einen oder anderen
jüdisch-arabischen Initiative, aber das reicht nicht." Dabei ist
doch ein großer Teil der Bevölkerung gegen die unsozialen Maßnahmen
der Regierung? "Ja, aber dieselben Menschen unterstützten den Kurs
der Regierung, weil die politische Gesamtsituation so dramatisch
ist."
Der Soziologe Schlomo Swirsky teilt diese
Einschätzung: "Der ständige Kampf des Tsahal in den besetzten
Gebieten und die terroristischen Attentate von Palästinensern
blockieren jede Entwicklung einer größeren gesellschaftlichen
Bewegung." Der Abgeordnete und ehemalige Finanzminister Abraham
Schohat sagt im Grunde nichts anderes: "Das israelische Volk muss
wissen: Wenn der Konflikt mit den Palästinensern so weitergeht,
werden wir am Ende ein armes Land sein, das immer weniger Geld für
seine Bürger und für soziale Leistungen haben wird. Unser Land
steuert auf den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch zu, wenn
es sich immer tiefer in den Konflikt um seine eigene Sicherheit
verstrickt. Wer etwas anderes behauptet, der weiß nicht, wovon er
redet."
Deutsch von Claudia Steinitz
siehe auch M.Weinberg
im Forum
Fußnoten:
(1) Diese und die folgenden Statistiken wurden von Haaretz, Jedioth
Aharonot oder Maariv in der zweiten Augusthälfte 2003
veröffentlicht.
(2) Haaretz, englische Version, 28. August 2003.
(3) Broschüre, publiziert in Jersualem, April 2003.
hagalil.com
13-10-2003 |