EINE GANZ BESONDERE BEZIEHUNG:
Wie Israel zur Bombe kam
Vor achtzehn Jahren wurde Mordechai Vanunu, ein
israelischer Staatsbürger marokkanischer Herkunft, in Rom entführt
und in Israel vor Gericht gestellt. Angeklagt wurde er damals des
Verrats von Staatsgeheimnissen. Denn Vanunu, der im südisraelischen
Dimona in der Negevwüste in einer Nuklearfabrik arbeitete, hatte in
der Londoner "Sunday Times" berichtet, Israel besitze 200
Atombomben. Darüber aber wollte Israel noch nie in der
Öffentlichkeit reden. Schon Kennedy scheiterte an Ben Gurion, der
keine Waffeninspekteure in Israels geheimster Anlage dulden wollte.
Von
AMOS ELON *
* Israelischer Schriftsteller,
zuletzt erschien auf Deutsch "Zu einer anderen Zeit. Porträt der
jüdisch-deutschen Epoche (1743-1933)", München (Hanser) 2003.
IMMER
wieder ist zu hören, die Allianz zwischen den USA und Israel habe
erst nach dem Krieg von 1967 begonnen, also in der Amtszeit von
US-Präsident Johnson. Tatsächlich kam Johnson der Sieg, den Israel
in nur sechs Tagen über die beiden sowjetische Klientelstaaten
Syrien und Ägypten errungen hatte, sehr zupass, weshalb er Israel in
der Folgezeit eine beispiellose politische, wirtschaftliche und
militärische Unterstützung gewährte. Ein positiver Nebeneffekt des
Junikriegs war in Johnsons Augen die Schließung des Suezkanals. Denn
damit war die Sowjetunion gezwungen, ihre Schiffe mit dem Nachschub
für Nordvietnam um ganz Afrika herumfahren zu lassen.
Doch Johnson war keineswegs der erste
US-Präsident, der das 1948 von Harry Truman verfügte Embargo für
Waffenlieferungen an Israel durchbrach. Der erste war kein
Geringerer als John F. Kennedy, obwohl auch er zu Beginn seiner
Amtszeit den Israelis die Lieferung von Großwaffensystemen
verweigert hatte. Und derselbe Kennedy - zu dessen außenpolitischen
Hauptzielen es immerhin gehörte, die Weiterverbreitung von
Atomwaffen einzudämmen - war außerstande oder im Grunde unwillig,
das nukleare Projekt des israelischen Partners zu verhindern.
Kennedy war der erste US-Präsident, der verstand,
dass das Palästinenserproblem ein wichtiger Faktor, wenn nicht die
eigentliche Wurzel des arabisch-israelischen Konflikts darstellte.
Und doch hat er, der die algerische Befreiungsbewegung FLN so genau
und frühzeitig wahrgenommen hatte, in den Palästinensern nie ein
Volk mit Unabhängigkeitsbestrebungen gesehen. Wie die damaligen
israelischen Politiker sprach auch er vom "Flüchtlingsproblem".
Damit war er nicht der erste und auch nicht der letzte US-Präsident,
der sowohl die tiefe Verbitterung der Palästinenser über ihre
Vertreibung unterschätzte als auch die Entschlossenheit der
israelischen Regierung, das eroberte Territorium zu behalten.
Im Hinblick auf das Palästinenserproblem war
Kennedy also um keinen Deut realistischer als die Israelis selbst.
Zwar ließ er den israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion
wissen, dass die USA entschlossen waren, das "Flüchtlingsproblem"
anzugehen, aber die Debatten in Washington darüber, was dies genau
bedeute, waren zumeist oberflächlich und beiläufig. Bei einer
Besprechung im Weißen Haus etwa befragte der damalige Außenminister
Dean Rusk den Kennedy-Berater Myer Feldman, der auch für die
Kontakte mit jüdischen Organisationen zuständig war. Rusk wollte
wissen, was es mit dem von Joseph Johnson vom Carnegie Institute
entwickelten Plan zur Lösung des Flüchtlingsproblems auf sich habe.
Könne man Johnson folgen, "ohne sich auf konkrete Zahlen
einzulassen", also ohne festzulegen, wie viele palästinensische
Flüchtlinge nach Israel zurückkehren und wie viele in arabischen
Ländern angesiedelt werden sollten? "Aber ja", meinte Feldman, "nach
unseren Schätzungen dürften sich höchstens ein Zehntel von ihnen für
die Rückkehr entscheiden." Das waren damals ungefähr 80 000
Menschen. Eine solche Zahl sei für die Israelis akzeptabel, fügte
Feldman hinzu. Daraufhin meinte Kennedy: "Das ist ja so, als wenn
ein Neger nach Mississippi zurückwollte." Im Raum kam glucksendes
Lachen auf. Der Vergleich sei nicht ganz richtig, antwortete
Feldman, denn das würde voraussetzen, dass bei den Palästinensern
"eine Art Black-Muslim-Doktrin" vorherrsche.
In einer Ben-Gurion-Biografie wird beschrieben,
dass bei dessen erstem Treffen mit John F. Kennedy ein ähnlich
oberflächlicher Ton herrschte. So soll Kennedy zu Ben Gurion gesagt
haben: "Ich bin von den New Yorker Juden gewählt worden. Nun muss
ich etwas für sie tun. Also werde ich etwas für Sie tun." Ben Gurion
fand es gar nicht lustig, als Lokalpolitiker von Brooklyn angesehen
zu werden, und so antwortete er gereizt: "Sie müssen nur das tun,
was für die Freie Welt gut ist."
Zu Beginn seiner Amtszeit war Kennedy
entschlossen, die Beziehungen der USA mit den neuen revolutionären
Regimen im arabischen Raum und vor allem mit Nassers Ägypten zu
verbessern. Seine Vorgänger hatten ihm im Nahen Osten viele Probleme
hinterlassen. Der gegen die Sowjetunion gerichtete Bagdad-Pakt von
1955 hatte mehrere muslimische Staaten auf die Seite der USA
gebracht, war aber nun in Auflösung begriffen. Ägypten, Syrien und
der Irak wurden zusehends zu sowjetischen Satellitenstaaten, und die
konservativen arabischen Monarchen fühlten sich durch Nassers
sozialistischen Panarabismus akut bedroht.
Mit der gleichen Oberflächlichkeit, mit der sich
Kennedy in das Abenteuer der Schweinebucht stürzte, kam er auch zu
der Überzeugung, dass die schlechten Beziehungen Amerikas sowohl zu
Israel als auch zu Ägypten unnötig seien. Durch eine kreativere
Politik wollte er den USA neue Optionen im Nahen Osten eröffnen. Um
Ägypten in die westliche Einflusssphäre zurückzubringen, warb
Kennedy um Nassers Gunst, jedoch erfolglos. Der ägyptische
Staatschef begann sogar einen katastrophalen Krieg im Jemen, den er
selbst später als "mein Vietnam" bezeichnete. Er bedrohte das
benachbarte Saudi-Arabien; in einem Fall setzten ägyptische Soldaten
auch Giftgas ein. Als Nasser erkannte, dass sein ehrgeiziger Plan
zur Vereinigung von Ägypten und Syrien fehlschlug, wurde sein Kurs
radikaler. Seine Agenten versuchten gar, König Hussein von Jordanien
umzubringen.
Kennedys Bemühungen um eine Annäherung an Nasser
wurden jedoch nicht nur von Nasser selbst durchkreuzt, sondern auch
von der Öllobby in den USA und von konservativen arabischen Kräften
unter Führung der Saudis. Genau in dieser Phase gaben die USA ihre
eher frostige Haltung zu Israel auf und setzten auf ein engeres
Bündnis, das bis heute fortdauert. In der Kubakrise von 1962, als
Chruschtschow irrtümlicherweise meinte, er könne wie 1956 während
des Suezkriegs mit seinen Atomraketen drohen, verschlechterte sich
das Verhältnis zwischen Washington und Ägypten weiter, nicht
zuletzt, weil die ägyptische Presse für Kuba Partei ergriff.
In diesem Klima stellte Kennedy seine Bemühungen
ein, die Lage der palästinensischen Flüchtlinge zu verbessern.
Heimlich ließ er die entscheidende Besprechung zu diesem Thema
mitschneiden. Bis dahin hatte er den Verkauf von Hawk-Raketen an die
Israelis davon abhängig gemacht, dass sich diese zu einem Kompromiss
in der Frage der Rückführung oder Entschädigung palästinensischer
Flüchtlinge bereit fanden. Am 27. Dezember 1962 nun teilte Kennedy
bei einem Treffen in Palm Beach, Florida, der israelischen
Außenministerin Golda Meir mit, dass Joseph Johnsons Plan gestorben
sei. Die USA hätten, wie er sich ausdrückte, "im Nahen Osten mit
Israel eine besondere Beziehung, die eigentlich nur mit der
Beziehung vergleichbar ist, die wir in einem weiten Spektrum von
Fragen mit Großbritannien" haben. Und dann meinte der Präsident zu
Golda Meirs Entzücken: "Ich denke, es ist ganz klar, dass die USA im
Falle einer Invasion Israel zu Hilfe kommen würden."
Kennedy hatte in diesem Moment die Grenzen dessen,
was die Arabien-Experten des Außenministeriums gegenüber Israel für
"denkbar" gehalten hatten, überschritten und war auch in der Frage,
was im Hinblick auf Ägypten "machbar" war, bis an die äußerste
Grenze gegangen. So legte er, wie Warren Bass in seiner jüngst
erschienenen Analyse(1 )zeigt, "die Parameter der Nahostpolitik der
USA für die kommenden Jahrzehnte" fest. Kein US-Präsident zuvor
hatte sich jemals so klar ausgedrückt.
Ein Jahr vor dem Treffen hatten die
US-Geheimdienste in Dimona im Süden Israels einen geheimen, mit
französischer Unterstützung gebauten Atomreaktor entdeckt.
Washington hatte sich besorgt gefragt, ob die Israelis den Bau einer
Atombombe anstrebten. Als Kennedy in dem besagten Gespräch mit Golda
Meir(2 )deshalb die Opposition der USA gegen die Weiterverbreitung
von Atomwaffen kurz ansprach, liest man in der stenografischen
Mitschrift: "Mrs. Meir versicherte dem Präsidenten, hinsichtlich des
israelischen Atomreaktors werde es zwischen ihnen keinerlei
Schwierigkeiten geben."
Doch kurz darauf führte dieses "delikate Thema" -
wie die israelischen Presse den Atomreaktor verklausuliert nannte -
zu dem schärfsten Konflikt, den Israel und USA innerhalb der
nächsten Jahre haben sollten. Kennedy befürchtete ernsthaft, dass
der Reaktor für die Produktion von Atomwaffen gebaut worden war,
doch schlussendlich ließ er die Israelis gewähren. Im Rückblick
gesehen, so führt Warren Brass aus, hat es den Anschein, als hätten
die jahrelangen Verhandlungen über das geheime israelische
Reaktorprojekt die Allianz zwischen den USA und Israel nur noch
gestärkt.
Um diese Entwicklung zu verstehen, sind die ersten
Amtstage des neuen Präsidenten erhellend. Damals wurde Kennedy von
Christian Herter, dem Außenminister seines Vorgängers Eisenhower,
darüber aufgeklärt, dass Israel und Indien wohl die beiden Länder
seien, von denen als nächste die Entwicklung von Atomwaffen zu
erwarten war. Herter gab Kennedy den Rat, bezüglich der streng
geheimen Nuklearanlage von Dimona, die von einem
U-2-Spionageflugzeug entdeckt worden war, auf möglichst frühen
Inspektionen zu bestehen. Der in Amerika lebende Israeli Avner Cohen
hat 1998 in seinem Buch "Israel and the Bomb" (das in der
israelischen Zeitung Haaretz als "Buchbombe"
bezeichnet wurde) erstmals die Geschichte des israelischen
Atomprojekts rekonstruiert, dessen Existenz die US-Regierung damals
nur zögerlich bestätigte. Cohens hervorragende Darstellung basiert
auf vormals unveröffentlichten Dokumenten. Detailliert schildert er
die Motive der israelischen Politiker, die das Projekt
unterstützten. So lautete etwa Ben Gurions Maxime kurz und bündig:
"Um sicherzustellen, dass das jüdische Volk nie wieder einen
Holocaust erleiden muss, muss Israel jedem potenziellen Täter mit
der Vernichtung drohen können."
Erst im Jahr 2000 erschien die hebräische Ausgabe
von Cohens Buch. Hätte das Originalmanuskript einem israelischen
Verleger vorgelegen, hätte es wohl niemals die Militärzensur
passiert. Als Cohen kurze Zeit nach der Veröffentlichung der
US-Ausgabe nach Israel reiste, wurde er fünfzig Stunden lang von
israelischen Agenten verhört, nicht etwa, wie mir Cohen erzählte,
weil sie etwas gegen ihn unternehmen wollten, sondern weil sie ihn
von weiteren Atom-Recherchen abzuhalten gedachten. Das Manuskript
seines jüngsten, auf Hebräisch verfassten Buches "Israels letztes
Tabu", in dem er kritisiert, dass Israel sich mit dem Thema nicht
offen und direkt auseinander setzt, liegt inzwischen seit über einem
halben Jahr bei der israelischen Militärzensur. Nach wie vor ist die
Nuklearanlage in Dimona ein Tabu, das noch bis vor kurzem nur
indirekt thematisiert wurde.
Der israelische Autor Tom Segev - vielleicht der
brillanteste Analytiker der jüngeren israelischen Geschichte - meint
zu Recht, Cohens Buch mache es "notwendig, die gesamte Geschichte
Israels neu zu schreiben". Cohens Arbeit hat inzwischen zahlreiche
weitere Studien hervorgebracht, so etwa das vor kurzem erschienene
Buch "Die Nation und der Tod"(3), in dem die Historikerin Idith
Zertal überzeugend und innovativ den Gebrauch der Erinnerung an den
Holocaust in Israel untersucht. Neben der Gleichsetzung von
Palästinensern und Nazis wird mit der Erinnerung sowohl der
Siedlungsbau als auch die Nuklearoption gerechtfertigt. Nach dem
Sechstagekrieg, so Zertal, wurde in Israel die Sicherheitsfrage
nicht auf der Basis der tatsächlichen militärischen
Kräfteverhältnisse im Nahen Osten debattiert, sondern "im Kontext
des Holocaust".
Dass die US-Amerikaner so lange brauchten, um zu
erfassen, was da in Dimona vor sich ging, ist für sich schon eine
erstaunliche Tatsache, die manches über die Effizienz der hoch
gerühmten westlichen Geheimdienste aussagt. Denn es handelte sich
keineswegs um ein streng gehütetes Geheimnis. Zahlreiche israelische
Wissenschaftler wussten von dem Atomprojekt, seit es Ende der
1950er-Jahre angelaufen war. Außerdem waren, wie Cohen beschreibt,
mehrere reiche israelische Geschäftsleute aufgefordert worden, etwas
zu den Kosten beizusteuern. Und in den USA hatte Abe Feinberg, der
in New York zur Führung der Demokratischen Partei gehörte und als
Chef der American Bank and Trust Company zugleich ein Mitglied im
Kuratorium des Weizmann Institute of Science war, einige prominente
Spender angesprochen, die als Unterstützer jüdischer und
israelischer Projekte bekannt waren.
Ein österreichischer Bekannter lernte Ende der
Fünfzigerjahre auf einem Linienschiff von Haifa nach Marseille durch
Zufall im Speisesaal einen französischen Ingenieur kennen, der ihm
erzählte, dass er zwei Jahre an einem Großprojekt in Dimona
gearbeitet hatte. Auf die Frage, was genau er gemacht habe,
antwortete der Franzose: "Quest-ce quon fait à Dimona? On fait la
bombe!" - "Was wir in Dimona machen? Wir machen die Bombe!" Bei
seinem nächsten Besuch in Israel hatte mein Österreicher eine
Unterredung mit dem damaligen Finanzminister und späteren
Ministerpräsidenten Levi Eschkol, den er ganz direkt fragte: "Hat
Israel eine Atombombe?" Eschkol, der einen ziemlich derben Humor
hatte, gab zur Antwort: "Ich kann Ihnen nicht sagen, ob wir eine
Bombe haben", aber dann wechselte er wie so häufig ins Jiddische und
fuhr fort: "ober wir sanen stark schwanger". Etwa um diese Zeit, im
Dezember 1960, ließ Regierungschef Ben Gurion anlässlich der
Eröffnung der Universität Beer Sheba durchblicken, dass im unweit
gelegenen Dimona innerhalb von ein, zwei Jahren ein Atomreaktor in
Betrieb gehen werde.
Die Anlage war erstmals bereits 1958 auf
Luftbildern entdeckt worden, hatte aber bei der CIA kein größeres
Interesse ausgelöst. Das gilt auch für die gar nicht zu übersehende
Anwesenheit von französischen Wissenschaftlern, Ingenieuren,
Technikern und ihren Familien - durchweg Mitarbeiter eines
französischen Ingenieur-Unternehmens, das auf den Bau von großen
Atomreaktoren spezialisiert war. 1960 meinte ein in Israel weilender
US-Atomwissenschaftler zu Ogden R. Reid, dem US-Botschafter in Tel
Aviv, die Israelis hätten es geschafft, in Dimona einen Reaktor
ungefähr desselben Typs zu bauen, dem die Franzosen die Atombomben
de Gaulles verdankten. Jetzt richtete die US-Botschaft eine
offizielle Anfrage an die israelische Regierung, fand sich aber
offenbar mit der Antwort ab, dass es sich bei der Anlage in Dimona
um eine Textilfabrik handle. Erst sieben Monate später wurde der CIA
klar, dass Israel heimlich an einem riesigen Atomreaktor baute.
Gerade Israels "Tauben" wollen Atomwaffen
BEN
GURION wie die Franzosen versicherten den Amerikanern höchst
offiziell, die Anlage in Dimona diene ausschließlich friedlichen
Zwecken. Reid empfahl Eisenhower, den Zusicherungen zu glauben.
Dieselbe Position vertrat auch die CIA, nicht allerdings
Außenminister Dean Rusk. Kennedy selbst neigte zur Einschätzung von
Rusk. Vor seinen Beratern kritisierte er Israel in harschen Tönen.
Die Größe des neuen Reaktors schien der israelischen Behauptung zu
widersprechen, dass er nur für friedliche Zwecke gedacht sei.
Als CIA-Agenten im März 1961 die tatsächliche
Kapazität des Reaktors auf 40 Megawatt schätzten, bezeichnete
Kennedy gegenüber James Reston von der New York Times
Ben Gurion als einen "wild man", mit dem er in
dieser Sache keinen Kompromiss schließen werde. Über einen
Abgesandten Ben Gurions habe er den Israelis ausrichten lassen, sie
müssten innerhalb von dreißig Tagen eine gründliche Inspektion der
Anlage zulassen. Die dreißig Tage verstrichen, aber Ben Gurion hielt
ihn weiter hin.
Reston erzählte mir damals die Geschichte, die er
allerdings nicht publizierte. Ich telegrafierte die Geschichte
meiner Zeitung Haaretz auch unter Verwendung der
verschleiernden Bezeichnung "delikates Thema", aber trotzdem wurde
sie von den Militärzensoren nicht freigegeben. Daraufhin ließ mich
mein Herausgeber wissen, ich solle mich auf andere Themen
konzentrieren.
In der Folge nahmen die Spannungen zwischen
Washington und Tel Aviv zu. Die Kennedy-Berater Abe Feinberg und
Mike Feldman flogen nach Israel und teilten Ben Gurion mit, wenn er
in Inspektionen einwillige, ließe sich ein Treffen mit Kennedy
arrangieren, durch das man das Projekt retten könne. Sechs Wochen
später hatte Ben Gurion einer "Inspektion" noch immer nicht
zugestimmt. Er wollte lediglich zwei US-Wissenschaftlern einen
"Besuch" des umstrittenen Reaktors gestatten, aber das nur an einem
Sabbat, wenn die meisten Beschäftigten nicht vor Ort anzutreffen
waren. Nach Darstellung Cohens sorgten die israelischen Stellen dann
dafür, dass die "Besucher", zwei US-Atomphysiker, nichts
Verdächtiges finden konnten. Zudem durften sie keine eigenen
Instrumente mitbringen oder Messungen vornehmen und auch keine Fotos
machen. Die beiden Wissenschaftler bescheinigten, dass die Anlage
sauber sei.
Kurze Zeit danach hatten Kennedy und Ben Gurion
ein Gespräch in New York. Dabei sagte Kennedy den Israelis die
Lieferung von Boden-Luft-Raketen vom Typ Hawk zu, während der
Reaktor Dimona nur am Rande erwähnt wurde. Kennedy machte den
Verkauf der Hawk-Raketen nicht von einer verbindlichen Zusage
abhängig, dass die USA die Anlage in Dimona zweimal jährlich
inspizieren könnten. Zumindest zwei Inspektionen pro Jahr wären
nötig gewesen, um sicherzugehen, dass in Dimona kein waffenfähiges
Plutonium hergestellt wurde. Ich beobachtete damals, wie Ben Gurion
die Suite Kennedys im Waldorf Astoria Hotel verließ und dabei
ersichtlich erleichtert dreinblickte. Aus heute zugänglichen
Dokumenten wissen wir, dass Kennedy damals den israelischen
Zusicherungen immer noch nicht traute. Aber da nun einmal die
Berichte der beiden Dimona-"Besucher" vorlagen, beschränkte er sich
gegenüber Ben Gurion auf die Bemerkung, dass sich eine ehrbare Dame
nicht damit begnügen könne, tugendhaft zu sein, sie müsse ihre
Tugend auch glaubhaft zeigen. Deshalb bat Kennedy, bei künftigen
Inspektionen auch Experten aus "neutralen" Ländern zuzulassen. Und
er regte an, deren Berichte auch an Nasser weiterzureichen.
Ben Gurion war im Prinzip einverstanden; weitere
Details über künftige Besuche wurden nicht erörtert. Doch als die
Israelis die ersten Hawk-Raketen erhielten, wurden diese rings um
Dimona in Stellung gebracht. Die Streitigkeiten über die Atomanlagen
gingen weiter. Insbesondere drängte Kennedy die israelische
Regierung, halbjährliche Inspektionen zu gestatten, was jedoch nie
geschah.
Ein Großteil des Aktenmaterials, das in den
US-Archiven über diese Vorgänge lagert, ist bis heute gesperrt. Aber
es gibt ausreichend Anhaltspunkte dafür, dass Ben Gurion seine
Hinhaltetaktik fortsetzte und dass Kennedys die israelischen
Ausflüchte immer weniger hinnehmen wollte. Es scheint so, als sei
Kennedy in den zwölf Monaten vor Beginn der Kampagne für seine
anstehende Wiederwahl im November 1964 geneigt gewesen, seine
innenpolitisch begründete Taktik im Umgang mit Israel zeitweise
beiseite zu schieben. Jedenfalls schlug er in seinen Briefen an
Gurion einen zunehmend drohenden Ton an.
Seit Eisenhower 1957 Ben Gurion gezwungen hatte,
die besetzte Sinai-Halbinsel zu räumen, deren glatte Annexion Ben
Gurion in einer emotionalen Rede in Scharm al-Scheich proklamiert
hatte, war kein US-Präsident mit einem israelischen Regierungschef
derart rüde umgesprungen. In seinem letzten Brief vom Mai 1963
warnte Kennedy, das Engagement seiner Regierung und die
Unterstützung Israels seien ernsthaft gefährdet, wenn der Eindruck
entstehe, "dass diese Regierung nicht in der Lage ist, verlässliche
Informationen über ein Thema zu erhalten, das für den Frieden ein so
entscheidendes ist wie die Bemühungen Israels auf dem atomaren
Gebiet".
Bis zu diesem Brief hatte Ben Gurion immer wieder
neue Ausflüchte gesucht. Nach dieser Drohung Kennedys trat er
zurück. Die Gründe für sein Handeln liegen bis heute im Dunkeln.
Nach der einen Theorie war ihm ganz klar, dass Israel sich dem Druck
Kennedys am Ende würde beugen müssen, er habe es aber vorgezogen,
diesen Schritt seinem Nachfolger, dem eher nachgiebigen
"Tauben"-Politiker Levi Eschkol zu überlassen, den er im Übrigen
nicht leiden konnte. Die andere Theorie besagt, der wahre Grund für
den Rücktritt Ben Gurions seien innerparteiliche Probleme gewesen,
die von seiner langjährigen Fehde mit der alten Garde der
Arbeitspartei herrührten.
Nach Kennedys Ermordung einigten sich die
Kontrahenten auf einen Kompromiss. Innerhalb der israelischen
Regierung argumentierte Außenministerin Golda Meir, man müsse dem
neuen US-Präsidenten Johnson die volle Wahrheit über den
Dimona-Reaktor sagen und die Gründe dafür darlegen. Der neue
Ministerpräsident Eschkol zögerte. Offenbar fühlte er sich noch
durch Ben Gurion eingeschüchtert, der seinen Nachfolger mehrmals der
Gefährdung der nationalen Sicherheitsinteressen bezichtigt hatte.
Eschkol zog es vor, sich weiter durchzumogeln. Er gestattete nie
mehr als einen "Besuch" pro Jahr, mit dem die Wahrheit über Dimona
nicht herauszufinden war.
Für Lyndon B. Johnson war die Weiterverbreitung
von Kernwaffen kein solches Problem wie für Kennedy. Es blieb bei
einer Inspektion pro Jahr, bis schließlich die "Besuche" ganz
eingestellt wurden. Johnson und seine Nachfolger begnügten sich mit
einer Erklärung Israels, dass es niemals "als Erster" Atomwaffen im
Nahen Osten einführen würde. Im Gegenzug bekam Israel von den USA
laufend die neuesten konventionellen Waffensysteme geliefert, um
sich auch ohne den Einsatz von Atomwaffen verteidigen zu können.
Die israelische Politik wiederum war als Strategie
der "Vieldeutigkeit" oder auch "Undurchsichtigkeit" angelegt. Dabei
bedeutete laut Cohen der Begriff "Undurchsichtigkeit" bis heute,
dass die israelische Regierung niemals offiziell kundtut, man
verfüge tatsächlich über Atomwaffen, dass aber die Indizien für die
Existenz solcher Waffen stark genug sind, um die Wahrnehmung und das
Verhalten potenzieller Feinde zu beeinflussen.
Cohen zufolge war Israel etwa 1967 im Besitz
erster, noch unvollkommener Atombomben. Vor kurzem meldete die BBC
unter Verweis auf eine Analyse der Federation of Atomic Scientists,
dass Israel heute wahrscheinlich an die 200 Atombomben besitzt. Ein
Bericht, der auf der Website von MSNBC nachzulesen ist, geht davon
aus, dass das von Israel produzierte Plutonium für 100 bis 200
Atombomben ausreicht. Das Land dürfte außerdem über etwa 35
taktische und strategische Wasserstoffbomben verfügen und auch über
die entsprechenden Trägersysteme von Kurz- und
Langstreckenraketen.(4)
Den Atomwaffensperrvertrag, der ursprünglich ein
Projekt der USA gewesen war, hat Israel nie unterzeichnet. In
Jerusalem lautet die Sprachregelung weiterhin, dass man nicht als
erstes Land Atomwaffen in den Nahen Osten "einführen" werde. Die
jüngste Geschichte des Landes zeigt jedoch, dass auch ein solches
Machtpotenzial an Grenzen stößt. Die "Undurchsichtigkeit" hat weder
den Krieg von 1967 noch den arabischen Überraschungsangriff von 1973
verhindert - und auch nicht die beiden Intifadas der Palästinenser
oder die jüngste Welle von Selbstmordattentaten.
Das "Geheimnis" von Dimona indes wird nach wie vor
sehr streng gewahrt. Als Mordechai Vanunu, ein Techniker, der in den
Achtzigerjahren in Dimona gearbeitet hatte, der Londoner
Sunday Times erzählte, was er an seinem
Arbeitsplatz angeblich gesehen hatte, wurde er aus Rom entführt,
nach Israel verbracht und zu achtzehn Jahren Gefängnis ohne
Bewährung verurteilt. Seine Haftzeit läuft im April dieses Jahres
ab. Dabei hielt man ihn mehr als elf Jahre in einer Isolationszelle,
was eine ungewöhnlich harte Bestrafung darstellt. Einige Berichte
besagen, er habe in der Haft fast den Verstand verloren.
Am Vorabend des Sechstagekriegs von 1967 forderten
einige liberale und internationalistisch gesonnene Knessetmitglieder
eine allgemeine Abrüstungsvereinbarung über Nuklearwaffen für den
gesamten Nahen Osten. Doch die Initiative lief sich tot; heute
plädiert nur noch Ägypten für einen atomwaffenfreien Nahen Osten. In
Israel, wo so vieles verkehrter läuft als anderswo, gehören
heutzutage die Tauben, gerade weil sie einen Rückzug aus den
besetzten Gebieten auf die weniger sicheren Grenzen von 1967
fordern, zu den glühendsten Verfechtern der so genannten nuklearen
Option.
deutsch von Niels Kadritzke
Fußnoten:
(1) Warren Bass, "Support Any Friend:
Kennedys Middle East and the Making of the U.S.-Israel Alliance",
Oxford University Press 2003.
(2) Nach den Unterlagen des Stenografen, die Cohen eingesehen hat.
Siehe Avner Cohen, "Israel and the Bomb", New York (Columbia
University Press) 1998.
(3) Idith Zertal, "Hauma wehamarevetth", Tel Aviv 2003, S. 163-165.
Deutsch: "Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen
Öffentlichkeit", Göttingen (Wallstein Verlag) 2003.
(4) Die BBC-Meldung findet sich im Internet unter
news.bbc.co.uk/1/low/world/middle_east/892941.stm, der Bericht
unter
www.msnbc.com/news/wld/graphics/strategic_israel_dw.htm.
Le Monde diplomatique Nr. 7330 vom
8.4.2004,
Seite 1,12-13, 73 Dokumentation AMOS ELON
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
Mordechai Vanunu wird entlassen:
Wovor haben sie
Angst?
Warum hat der Sicherheitsapparat eigentlich eine solche Angst vor
der Entlassung Vanunus? Die Behauptung, Mordechai Vanunu verfüge
noch immer über geheime Informationen, ist nicht korrekt, um es
milde auszudrücken...
hagalil.com
22-04-2004 |