NEUE IMPULSE STÄRKEN DIE ISRAELISCHE
FRIEDENSBEWEGUNG
Wenn Soldaten endlich Nein sagen
SEIT im Januar die
Resolution der Reserveoffiziere gegen die israelische
Besatzungspolitik publik wurde, werden die gewaltsamen Übergriffe der
israelischen Armee auch im eigenen Lande zunehmend kritisch gesehen. Die
Risse in der Gesellschaft werden damit immer deutlicher sichtbar. Nach
langer Zeit kam es wieder zu Friedensdemonstrationen, und die
Israelisch-Palästinensische Koalition für den Frieden findet zunehmend
Anhänger. Die Weigerung von Offizieren und Soldaten, sich in den
besetzten Gebieten einsetzen zu lassen, findet bei vielen Israelis
Verständnis. Und sie beunruhigt das politische Establishment, das sich
fragen muss, ob seine militärische Logik langfristig durchzuhalten ist.
Von JOSEPH ALGAZY,
Journalist in Tel Aviv.
Am 25. Januar 2002 erschien in der israelischen
Zeitung Haaretz
eine Anzeige mit folgendem Text:
"Wir, Offiziere und Soldaten der Reserve in
kämpfenden Einheiten der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF),
die erzogen wurden nach den Grundsätzen des Zionismus, dem Staat und dem
Volk Israel zu dienen und Opfer zu bringen, die stets in vorderster
Front kämpften und bereit waren, jede Aufgabe, ob leicht oder schwer, zu
erfüllen, um den Staat Israel zu schützen und zu stärken; […] wir, die
gespürt haben, wie die Befehle, die uns in den Gebieten erteilt wurden,
alle Werte zerstörten, die wir übernommen haben, als wir in diesem Land
aufwuchsen; wir, die wir nun begriffen haben, dass der Preis für die
Besetzung darin besteht, dass die Armee jede Menschlichkeit verliert und
die gesamte israelische Gesellschaft moralisch zersetzt wird; wir, die
wir wissen, dass die Gebiete nicht zu Israel gehören und dass alle
Siedlungen am Ende geräumt werden müssen; wir erklären hiermit, dass wir
diesen Krieg um die Siedlungen nicht länger führen werden. Wir werden
nicht länger jenseits der Grenzen von 1967 kämpfen, um ein ganzes Volk
zu beherrschen, zu vertreiben, auszuhungern und zu erniedrigen. Wir
erklären hiermit, dass wir unseren Dienst in den Streitkräften
fortsetzen und jede Aufgabe erfüllen werden, die der Verteidigung
Israels dient. Besetzung und Unterdrückung dienen diesem Zweck nicht -
und an solchen Operationen werden wir nicht teilnehmen."
Diese Erklärung war unterzeichnet von 52 Offizieren
und Soldaten der Reserve(.1) Bis Ende Februar war die Zahl der
Unterzeichner auf 300 gestiegen. Seit dem Ausbruch der Intifada im
Oktober 2000 haben 500 Reservisten den Einsatz in den besetzten Gebieten
verweigert, 46 Reservisten oder Wehrdienstverweigerer mussten dafür ins
Gefängnis, 200 vor der Prüfungskommission der Armee erscheinen. Die
Verweigerungsbewegung löst in allen Bereichen der israelischen
Gesellschaft Unruhe aus, vor allem in der Armee. Auch in der Knesset
wurde das Thema diskutiert.
Am selben 25. Januar waren in der Tageszeitung
Jediot Aharonot
Berichte mehrerer Reservisten über ihre Einsätze zu lesen. Der
Artillerieunteroffizier Ariel Shatil berichtete, wie er Soldaten seiner
Einheit beim Schießen auf Unbeteiligte erwischte.
Fallschirmjägerleutnant David Zonshein musste erleben, wie seine
Kameraden Wohnhäuser überfielen und zerstörten. Artillerieleutnant Ishai
Sagi war ins Westjordanland abkommandiert - zum Schutz von Siedlern, die
Palästinenser überfielen und deren Autos anzündeten. Shoki Sadé,
Unteroffizier bei den Fallschirmjägern, hörte Soldaten aus seinem
Bataillon mit gleichmütiger Stimme erzählen, wie sie in Chan Junis einen
Jungen getötet hatten. Die vier überzeugten Zionisten, die sich in
dieser Zeitung äußerten, hatten an Israels Feldzügen in den Libanon
teilgenommen und wollten auch weiterhin als Reservisten dienen - aber
nicht mehr in den besetzten Gebieten. Dort hätten sie "das Gefühl
gehabt, ihre Menschlichkeit zu verlieren", schrieb die Zeitung: "Nun
wollen sie nicht länger schweigen. Ihr Ziel: eine breite
Verweigerungsbewegung zu schaffen, um die politischen Ziele neu zu
gewichten."
Kaum jemand in Israel hatte je geglaubt, die Armee
könne den Aufstand der Palästinenser unterdrücken, ohne Kriegsverbrechen
zu begehen. Sogar Exbrigadegeneral Ephraim Sneh, damals
Verkehrsminister, hatte sechs Monate nach Ausbruch der Intifada vor der
Gefahr einer Eskalation gewarnt: "Scharon wird ohne mich vor dem
internationalen Gerichtshof in Den Haag erscheinen müssen."(2) Aber es
dauerte seine Zeit, bis die Öffentlichkeit das Ausmaß der Exzesse
begriff, die sich die Armee in ihrem Krieg gegen die Palästinenser
erlaubte. Jüngster Höhepunkt war Mitte Januar 2002 die Zerstörung
dutzender Wohnhäuser in Rafah, im Süden des Gaza-Streifens. Die Dementis
der Militärführung konnten niemand überzeugen.
Eine Woche zuvor hatte in Tel Aviv ein Gespräch zum
Thema "Wie stehst du zu Den Haag?"
stattgefunden. Das Motto stammte von Igal Shohat - Arzt und ehemaliger
Kampfpilot, der im August 1970, im "Abnutzungskrieg" mit Ägypten,
abgeschossen und in Kriegsgefangenschaft geraten war - und bezog sich
auf ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH). Im Verfahren über
das Massaker von Kfar Kassem (29. Oktober 1956) hatte der IGH einige der
Verantwortlichen verurteilt und die Verweigerung gesetzwidriger Befehle
legalisiert. "Die willentliche Tötung von Zivilpersonen ist ein
Kriegsverbrechen", erklärte Shohat, und er appellierte an die Soldaten,
den Dienst in den besetzten Gebieten zu verweigern, an die Piloten,
keine Angriffe auf Städte zu fliegen, an die Fahrer der Bulldozer, keine
Häuser mehr zu zerstören. Man solle alle Befehle verweigern, die "unter
der schwarzen Flagge der Illegalität" erteilt werden. Aber manche Leute
würden diese schwarze Flagge nie bemerken,"selbst dann nicht, wenn sie
miterleben, wie ein gefesselter Araber ermordet wird. Andere sehen sie
erst, wenn sie älter geworden sind. So wie ich: Als junger Pilot habe
ich es mit der Wahl der Mittel nicht so genau genommen."(3)
Im Laufe der Auseinandersetzung stellte Exgeneral Ami
Ajalon - ehemals Befehlshaber der Kriegsmarine, aber auch Chef des
Inlandsgeheimdienstes Schin Beth - verwundert fest, dass "nur so wenige
Soldaten offensichtlich gesetzwidrige Befehle verweigern. Wenn sie
unbewaffnete Kinder töten, handeln sie ja wohl nach einem illegalen
Befehl."(4)
Diese Äußerung brachte die politisch-militärische
Führung in Harnisch und bewog sie zu dem Entschluss, die Bewegung der
Verweigerer zu zerschlagen. General Schaul Mofaz, Chef des Generalstabs,
ließ alle Unterzeichner der Erklärung vom Januar wissen, man werde sie
vor ein Militärgericht stellen und bestrafen, sollten sie weiterhin den
Dienst in den besetzten Gebieten verweigern. Sein Vorgänger, General
Amnon Lipkin-Schahak, sprach von einer tödlichen Bresche in den
"Festungsmauern" des Staates Israel.(5)
Die Verweigerungsbewegung begann in den späten
Siebzigerjahren, als einzelne Soldaten ihren Dienst nicht mehr in den
besetzten Gebieten leisten wollten; dasselbe geschah später im südlichen
Libanon. Keiner von ihnen hätte damals geglaubt, dass noch seine Kinder
eine ähnliche Situation erleben würden. Im April 1970, während des
"Abnutzungs"-Kriegs zwischen Israel und Ägypten, hatte eine Gruppe von
Gymnasiasten anlässlich ihrer Einberufung in einem offenen Brief an
Ministerpräsidentin Golda Meir appelliert, nicht die letzten Chancen für
einen Frieden zu verspielen. Im Sommer 1980 teilten 27 junge Israelis
Verteidigungsminister Eser Weizman ihren Entschluss mit, den Dienst in
den besetzten Gebieten zu verweigern - einige wurden zu Gefängnisstrafen
verurteilt. Andere verweigerten den Dienst im Libanon und gründeten im
Sommer 1983 die Organisation Jesch Gwul ("Es gibt eine Grenze"), die bis
heute aktiv ist.
Einer der Ersten, die diese Verweigerer unterstützten,
war Professor Jeschajahu Leibowitz (1903-1994). Er hatte Israel bereits
im März 1969 davor gewarnt, die arabischen Gebiete zu besetzen und
hunderttausende von Arabern zu unterdrücken. Die Idee eines "Großisrael"
hielt er für ein "unheilvolles Monstrum", das "den israelischen Menschen
verderben und das jüdische Volk auslöschen" sowie "die Erziehung
vergiften" und "die Freiheit des Denkens und der Kritik beeinträchtigen"
werde.(6) Jahre später bezeichnet er die jungen Verweigerer als "die
wahren Helden Israels, weil sie der Staatsmacht und der Armeeführung den
Gehorsam verweigern - zwei rechtlichen Institutionen also, deren
Maßgaben den Charakter des Staates Israel verändern, der ja nicht
gegründet wurde, um ein anderes Volk zu unterdrücken. Die zivilen und
militärischen Führer versuchen, das politische Instrument der nationalen
Unabhängigkeit des jüdischen Volkes in einen Repressionsapparat
jüdischer Macht zu verwandeln, die gewaltsam gegen ein anderes Volk
eingesetzt wird - um mit amerikanisch gepanzerter eiserner Faust in
allen Gebieten jenseits der ,grünen Linie' zu herrschen."(7)
Gegen die Verteidigung jüdischer
Siedlungen
SEIT Beginn der
Repressionsmaßnahmen gegen die Al-Aksa-Intifada unterstützt die
Organisation Jesch Gwul Soldaten, die den Dienst in den besetzten
Gebieten verweigern. Das gilt erst recht, seit die Zahl der Verweigerer
wächst und einige von ihnen zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Die
Vereinigung führt eine Kampagne unter dem Motto "Der Krieg zur
Verteidigung der jüdischen Siedlungen und ihrer Schlägerbanden im
Westjordanland und im Gaza-Streifen ist nicht unser Krieg". Die Soldaten
werden aufgefordert, eine Erklärung zu unterzeichnen, dass sie nicht
bereit seien, sich an der Unterdrückung des palästinensischen Volkes und
an Operationen zum Schutz der jüdischen Siedlungen zu beteiligen.(8) Im
Dezember 2001 gab Jesch Gwul den Soldaten zu bedenken: "Auf unbewaffnete
Zivilisten zu schießen, Wohnviertel zu bombardieren, an ,gezielten
Tötungen' teilzunehmen, Wohnhäuser zu zerstören, der Bevölkerung Güter
des täglichen Bedarfs, Nahrungsmittel und Medikamente vorzuenthalten,
Gewerbebetriebe zu zerstören - all dies sind Kriegsverbrechen." Rekruten
und Reservisten wurden aufgefordert, sich öffentlich mit einem klaren
Nein von diesen Praktiken zu distanzieren.(9)
Eine neue Organisation, die sich "Neuer Entwurf für
eine Zivilgesellschaft" nennt, hat eine Petition verbreitet, die
Gymnasiasten an den Ministerpräsidenten, den Verteidigungsminister und
den Generalstabschef gerichtet haben. Darin verurteilen sie die
aggressive und rassistische Politik der Regierung und der Armee und
erklären, sie seien nicht bereit, an der Unterdrückung des
palästinensischen Volkes mitzuwirken.(10) Zwei der Unterzeichner wurden
im Januar 2002 in Militärhaft genommen.
Die Verweigerung ist längst keine Randerscheinung
mehr. Zum einen hat die Zahl der Verweigerer zugenommen, zum anderen ist
diese Haltung inzwischen auch in regulären Armee-Einheiten und zumal
unter den Soldaten und Offizieren anzutreffen, die als Reservisten
regelmäßig zum Wehrdienst einberufen werden. Dabei handelt es sich nicht
nur um junge Leute, die der extremen Linken, dem nichtzionistischen oder
dem pazifistischen Lager angehören, sondern auch um Israelis, die sich
als Zionisten verstehen und noch bis vor kurzem an die nationale
Durchhalteparole "Right or wrong - my country" glaubten.
Der Erfolg dieser Bewegung zeugt von einem allgemeinen
Stimmungswandel in der israelischen Bevölkerung. Viele Bürger haben die
Übergriffe auf die besetzten Gebieten satt, andere sind mit der Politik
der jetzigen Regierung insgesamt nicht einverstanden, auch im Bereich
der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wieder andere haben einfach Angst -
sie fürchten den bewaffneten Widerstand der Palästinenser, die
Selbstmordattentate und Anschläge gegen die Zivilbevölkerung. Viele, die
noch letztes Jahr für Ariel Scharon gestimmt haben, sind jetzt
enttäuscht, weil sein Wahlversprechen - Frieden und Sicherheit - nicht
eingelöst wurde und die Situation sich im Gegenteil weiter verschärft
hat. Manche Wähler der Arbeitspartei fühlen sich verraten, weil ihre
Führung in der Regierungskoalition sitzt und den gefährlichen Kurs von
Ariel Scharon mit vollzieht. Einige empören sich über das Versagen der
Linken, die nicht bereit oder nicht gewillt war, gegen die katastrophale
Politik der jetzigen wie früherer Regierungen öffentlich mobil zu
machen. Auch die Medien stehen in der Kritik, weil sie überwiegend
regierungsfreundlich berichten und ihren Auftrag der unabhängigen
Information vernachlässigen.(11)
Diese politische Lücke versucht eine Protestbewegung
zu füllen, die sich vor allem aus Menschenrechtsvereinigungen
zusammensetzt: "Ärzte für Menschenrechte", "Rabbiner für
Menschenrechte", "Komitee gegen die Zerstörung von Häusern", BTselem,
"Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten",
"Gusch Schalom". Dazugekommen ist auch eine arabisch-israelische
Gruppierung namens Taajusch (arabisch für "Zusammenleben").
Taajusch entstand gleich nach dem Ausbruch der
Al-Aksa-Intifada und konnte rasch eine neue Generation von Aktivisten
mobilisieren, die in Israel wie in den besetzten Gebieten auftraten. Die
jungen Leute reagierten auf die tragischen Ereignissen im Oktober 2000,
als dreizehn arabische Israelis (und ein Palästinenser aus den besetzten
Gebieten, der gerade in Israel weilte) von israelischen
Sicherheitskräften erschossen wurden, und auf die Tatsache, dass keine
jüdisch-arabische Gruppierung existierte, die entschlossen gegen die
Politik des Rassismus und der Apartheid in Israel auftrat. Deshalb
organisierte sie - mit Unterstützung vor Ort und an konkrete Probleme
anknüpfend - gewaltlose Massenproteste, um ein neues jüdisch-arabisches
Engagement zu begründen. Taajusch tritt der Verteufelung der
Palästinenser entgegen und baut neue Brücken der Solidarität - in der
Überzeugung, dass man Angst und Rassismus nur durch Zusammenarbeit an
der Basis überwinden kann.
Bisher hat die Organisation in Zusammenarbeit mit
lokalen palästinensischen Aktivisten acht Konvois von Lastwagen und
privaten Fahrzeugen organisiert, die Lebensmittel in abgeriegelte
palästinensische Dörfer brachten. Durch die Straßensperren der
israelischen Armee zu kommen war nicht einfach; doch am Ende scheiterten
alle Versuche, die Konvois aufzuhalten. Im Sommer 2001 trafen sich 400
jüdische und arabische Taajusch-Aktivisten zu einem dreitägigen
Arbeitseinsatz in Dar al-Hanun, einem arabischen Dorf in Israel: Sie
bauten einen Kinderspielplatz und besserten eine Straße aus.(12)
Viele Monate lang konnten Israels Regierung und Armee
die Palästinenser in den besetzten Gebieten auf die übelste Weise
behandeln, ohne in der israelischen Gesellschaft auf nennenswerten
Widerspruch zu stoßen. Damit ist es nun offenbar endlich vorbei. Gegen
diese Politik ist eine neue Friedensbewegung angetreten, die sich Gehör
zu verschaffen weiß. Das gibt Anlass zu neuen Hoffnungen, die Israelis
wie Palästinenser so dringend nötig haben.
dt. Edgar Peinelt
Fußnoten:
(1) www.seruv.org.il.
(2) Yedioth Aharonot (Tel Aviv), 20. April 2001.
(3) Haaretz (Tel Aviv), 18. Januar 2002. Falls nicht anders
vermerkt, stammen alle Zitate aus Haaretz.
(4) Im ersten Programm des israelischen Fernsehens, am 1. Februar
2002.
(5) Im zweiten Fernsehprogramm, am 2. Februar 2002.
(6) 16. März 1969.
(7) Jeschajahou Leibowitz, "La mauvaise conscience dIsrael. Entretiens
avec Joseph Algazy", Paris (Le Monde Éditions) 1994.
(8) 1. Dezember 2000.
(9) 9. Dezember 2001.
(10) 6. September 2001.
(11) Siehe die Beilage in Le Monde, 10. und 11. Februar 2002.
(12) Siehe
www. taayush.tripod.com.
Le Monde diplomatique Nr. 6701 vom
15.3.2002, Seite 20-21, 373 Dokumentation JOSEPH ALGAZY
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haGalil onLine 22-03-2002 |