Walser-Interview:
"Niemand wußte, dass Hitler ein solcher Antisemit ist"
Was in Deutschland so vor sich geht, erregt normalerweise die israelischen
Gemüter nicht besonders. Nur selten findet die deutsche Politik Eingang in die
israelischen Nachrichten und auch das kulturelle Leben Deutschlands scheint
wenig von Interesse. Die neuerliche Antisemitismusdebatte wurde dagegen durchaus
kommentiert und beurteilt. Die Tageszeitung Yedioth Achronoth brachte in der
vorletzten Wochenendbeilage sogar ein großes Interview mit Martin Walser, das
ganz erstaunliche Aussagen zu Tage förderte.
Präsentiert wird ein zutiefst gekränkter Walser, dem die Tränen kommen und der
nicht weiß, wie ihm geschieht. Er fühle sich wie in einem Kafka-Roman: "Es ist
kaum zu glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist. In dieser Atmosphäre des
Mißtrauens habe ich einfach keine Chance." Die Leute würden sein Buch nicht
lesen, sondern nach Antisemitismus suchen. "Antisemitismus ist der schlimmste
Vorwurf, dem man einem Intellektuellen oder Schriftsteller in Deutschland machen
kann. Ich habe keine Ahnung, wer hinter dieser Kriegserklärung gegen mich
steht." Und er fügt hinzu: "Es ist unglaublich, aber ich bin es schon leid, mich
zu entschuldigen. Wenn es so weitergeht", dabei schaut er seine Frau an, "wird
es vielleicht keinen anderen Ausweg geben, als für unbestimmte Zeit in ein
anderes Land zu gehen."
Ach so, mag sich der Leser des Interviews von Eldad Beck nun denken, doch eine
Hetzkampagne gegen einen deutschen Schriftsteller? Der sich offensichtlich
entschuldigt hat? Dessen Buch keinen Antisemitismus, sondern "lediglich" eine
Abrechnung enthält? Sind die Vorwürfe, das Buch schüre Antisemitismus und
Fremdenhaß falsch am Platz? Haben Freunde und Kollegen, darunter auch Juden, die
den Kontakt zu Walser abgebrochen haben, unrecht gehandelt? Kommen die
zahlreichen Briefe, die sein Haus am Bodensee erreichen und ihm Sympathie und
Unterstützung versichern ("Endlich hat jemand gesagt, was wir denken"), zu recht
für einen falsch Gescholtenen? Eldad Beck schafft es nicht, die Tragweite der
Geschichte für die israelische Leserschaft richtig zu transportieren. Das
Interview bleibt in großen Teilen unkommentiert, enthält es doch erschreckende
Aussagen.
Seine Komödie sei eigentlich eine Abrechnung mit dem deutschen Literaturkritiker
Marcel Reich-Ranicki, unter dem er seit 18 Jahren leidet. "Wenn er auch
weiterhin nur in der Zeitung Kritiken geschrieben hätte, dann hätte ich das Buch
nicht geschrieben. Aber da er nun auch zu einem Kritiker im Fernsehen wurde, mit
einer Sendung, in der man vor Millionen Zuschauern, die in ihrem Leben noch kein
Buch gelesen haben, hingerichtet wird, mußte ich einfach schreiben", so Walser.
Walser gibt zu, dass jeder das Buch interpretieren kann, wie er will. Den
Einwänden Becks entzieht er sich. Zu dessen Beispiel, das Mitleid mit dem
Mörder, das als Teil des Versuchs interpretiert werden könnte, die Deutschen als
die Leidtragenden des Zweiten Weltkriegs darzustellen, erklärt Walser: "Der Tote
leidet nicht mehr, der Mörder schon. (..) Ein Mord ist das schlimmste, was man
tun kann. Es ist besser, getötet zu werden als zu töten. Der Tote ist tot. Ein
Mörder leidet mehr, der Mord ist die Vernichtung seines Lebens. Man darf nicht
vergessen, dass das Buch eine Komödie ist, ein Witz. Bringen Sie nicht die
Vergangenheit Deutschlands ins Spiel. Wenn man alles Deutsche vor dem
Hintergrund von Auschwitz betrachtet, dann kann man gar nichts mehr sagen. Alles
mit den historischen Schrecken in Zusammenhang zu bringen, ist Heuchelei. Unter
solchen Umständen wäre alles vorbei. Dann gäbe es keine Komödie mehr."
Die Atmosphäre, in der Walser aufwuchs, interessiert auch den Interviewer.
Walser wurde 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren. Seine Mutter trat bereits
1932 der NSDAP bei. Die Erinnerungen aus jener Zeit schrieb er in dem Buch "Ein
springender Brunnen" nieder, einer Art Autobiographie. Hier hakt Beck nach,
schließlich ist eines der Dinge, die Walser Reich-Ranicki nicht verzeihen kann,
dessen Kritik an diesem Buch. Reich-Ranicki bemängelte, dass Auschwitz in dem
Buch mit keinem Wort erwähnt wurde. Walser verteidigt die These, dass viele
Deutsche erst nach dem Krieg von Auschwitz erfahren hätten: "Wenn man ein Buch
über diese Zeit schreibt, dann kann man es nicht aus dem Gesichtspunkt heraus
schreiben, wie man sich verhalten hätte sollen, sondern wie sich die Leute
tatsächlich verhielten. Und es gab Leute, die es nicht wußten". Und an späterer
Stelle fügt Walser hinzu: "Die Nazis hätten Auschwitz nicht ohne den Krieg bauen
können. Sie haben den Krieg nicht begonnen, um Auschwitz zu bauen. Die Deutschen
haben 'Mein Kampf' nicht gelesen, und niemand wußte, dass Hitler ein solcher
Antisemit ist. Die Endlösung wurde geheim gehalten, denn sie war zu furchtbar.
Die Bevölkerung wäre damit nicht einverstanden gewesen."
Neben diesen abstrusen Vergangenheitswahrnehmungen sind es aber vor allem die
Gegenwartsbetrachtungen des Martin Walser, die dem Leser übel aufstoßen sollten.
Ganz im Sinne seiner Rede von 1998, die den ersten "Antisemitismusstreit" mit
Ignatz Bubis ausgelöst hatte, wiederholt er seine Ansichten, dass die
Vergangenheit von Politikern und Gesellschaft als absolute Schuld eingetrichtert
werde. Das Schulsystem vermittele den jungen Menschen in Deutschland nur die
Schuld, nicht aber die historischen Voraussetzungen. Nach seiner Ansicht gibt es
heute keinen Antisemitismus in Deutschland. "Nach dem Krieg gab es hier eine
Umerziehung, und deshalb haben ein neuer Wahnsinn oder kollektiver
Antisemitismus in Deutschland keine Chance. In Deutschland gibt es keine
Rechtsextremisten im Parlament. Unsere demokratische Entwicklung hat Vertrauen
verdient. Man muss Deutschland nicht wie einen Häftling auf Bewährung behandeln,
der die ganze Zeit beobachtet werden muss." Walser kann der Tatsache, dass die
Leute in Deutschland wachsam gegenüber Antisemitismus sind, nichts positives
abgewinnen. Schließlich gibt es ja seiner Meinung nach auch gar keinen
Antisemitismus, sondern die Medien stellen den Antisemitismus durch Skandale
her.
Auch für die Äußerungen eines Herrn Möllemann und Co. Hat Walser die passende
Erklärung, wenn er das auch für nicht normal hält: "Aber das ist ein Ausdruck
dessen, was in Deutschland passieren könnte. Die Leute wollen dieselben Worte
gegen Israel verwenden, die gegen uns verwendet werden. Die Leute haben das
Gefühl, dass sie eine Schuld mit sich herumtragen müssen, die nichts mit ihnen
zu tun hat. Jetzt freuen sie sich, dass sie Rache nehmen können."
Das Interview hinterlässt den Leser mit gemischten Gefühlen. Einerseits hat man
mehr erfahren als einem lieb ist, die antisemitischen und revisionistischen
Tendenzen Walsers, die er so vehement abstreitet und deren Vorwurf ihn zu Tränen
rühren, erscheinen noch viel tiefgreifender als bisher befürchtet. Andererseits
bleibt man unbefriedigt, Fragen zu den Klischees und Bildern, die Walser
transportiert, bleiben leider unbeantwortet. Für den israelischen Leser mag das
Ganze wie eine wirre Posse erscheinen, die in die Welt der Diaspora gehört.
Hintergrundinformationen:
aue /
hagalil.com
30-07-02 |