Eine Deutschlandreise:
Zwischen zwei Städten
2.Teil
Jaron London, Jedioth achronoth
Die neuen Deutschen
Vor dem Rundgang durch Leipzig hat
man uns ein Treffen mit den Leitern der jüdischen Gemeinde der Stadt
organisiert. Das Treffen fand in dem Gebäude statt, das dem Gemeinderat
auch in den Tagen vor dem Krieg gedient hatte. Stolz zeigten sie uns die
schöne Synagoge, die die Nazis nicht in Brand gesteckt haben, weil sie
zwischen Wohnhäusern steht und man nicht riskieren wollte, das gesamte
Viertel zu verbrennen.
Von den 24.000 Juden, die vor dem
Holocaust in Leipzig gelebt haben, überlebten nur 170, und bis zur
Einigung Deutschlands gab es dort nicht einmal einen Minjan (10 Juden,
die beim Gebet mindestens anwesend sein müssen, d.Ü.). Prof. Eva
Lehmann, eine alte Dame mit strengen Gesichtszügen, ist vielleicht die
letzte Überlebende. Da man uns drängte, das Treffen kurz zu fassen,
schaffte ich es zeitlich nicht, sie auszufragen, und so weiß ich nicht,
wie sie ihr Leben retten konnte und warum sie in der DDR geblieben ist.
Ich erfinde ihre Biographie: Eine Jugend in der kommunistischen Partei,
Leben im Untergrund, Konzentrationslager, Suche nach der Familie, die im
Holocaust umgekommen ist, grenzenlose Einsamkeit, Liebe, der Beschluss,
unter der Schirmherrschaft der UdSSR eine neue Welt aufzubauen, eine
glänzende wissenschaftliche Karriere und Zugehörigkeit zur
kommunistischen Gesellschaft, Ernüchterung, eine Warnung von der Stasi,
Erwachen des Zugehörigkeitsgefühls zum Judentum und jetzt ein Leben, das
sich seinem Ende nähert, und wo keine keine Zeit mehr bleibt, sich
Rechenschaft abzulegen. Diese erfundene Biographie ist nur ein
Gleichnis. Ich habe schon gelernt, dass es keine typischen Biographien
gibt.
Neben der Professorin waren bei dem
Treffen ein verschwiegener Mann und eine redselige Dame anwesend, die
die Gemeindemitglieder vertraten, die aus der ehemaligen UdSSR
eingewandert sind. Die neuen Deutschen bilden die entscheidende Mehrheit
der Juden Leipzigs im besonderen und der Gemeinden Deutschlands im
allgemeinen. Es heißt, ihre Zahl belaufe sich auf 100.000, und wie ich
bereits sagte, ist ihre Einwanderung der Stolz der Bundesrepublik und
der wahre Grund für unsere Einladung.
Die redselige Dame, die erst vor fünf
Jahren aus der Ukraine gekommen ist und bereits fließend deutsch
spricht, erzählte, sie habe Israel zweimal besucht, und unser Land habe
ihr ganz gut gefallen, aber hier fühle sie sich "mehr als Jüdin". In den
Ohren der amerikanischen Mitglieder unserer Gruppe mögen diese
Äußerungen ganz normal geklungen haben, mir drehte sich hingegen der
Magen um. Ich hielt jedoch den Mund. Wer bin ich, dass ich mir ein
Urteil erlauben könnte. Anders verhielt sich da Präsident Eser Weizmann,
der vor fünf Jahren Berlin besuchte und mit seiner typischen Ehrlichkeit
sagte, er verstehe nicht, wie ein Jude in diesem Land leben könne.
Ignatz Bubis, der damalige charismatische Vorsitzende des Zentralrats
der Juden in Deutschland, antwortete wütend, jeder Jude habe das Recht,
genau da zu leben, wo er möchte. Diese Diskussion war reine
Zeitverschwendung. Natürlich "darf" ein Jude leben, wo er will, Eser hat
das nicht in Frage gestellt. Er hat sich nur gewundert. Wundern Sie sich
auch? Ich nicht. Es gibt keine einheitliche Auslegung für kollektive
Erinnerungen. Einige fühlen noch immer die glühende Asche unter
deutschem Boden, andere haben weniger empfindliche Füße.
Kurz nach dem Verschwinden der
Berliner Mauer hat Bubis die deutschen Politiker dazu gebracht,
Vorschriften zu erlassen, die Juden aus der ehemaligen UdSSR zu
Auswanderungsgenehmigungen berechtigen, zu großzügiger wirtschaftlicher
Unterstützung und nach einigen Jahren zur deutschen Staatsbürgerschaft.
Seine erste Sorge galt dabei nicht den notleidenden Juden, sondern den
schwachen Gemeinden, deren Mitglieder das Zeitliche gesegnet haben und
deren Kinder ausgewandert sind oder sich assimiliert haben. Er war ein
polnischer Jude, der sich nach dem Krieg in Deutschland niedergelassen
hat und zu einer sehr geschätzten Persönlichkeit in seinem Adoptivland
werden konnte, so geschätzt, dass ihm sogar vorgeschlagen wurde, für das
Amt des Präsidenten zu kandidieren. Hätte er das gewollt, wäre er
möglicherweise gewählt worden. Seine Lebensaufgabe war es, Deutschland
zu erziehen, und zwar so, dass die jüdischen Bürger in dem Land ihre
Heimat sehen können. Kurz vor seinem Tod gestand er jedoch, dass ihm
dies nicht gelungen ist, und er bat, in Israel beerdigt zu werden.
Die Einwanderungsvorschriften, für die
er sich eingesetzt hat, ähneln dem deutschen "Rückkehrrecht", das nach
dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet wurde, und mit dem die Rückkehr
"ethnischer Deutscher" in die "Heimat" erleichtert werden sollte. So
wanderten 12 Millionen "ethnische Deutsche", die aus dem Sudetenland,
Ostpreußen und anderen europäischen Gebieten vertrieben worden waren,
nach Deutschland aus. Die Fragen der Definition ihrer Identität
unterscheiden sich nur wenig von denen, die uns beschäftigen. Deutsche
Stämme haben sich vor hunderten von Jahren von ihrer Heimat entfernt,
und wer weiß, was ein "ethnischer Deutscher" ist. Seine Erkennung stützt
sich auf seine Verbindung zur deutschen Sprache, aber wie stark muss
diese Verbindung sein?
Man erzählte uns von einem Usbeken,
dessen Antrag abgelehnt wurde, da sein ausgezeichnetes Deutsch den
Verdacht erweckte, er habe es durch Studien erworben, nicht jedoch in
seinem Elternhaus. Jetzt, wie schrecklich ironisch, müssen deutsche
Beamte an den Konsulaten in Rußland, der Ukraine, Weißrußland und
anderen Staaten, deren Namen meist mit "-stan" enden, entscheiden, "wer
ist Jude". Das Ergebnis ähnelt dem, das sich aus unserem Rückkehrrecht
ergibt: "ganze" Juden, Halbjuden, Vierteljuden und gar keine Juden. Die
wirtschaftliche Hilfe, die die Immigranten erhalten, läuft über die
jüdischen Gemeinden, und deshalb - noch mal schrecklich ironisch-
empfehlen die Sozialämter den Juden, sich an diejenigen Gemeinden zu
halten, die ihr Judentum "upgraden". Deutschland trägt zur Blüte der
Juden in der Diaspora bei.
Großvater Bach
Unsere Fremdenführerin: "Und das ist
der städtische Konzertsaal, in dem der berühmte Kurt Masur dirigiert
hat, und jetzt, treten Sie bitte näher, das ist die Statue, die die
DDR-Regierung verboten hat, da sie den Drang zum Ausdruck bringt, sich
von dem Unterdrückungsregime zu befreien. Und jetzt gehen wir nach
rechts, folgen Sie mir bitte, und wir kommen zu der Kirche des heiligen
St. Thomas, in der Johann Sebastian Bach gespielt hat. Leider können wir
die Kirche wegen Renovierungsarbeiten nicht betreten. Sie können sich
jedoch einen Eindruck von ihrer Struktur verschaffen, denn diese hohe
Säule, die auf dem Platz errichtet wurde, ist ein vergrößertes Modell
der Säulen in der Kirche."
Ich habe mir den städtischen Kantor
vorgestellt, der 27 Jahre lang in dieser Stadt lebte und nicht viel
Freude an ihr hatte, jedoch hunderte von Werken komponierte. Durch
dieses Tor trat er jeden Morgen, um mit dem Laienchor der Stadt zu
proben, vielleicht hatte er sogar ein paar belegte Brote bei sich, die
ihm seine Frau zum Mittagessen vorbereitet hat, denn das Gehalt des
Mannes war nicht hoch, jedoch Kinder hatte er reichlich. Jetzt werde ich
gleich Nachrichten hören, die meine Gedanken wie ein Hackbeil
durchschneiden werden.
Das Museum
Zuerst sollte das jüdische Museum nur
eine Abteilung des historischen Museums der Stadt sein, aber als der
israelische Kurator, Amnon Barsell, entlassen, und der Amerikaner
Michael Blumenthal zum Direktor ernannt wurde, war dies nicht länger ein
Museum, sondern ein nationales Projekt, dessen Aufgabe es war, das
dunkle Kapitel in der Geschichte Deutschlands abzuschließen. Amerika -
wer sonst? - erteilt die Bestätigung, dass Deutschland von allen seinen
Sünden geläutert und so rein ist, wie die reinste der Nationen.
Unterschrieben wird diese Bestätigung von einflussreichen Juden, die aus
Deutschland geflohen und in Amerika groß geworden sind. "Wir haben
unseren jahrzehntelangen Kampf abgeschlossen", verkündete Henry
Kissinger, der die Zeremonie eröffnete, bei der die Stipendiaten der
amerikanischen Akademie in Berlin präsentiert wurden.
Die Büros der Akademie befinden sich
an den Ufern des Wannsees, nicht weit von der Villa, in der die Hirne
der Vernichtung die Beseitigung des europäischen Judentums beschlossen
haben. Wir aßen kleine Brötchen und tranken gekühlten Wein. Nicht
zufällig traf diese Veranstaltung zeitlich mit der Eröffnung des Museums
zusammen. Die Akademie soll die kulturellen Beziehungen zwischen
Deutschland und den USA festigen, und viele der Stipendiaten sind
amerikanische Juden. "Deutschland ist eine Demokratie", bekräftigte der
ehemalige Außenminister, ein in Deutschland geborener Jude, "der Eiserne
Vorhang ist gefallen und unser Bündnis ist so fest wie immer."
Der Architekt Daniel Libeskind, ein in
Polen geborener Jude, der mal in Israel vorbeigeschaut, sich dann jedoch
in Amerika niedergelassen hat, ist ein Theoretiker, der nichts
Nennenswertes gebaut hat, bis er dann die Ausschreibung für den Bau des
Museums gewonnen hat. Von außen sieht der Laie ein riesiges, in Zink
eingehülltes Paket, durchzogen von dünnen und geraden Schnitten. In
diesen Schnitten, den Fenstern des Gebäudes, sehen einige einen
Davidstern. Ich habe ihn nicht gesehen. Hätte ich ihn gesehen, dann
hätte ich gesagt, dass ein zersplitterter Davidstern eine beschissene
Symbolik ist. Aus der Vogelperspektive sieht das Gebäude wie ein Blitz
aus. Libeskind, der seine Werke gerne und oft interpretiert, sagt, das
zerbrochene Gebäude sei durch die Verbindung der Linien zwischen den
jüdischen Kulturstätten vor dem Holocaust entstanden. Na ja.
In dem Gebäude geht der Besucher durch
lange Korridore, und schon nach kurzer Zeit hat er sich völlig verirrt.
Als das Gebäude leer stand, haben seine Labyrinthe die Besucher
deprimiert, und es kann sein, dass damit die Absicht des Architekten
erfüllt war. Als es dann jedoch mit Ausstellungsstücken und Stimmen
gefüllt war, stellte es sich heraus, dass Verwirrung eben Verwirrung
ist. Und wie verhält es sich mit dem Inhalt? Die tausendjährige
Geschichte der Juden Deutschlands wird gut dargestellt, aber warum ist
das, was einmal war, verlöscht, und wo liegen die Wurzeln des deutschen
Antisemitismus? Mit dieser, der entscheidenden Frage haben sich die
Gestalter nicht befasst. Der Besucher wird aus dem Museumsbesuch lernen,
dass die Juden einen ansehnlichen Beitrag zu ihrem Land geliefert haben,
und schade, dass dieser Beitrag nicht gewürdigt wurde. Schade, wirklich
schade.
Jaron London, Jedioth achronoth,
08-10-2001
haGalil onLine
22-10-2001 |