Eine Deutschlandreise:
Zwischen zwei Städten
3. Teil
Jaron London, Jedioth achronoth
Die Geschichte von unseren
Freunden, die sich in Berlin niedergelassen haben
Unser Freund G., ein
Mann sanften Aussehens, der immer etwas wütend ist, war unter den
ersten, die zum Jom Kippur Krieg eingezogen wurden, und einer der
letzten, die entlassen wurden. Er hegt schon seit jungen Jahren einen
Groll gegen den Zionismus, der durch diesen Krieg noch verstärkt wurde.
Nach seiner Entlassung sind er und seine Frau eilig nach Deutschland
ausgewandert, um sich in Berlin niederzulassen.
G. und seine Frau sind
Menschen, die an nichts Freude haben, skeptisch und nörglerisch, von der
Art Juden, die sch immer mit der diskriminierten Minderheit
identifizieren, sich dann aber auch schnell gegen sie auflehnen. Und
noch bevor sie in Berlin heimisch wurden, hatten sie schon jeden
Nachteil der deutschen Gesellschaft entdeckt. Sie sind jedoch nicht nach
Israel zurückgekehrt, aus finanziellen Gründen und weil sie nicht
zugeben wollten, einen Fehler gemacht zu haben.
Sie haben sich nur wenige Freunde in
Berlin erworben, und natürlich waren alle in der einen oder anderen Form
Außenseiter. Als sie an einer Sprachschule Deutsch lernten, freundeten
sie sich mit ihrer Lehrerin und ihrem algerischen Mann an. Ihre mutige
Freundschaft brachte sie der verwitweten Mutter der deutschen Lehrerin
nahe, und später, als der Algerier eine Stelle als Dozent an einer
Universität in seiner Heimat erhielt und das Ehepaar nach Algerien
auswanderte, haben sich die Beziehungen zwischen den israelischen
Neueinwanderern und der Mutter gefestigt, bis sie für deren Kinder eine
Art Oma wurde.
Eines Tages ging die Oma nicht mehr
ans Telefon. Sie war verschwunden. Meine Bekannte fuhr sofort in ihre
Wohnung, die sich in einem jener riesigen Arbeiterviertel Berlins
befand. Sie traf sie mit starrem Blick an der Wand lehnend an, in
tiefste Depression verfallen. Sie rief den Algerier an, damit dieser die
Tochter alarmiert, sie war jedoch nicht zu Hause. Die Stunden vergingen,
und der Zustand der Frau verschlechterte sich. Sie saß steif und stumm
da. Meine Bekannte beschloss, sie zu sich nach Hause zu bringen, aber
die Frau war schwer wie ein Stein und rührte sich nicht vom Fleck. Hin
und wieder schrie sie "Nein, nein."
Es wurde Nacht, und es wurde Tag, und
die Algerierin rief an und sagte, sie könne erst in zwei Tagen kommen.
Die Oma lag in ihrem Sessel, starrte zur Decke und brüllte: "Nicht,
nicht.", so als stünde sie vor einem Erschießungskommando. G. wollte
einen Arzt holen, das wollte die Frau aber nicht. "Nicht! Nicht!",
brüllte sie immer wieder, und dann gingen meiner Freundin die Nerven
durch und sie brüllte die arme Frau an: "Nicht, was? Nicht, was?"
Letzten Endes begriff sie, dass die
Schreie irgendwie mit den wirren Blicken in eine bestimmte Richtung der
Wohnung zusammenhängen, die Richtung einer alten Kommode. Als der alten
Dame die Augen zufielen, öffnete sie die Schubladen und fand dort einen
wahren Schatz von Souvenirs aus dem Zweiten Weltkrieg, darunter die
Bilder eines jungen Mannes mit Brille und ernstem Gesichtsausdruck, der
die schwarze Uniform eines Gestapo-Offiziers trägt. Weiter fand sie
Orden, Auszeichnungen für die Teilnahme an entscheidenden Kämpfen und
eine kurze Mitteilung über den Tod des Helden auf dem Schlachtfeld. Auf
einem der Bilder war die glückliche Familie beim Urlaub an der Nordsee
zu sehen. Den Mann in der sportlichen Kleidung erkannte meine Bekannte
als den Gestapo-Offizier, die hübsche junge Frau war die Oma, die nun
fast reglos im Sessel lag, und das süße Mädchen im gestreiften Badeanzug
war natürlich die gute Freundin unserer Bekannten. Die alte Dame öffnete
die Augen, sah, dass unsere Bekannte in der Schublade herumwühlt, schlug
die Hände über dem Kopf zusammen und brach in hemmungsloses Schluchzen
aus.
Unsere Bekannte verbrachte einen
weiteren Tag in dieser Wohnung, bis dann die Rettung kam. Zwei Monate
später kehrte das Ehepaar nach Israel zurück.
Alles ist möglich
Unseren Rundgang durch Leipzig
unterbrach unsere persönliche Fremdenführerin auf Anweisung des
deutschen Außenministeriums. Die Twin Towers. Ich beobachtete, wie sich
die Amerikaner in unserer Gruppe immer enger an die Israelis
anschließen. Man schweigt, man erholt sich ein wenig, man ruft zu Hause
an, meine Tante wohnt ganz in der Nähe, mein bester Freund arbeitet
dort, wer hat diese gemeine Tat verübt, was sagt Bush? Wo ist Bush? Was
soll man jetzt tun? Wie kommt man so schnell wie möglich nach Hause? Und
so müssen Sie immer leben?
Man konnte unsere Fahrt nach Berlin
nicht vorverlegen, und bis zur Abfahrt unseres Zuges saßen wir in einem
riesigen Bierkeller, in dem, so heißt es, Goethe ein Kapitel von "Faust"
geschrieben hat, der Mann, der seine Seele an den Satan verkauft hat. Um
Mitternacht, in meinem Zimmer im Hotel "Hamburg", klingelte das Telefon.
Meine Frau. "Du hast eine Enkeltochter!". Mein ältester Sohn, der in
Seattle lebt, ist Vater geworden.
Ich versuche, das Krankenhaus in
Seattle anzurufen, aber die Leitungen sind zusammengebrochen. Ich möchte
meine Frau in Israel in den Arm nehmen, ich möchte meine neue
Enkeltochter im fernen Amerika umarmen. Schlafen kann ich nicht. Ich
trete ans Fenster und blicke auf die leere, verregnete Straße. Berlin.
Was soll ich in Berlin?
Wie immer versuche ich, meine Stimmung
in Worte zu fassen. "Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht" ist alles,
was mir einfällt. Ich lege mich wieder hin und drücke pausenlos auf die
Fernbedienung. In den Pornosendern stöhnen Frauen lustvoll unter den
festen Hintern gut gebauter Männer. Ich stufe sie nach dem Grad des
Begehrens ein, das sie bei mir auslösen, und schwanke zwischen der
sanften Asiatin und der stürmischen Deutschen.
Der CNN strahlt immer wieder in Slow
Motion die Bilder der Flugzeuge aus, die die Twin Towers rammen, und der
aalglatte Moderator murmelt ständig "Unglaublich, unglaublich!" Was ist
unglaublich, du Narr! Das Ausmaß der menschlichen Bosheit, die
Verletzung der Freien Welt, der Zusammenbruch deiner sicheren Welt oder
die physikalischen Gesetze, die besagen, dass Türme zusammenstürzen,
wenn eine Boeing Maschine sie mit 1000 Kilometern in der Stunde rammt?
Ich traue meinen Augen. Ich habe schon
immer meinen Augen getraut. Ich bin auf alles gefaßt, ich wundere mich
nicht, ich bin nie überrascht. So war es auch im Jom Kippur Krieg, als
ich Rundfunkkorrespondent am Suezkanal war, und um mich herum Panzer in
Flammen aufgingen, und verkohlte Leichen Muster in dem gelben Sand
bildeten. Noch viele Monate später lag ich nachts wach, bis ich
erkannte, dass mich die Gedanken an die verkohlte Hand verfolgen, die
aus dem Sand herausragte, und ich stehenblieb um zu sehen, ob ich wohl
den Mut aufbringen würde, sie zu berühren, was ganz einfach war.
Jaron London, Jedioth achronoth,
08-10-2001
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22-10-2001 |