
Sie ließen einen Teil ihrer
Familie zurück und kamen an einen neuen Ort, um ein neues Leben zu
beginnen – Eine Betrachtung darüber, wie eine geteilte Familie mit dem
Leben zurechtkommt.
Nächtliche Anrufe
über die Weltmeere hinweg
Von Ina Shapiro
„Meine Knie zitterten und mein Herz
schien brechen zu wollen, als ich meine Tochter zum Flugzeug begleitete,
das sie nach Israel bringen sollte. Sie war damals nur 22 Jahre alt
gewesen und reiste in ein fremdes Land. Meine Schwester sagte, dass ich
aussehen würde, als wenn ich an einem Begräbnis teilnähme,“ erinnert
sich Valentina Samik mit Tränen in den Augen. Sie wird den Tag nie
vergessen, an dem ihre älteste Tochter Lena und ihre Familie zusammen
mit ihrem alten Großvater die Stadt Kharkov in der Ukraine im Jahr 1993
verliessen und sie und ihre Familie zurückblieben.
Schmerzerfüllte Abschiede und getrennte
Familien sind ein bekanntes Phänomen bei jeder Aliyah. Aber die Art und
Weise, mit der Einwanderer aus der früheren Sowjet-Union (FSU) diese
Situation meistern, ist einzigartig, denn die meisten von ihnen ließen
ihre nächsten Familienmitglieder zurück. Der Absturz einer
Passagier-Maschine im Oktober, die sich auf ihrem Flug von Israel nach
Sibirien befand, hat das Schlaglicht der Aufmerksamkeit auf diese
Familien geworfen. Die Geschichte der Samik-Familie zeigt die
praktischen und emotionellen Schwierigkeiten und die Dilemmas auf, mit
denen sich viele der Einwanderer-Familien konfrontiert sehen.
Zuerst war es der blinde und taube
Großvater, der darum bat, nach Israel einwandern zu dürfen. Sein
Gesundheits-Zustand schloss es jedoch von vornherein aus, dass er
alleine reisen würde. Lena und ihr Mann Zhenya beschlossen, sich ihm mit
ihren beiden Kindern anzuschließen. „Als die Verkäuferin im Geschäft mir
wieder einmal mitteilte, dass es keine Baby-Milch gebe, obwohl ich mich
seit 4 Uhr früh danach angestellt hatte, und sie mir dann auch noch
sagte, dass ich mein Kind erst gar nicht auf die Welt hätte bringen
sollen, wurde mir klar, dass ich die Ukraine verlassen musste,“ erinnert
sich Lena. „Als mir der Arzt sagte, dass er nicht einmal eine
Grundlagen-Ausstattung an Medikamenten habe, um kranke Kinder behandeln
zu können, beschlossen wir, dass wir unsere Kinder retten mussten. Mein
Mann, der nicht jüdisch ist, war sogar noch mehr als ich dazu
entschlossen, das Land zu verlassen.“
Ihre ersten Tage in Israel waren nicht
einfach: Anpassungs-Schwierigkeiten, die Operationen für den Großvater,
Heimweh nach ihrer Familie in Kharkov. Valentina Samik erzählt, dass
viele der Briefe und Bilder der Enkelkinder, die sie aus Israel
schickten, nicht bei den Empfängern ankamen – sie wurden gestohlen.
Jemand muss wohl gedacht haben, dass die Briefe Bargeld enthielten.
Wie viele der neuen Einwanderer aus der
FSU, konnte es sich Lena nicht leisten , ihre Eltern oft anzurufen, und
sie versuchte wenigstens in den Nächten eine Verbindung herzustellen, wo
die Telefon-Gebühren niedriger waren. Ihre Mutter Valentina hat Tränen
in den Augen, wenn sie sich daran erinnert, wie sie in langen
schlaflosen Nächten voller Angst auf einen Anruf aus Israel gewartet
hat. Sie selbst konnte ihre Tochter nicht anrufen, denn ein
Telefon-Gespräch von der Ukraine nach Israel kostet hier mehr als eine
Monats-Gehalt.
Valentina Samik und ihr Mann sehnten sich
danach, zu ihrer Familie nach Israel zu reisen und bei ihr zu bleiben.
Aber weil sie in Sicherheits-Einrichtungen arbeiteten, wurde ihnen die
Ausreise aus der Ukraine nicht gestattet. Schließlich gaben sie ihre
Arbeitsplätze auf, und nach einer Wartezeit von drei Jahren erhielten
sie ihre Ausreise-Visas. Bis zu ihrer Einwanderung nach Israel hatten
sie praktisch kein Einkommen und auch keine andere Form der
Unterstützung von ukrainischer Seite.
Die Wiedervereinigung der Familie, sagt
Valentina, war ein unvergesslicher Augenblick. Sie erkannten bei der
Ankunft den alten Großvater kaum wieder: Die Operation hatte ihm seine
Sehkraft wiedergegeben und ein Hörgerät hatte seine Taubheit beseitigt.
Aber ihr Glück war noch unvollständig. Die jüngere Tochter, Irena, und
ihr Mann, Silva Goberdovsky, waren in Kharkov zurückgeblieben, um hier
ihre Universitäts-Ausbildung zu beenden. Die ständige Sorge, die
nächtlichen Telefon-Anrufe, und die Briefe, die nicht immer ihren
Bestimmungsort erreichten, – das alles beunruhigte Valentina
fortwährend. Als Irena schwanger wurde, war es für sie und ihren
nichtjüdischen Mann klar, dass sie und ihre Familie Aliyah machen
mussten. Ihr erstes Kind wurde in Israel geboren.
Silvas Mutter und Stiefvater und ihre
Tochter kamen zu Besuch nach Israel. Sie zogen die Möglichkeit in
Betracht, in Israel zu bleiben (sein Stiefvater ist jüdisch). Aber als
ihnen klar wurde, dass sie ihre berufliche Stellung verlieren würden –
der Vater ist Professor für Theoretische Physik an der Universität von
Kharkov und die Mutter ist eine bekannte Lehrerin an ihrem Wohnort –
sagten sie sich, dass sie für eine Aliyah noch nicht bereit waren.
Valentinas vier Enkelkinder verbringen
viele Stunden zusammen. Mit den Erwachsenen in der Familie sprechen sie
Russisch, aber untereinander ziehen sie es vor, auf Hebräisch zu
sprechen. Valentina, von Beruf ist sie Ingenieur, arbeitet in einem
Supermarkt an der Kasse. Ihre Freizeit verbringt sie mit ihrer Familie,
besonders mit den Enkelkindern. Die nichtjüdischen Eltern ihres
Schwiegersohnes haben diese Möglichkeit nicht.
Die Eltern von Zhenya, dem Mann von Lena,
leben in Kharkov. Sie sind einsam und krank. Die meiste Zeit verbringen
sie damit, auf einen Anruf aus Israel zu warten. Zhenya und Lena rufen
so oft wie möglich an und sprechen mit ihnen jedes Mal mehrere Minuten
lang.
Im letzten Jahr gab es viele Anrufe von
Israel aus für Familien-Mitglieder in der FSU. Die örtlichen
Fernsehanstalten dort berichteten ausführlich über die Terror-Angriffe
in Israel und die Verwandten in Kharkov, die mit den örtlichen
Gegebenheiten in Israel nicht vertraut sind, waren sehr besorgt. Zhenya
und Lena, die in Herzliya wohnen, haben es sich schon angewöhnt, ihre
Eltern nach Terror-Vorfällen an der Nord-Grenze des Landes anzurufen.
Valentina hat Kharkov einmal seit ihrer
Aliyah besucht. Ihre gesamte Familie in Israel hat ihre Heimatstadt
mehrere Male besucht, um Verwandte wiederzusehen. Es ist die einzige
Möglichkeit, um die Familie wiederzusehen. Für die Verwandten in Kharkov
ist es viel schwieriger nach Israel zu reisen, sei es nun, weil sie
Einreise-Visas nach Israel benötigen oder wegen den Kosten der Reise
(sie verdienen nur 10-50 Dollar im Monat).
Noch kaum jemand in der FSU hat einen
Computer oder einen Internet-Zugang. Viele Briefe verschwinden auf ihrer
Reise und die einzige Möglichkeit, die Mitglieder von getrennten
Familien haben, um miteinander in Verbindung zu bleiben, besteht darin,
zu telefonieren oder mit dem Flugzeug zu reisen. Deshalb ist es nicht
überraschend, dass jeden Tag viele Flüge von Israel aus starten, die
verschiedene Gebiete in der gesamten FSU zum Ziel haben. Die meisten der
Passagiere sind Mitglieder solcher Familien; Touristen und
Geschäftsleute befinden sich in der Minderzahl. Die Tragödie des
Absturzes der Siberia Air-Maschine hat die Angst der Menschen ansteigen
lassen, aber dies wird diese Einwanderer sicherlich nicht davon
abhalten, wieder ein Flugzeug zu besteigen.
Ha’aretz, 2. 11. 2001
haGalil onLine
11-12-2001 |