Einigkeit ist nur eine Parole
Wenn die Juden in Frieden
mit den Palästinensern leben wollen, müssen sie ihre eigene
Verschiedenartigkeit anerkennen. Dies erfordert eine
Neuformulierung des Zionismus
Von Dan Bar-On
Aus dem Englischen von Meino Büning
Am Gebäude der Jewish Agency in Jerusalem
hängt eine große Parole: "Wir werden unseren Traum weiter
leben." An Kreuzungen findet sich eine andere Parole: "Der
Zionismus wird siegen." Die Erfinder dieser Parolen sind
Vertreter des Weltjudentums, die uns beim Träumen und Siegen
helfen wollen. Sie könnten für ihre Kreativität ein Lob
verdienen. Ich fürchte allerdings, dass ihnen nicht klar ist,
wie jämmerlich der Sinn dieser Parolen so manchem unter uns
erscheint. Wären wir noch so einig, wie wir es in den Fünfziger-
und Sechzigerjahren waren (oder wie es uns zumindest in der
Rückschau erscheint), dann wären die Parolen überflüssig.
Aber da wir es heute nun einmal nicht mehr sind,
lehrt uns das bloße Auftauchen solcher Parolen mehr über die
Verzweiflung ihrer Erfinder als über ein beliebiges anderes
soziales Phänomen. Warum sind wir so verzweifelt, und warum
empfinden so viele von uns ein Gefühl der Verwirrung bei den
Fragen, "Wer sind wir?", "Woher kommen wir?" und "Wohin gehen
wir?"? Es ist wahr: Außer Israel haben wir keinen anderen Staat
- aber ist uns auch der Zionismus noch von Nutzen?
Während der letzten beiden Jahre gab es für
diese Frage im Grunde nur eine Antwort: Schuldig sind die
Palästinenser, und ganz besonders Jassir Arafat. Er hat alles
zunichte gemacht, als er in Camp David Baraks großzügige
Angebote zurückwies. Die Palästinenser wollen uns loswerden,
ihre Flüchtlinge an unserer Statt ansiedeln, und deshalb müssen
wir Entschlossenheit zeigen und werden schließlich siegen. Ohne
genauer auf die politische Diskussion oder die Stichhaltigkeit
dieses Argumentes einzugehen, ist es doch deutlich, dass wir auf
diese Weise einen Teil unserer intern ungelösten Probleme bei
der Gestaltung unserer Identität auf die Palästinenser
projizieren wollen. Es klingt, als wollten wir ihnen sagen:
"Solange die Probleme mit euch nicht gelöst sind, sind wir von
der Verpflichtung entbunden, uns mit uns selbst auseinander zu
setzen und drängende Fragen zu beantworten." Und so leben wir
weiter, von einer Explosion zur nächsten, im Vertrauen auf Gott
und/oder unseren Premierminister, und ersparen uns jede weitere
Frage.
Vielleicht gibt es ja Menschen, die diese
beunruhigenden Fragen mittels solcher Projektionen unterdrücken
können, aber für die meisten von uns liefert dieses Argument
("Die Palästinenser sind an allem schuld") überhaupt keine
Lösung. Die Parolen der Jewish Agency tragen bloß dazu bei,
unsere Angst und Verwirrung zu steigern.
Viele von uns haben das Gefühl, dass uns das
Erziehungsministerium mittels seiner Slogans und anderer
seltsamer Praktiken von oben zu gängeln versucht. Im Grunde
wissen wir ja genau, dass wir keine Einheit mehr bilden, dass
also der Zionismus keine einheitliche Angelegenheit mehr ist. Es
ist uns also klar, dass wir nicht mehr so tun können, "als ob
solche Fragen jetzt einfach nicht auf die Tagesordnung gehören".
Vielleicht ist es an der Zeit, deutlich zu machen, dass
Konstruktionen kollektiver Identität ein Interpretationssystem
schaffen sollen, das uns ein Gefühl für uns selbst und die Welt
um uns herum vermittelt. Ein solches System muss Platz für die
Veränderungen bieten, die da draußen und in uns selbst ablaufen.
Ein solches System ist konservativ: Auch wenn uns viele
Informationen erreichen, denen das System keinen Sinn mehr
abzugewinnen vermag, tendieren wir dazu, uns an dieses System zu
klammern und widersprechende Informationen zu ignorieren. Erst
wenn das System zusammenbricht und nichts mehr unterdrückt
werden kann, werden wir in eine "Begriffskrise" geraten. Eine
solche Krise ähnelt anderen physischen oder geistigen Krisen:
Sie verursacht so lange große Schmerzen, bis es uns gelingt,
unsere Identität in ein besseres und wirksameres
Interpretationssystem einzupassen. Unsere Begriffskrise hängt
wahrscheinlich damit zusammen, wie unsere kollektive
(zionistisch-jüdisch-israelische) Identität überhaupt zustande
gekommen ist.
Sie wurde monolithisch konstruiert, gegen
mehrere "andere" - vor allem jüdische "andere": gegen den Juden
aus der europäischen Diaspora, gegen den wir eine neue Identität
des israelischen Helden mit Pflug und Gewehr entwickelten.
Später gegen den ethnischen Juden, der Anfang der Fünfzigerjahre
aus den arabischen Ländern zu uns kam und sich dem neu
entworfenen Bild des israelischen Sabra anpassen sollte. Externe
"andere" kamen hinzu: jene, die uns jahrhundertelang verfolgt
hatten, dann die Nazis (die uns vollständig vernichten wollten)
und schließlich die Araber (die uns ins Meer treiben wollten).
In den ersten Jahren des Staates Israel konnte diese
monolithische Konstruktion eine Funktion erfüllen, als wir aus
allen Teilen der Welt zusammenkamen und mehr Unterschiede
aufwiesen als Gemeinsamkeiten. Aber diese Funktionalität war
zeitlich begrenzt. Allmählich begann diese monolithische
Konstruktion zu bröckeln. Eine ganze Reihe von Meilensteinen
begleitet den Prozess ihrer Auflösung: die ersten ethnischen
Unruhen Mitte der Sechzigerjahre, 1977 der Aufstieg der Parteien
des rechten Flügels, 1982 dann der Krieg im Libanon, schließlich
der Mord an Rabin und der Aufstieg der ethnisch orientierten
Schas-Partei. Es war nicht länger zu leugnen: Wir sind nicht
mehr von einem Schlag - die monolithische Konstruktion löst sich
auf.
Der Friedensprozess, der 1977 mit Ägypten
begann, beschleunigte den Auflösungsprozess für viele Angehörige
der jüdischen weltlichen Mehrheit in Israel, und das führte zu
Angst bei der ersten Gruppe, die eine neue monolithische Phase
ersehnte. Der Auflösungsprozess ist schmerzhaft für alle. Er ist
eine Art Begriffskrise, die Schmerzen auslöst, so wie es weh
tut, erwachsen zu werden. Eines Morgens wacht man auf und weiß
nicht mehr genau, wer man ist: der Mensch von gestern oder der
von morgen, den man noch nicht kennt - wird man ihn mögen?
All dies galt bis zum Oktober 2000, als die
Al-Aksa-Intifada ausbrach, vielleicht auch noch bis zum Einsturz
der Zwillingstürme in New York vor unseren Augen. Nun hat ein
eindeutiges Gefühl von Angst und Verwirrung die Herrschaft
übernommen; allgemein herrscht die Empfindung vor, wir könnten
uns die Fortsetzung des Umdenkungsprozesses, der bereits
begonnen hatte, nicht länger leisten. Angesagt sind jetzt
schnell fertige und eindeutige Begriffe, die definieren, wer
böse ist und wer gut. Und für diese Begriffe sorgten die Jewish
Agency, Scharon und Bush: Sie liefern uns simple,
"neomonolithische" Konstruktionen, in Form der eingangs
erwähnten blauweißen Parolen oder des "Kriegs gegen den Terror".
Aber auch wenn uns die palästinensischen Bombenanschläge zu Tode
erschrecken - es ändert nichts an der Tatsache, dass die
Auflösung der früheren monolithischen Konstruktion nicht mehr
rückgängig gemacht werden kann. So finden wir uns zwischen zwei
widersprüchlichen Prozessen gefangen, taumeln aus einer Krise in
die nächste, ohne wirklich zu verstehen, wer wir sind, und wohin
wir gehen.
Bei einigen meiner Interviewpartner stieß ich
auf eine innovative Lösung - auf einen Trend, dem ich auch in
Amos Oz neuestem Roman begegnete. Wenn ich Menschen interviewe
und sie bitte, mir ihre Familiengeschichte zu erzählen,
beobachte ich seit einiger Zeit, dass die Menschen europäischer
Herkunft andere Schwerpunkte betonen. Früher erzählten sie ihre
Geschichte gewöhnlich im Begriffsrahmen des zionistischen
Helden, der aus Idealismus nach Israel kam. Jetzt heben sie eher
die Familienmitglieder hervor, die Flüchtlinge wurden, weil sie
verfolgt wurden, die in aller Eile fliehen mussten und hierher
kamen, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Das ist ein Beispiel
für die Umgestaltung einer kollektiven Identität: weniger
Idealismus, mehr äußerer Zwang.
Welche Funktionen erfüllt diese Umgestaltung der
Familiengeschichten? Zumindest zwei: Sie leistet bessere Dienste
in der Auseinandersetzung mit ethnischen Juden, die aus den
arabischen Ländern eingewandert sind ("Wir haben auch
gelitten"), und vor allem in der Konfrontation mit
Palästinensern: "Wir sind Flüchtlinge wie ihr, für die es keine
Heimat mehr gibt. Flüchtlingsschicksal gegen
Flüchtlingsschicksal." Das bedeutet, dass anstelle der Parole
"Der (alte) Zionismus wird siegen" die richtige lauten muss:
"Der Zionismus muss dringend neu formuliert werden." An der
Basis, unter den schwierigen Bedingungen einer wirtschaftlichen
und politischen Krise, läuft dieser Prozess der Neuformulierung
längst ab. Aber vielleicht kennen wir Juden auch gar keinen
anderen Weg: Wir ändern uns erst, wenn wir mit dem Rücken zur
Wand stehen.
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02-09-02 |