Zur Enteignung verpflichtet:
Georges Bensoussans Geschichte des Zionismus
Mit der aktuellen Phase der
gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Israeli und Palästinensern hat
das Buch gar nichts zu tun, denn es beschreibt die Zeit von 1860 bis
1949. Oder alles, denn die Wurzeln des Konflikts sind selten so
gründlich, so ausführlich und so leidenschaftslos dargestellt worden wie
hier.
Der Autor ist kein Zionist. Le Monde
zitiert ihn mit dem Ausspruch, selbst die Bezeichnung sei unter den
gegenwärtigen Umständen „wie eine knallharte Beleidigung“. Aber als
sachkundiger Historiker, der viel über Probleme des Judentums, des
Antisemitismus und über die Shoa gearbeitet hat, ist Bensoussan auch
kein Anti- Zionist: Denn er verfügt, wie er selber sagt, über „die
notwendige Empathie der Kenntnis“. Seine Sympathien gehören einem
humanistischen, fortschrittlichen, laizistischen Zionismus in der
Tradition Martin Bubers, dessen politische Chance vielleicht in einem
binationaler Staat hätten liegen können.
Mit der Erbsünde des Zionismus, der These vom „Land ohne Volk für das
Volk ohne Land“, wird gründlich aufgeräumt. Die frühen Zionisten waren
nicht blind für die Tatsache, dass das osmanische Palästina bereits
seine arabische Bevölkerung hatte. Einer der wichtigsten zionistischen
Vordenker, Ahad Haam, schrieb bereits 1891 nach Rückkehr von einer
ersten Reise ins Heilige Land. „Wir im Ausland haben die Gewohnheit, zu
glauben, dass Palästina ein fast völlig verlassenes Land ist, eine nicht
bebaute Wüste, ein Brachfeld, wo jeder, der Grund erwerben möchte,
hinfahren und nach Lust und Laune Boden kaufen kann. In Wirklichkeit ist
das nicht so. Im ganzen Land ist es schwer, ein fruchtbares Feld zu
finden, wo nicht gesät ist.“
Ländliche Legende
Bensoussan führt viele Zeugnisse auf, die in die gleiche Richtung
weisen. Und er zeichnet akribisch die Bevölkerungsentwicklung nach. Um
das Jahr 1800 hatte Palästina 300 000 Bewohner, darunter 8 000 Juden.
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an stieg die Bevölkerungszahl rasch,
während sich gleichzeitig die Landwirtschaft entwickelte. Ein Indiz
dafür ist, dass sich der Export von Agrargütern verdoppelte. Doch nicht
nur Juden kamen, sondern auch viele Ägypter sowie Tscherkessen aus den
verlorenen Kaukasus- Provinzen der Osmanen. Ein Jahr vor Ausbruch des
Ersten Weltkriegs hatte Palästina 760 000 Einwohner, unter ihnen 85 000
Juden und 80 000 Christen. Auch der Kibbutz-Mythos oder „die Legende vom
ländlichen Zionismus“ hatte schon damals wenig Realität. Zur Zeit des
ersten Zionisten-Kongresses von 1897 lebten 3 372 jüdische Siedler in 16
ländlichen Kolonien. Im Jahre 1918 gab es 40 solcher Kibbutzim. Ihre 12
000 Kolonisten machten drei Prozent der Landbevölkerung von Palästina
aus. Vier Fünftel der jüdischen Immigranten zogen sofort in die Städte.
Wurde das Problem der arabischen Präsenz gesehen? Der Autor hat für
diese Frage eine Reihe von Antworten. Ein Teil der Siedler behandelte
den nationalen Konflikt wie einen Klassenkampf. Aus ihrer Sicht, die in
der osteuropäischen Heimat von sozialistischen Vorstellungen geprägt
war, hatten sie es auch in Palästina mit dem Feudalismus zu tun. Allein,
wenn ein arabischer Großgrundbesitzer früher sein Land an einen anderen
verkauft hatte, berührte dies das Leben der Pächter nicht. Verkaufte er
dagegen an Zionisten, mussten die palästinensischen Bauern gehen.
Theodor Herzl hatte sich im Leben bloß 48 Stunden lang in Palästina
aufgehalten. Aber schon er erkannte, dass die arabische Bevölkerung der
Verwirklichung seiner Ideen im Wege stehen würde. Begriffe wie
„Umsiedlung“ oder „Transfer“ tauchten damals zum ersten Mal auf. „Wir
müssen auf korrekte Weise enteignen“, notierte Herzl 1895. „Wir werden
versuchen, die ärmsten Teile der Bevölkerung auf der anderen Seite der
Grenze anzusiedeln und ihnen zur Beschäftigung in den Aufnahmeländern
verhelfen, aber ihnen die Beschäftigung in unserem Land vorenthalten.“
Die moralischen Bedenken gegen eine gewaltsame Vertreibung, wie sie 1948
erfolgte, hielten sich bei maßgebenden zionistischen Pionieren lange.
Aber nicht bei allen. Menahem Ussischkin, einer der Zionistenführer, der
sich immer gegen Kompromisse und Teilungspläne für Palästina gewandt
hatte, schrieb 1936, man solle die Palästinenser „so weit wie möglich
freiwillig“ zum Abzug bewegen. „Und nur, wenn es keine anderen Mittel
gibt, wären wir verpflichtet, zur Enteignung überzugehen.“ Zwei Jahre
später hatte sich seine Position so weit radikalisiert, dass er fand, es
käme einer dritten Zerstörung des Tempels gleich, wenn ein künftiger
Judenstaat eine starke arabische Bevölkerung behielte.
Es war David Ben Gurion, der den fatalen Gedanken als erster ganz
deutlich formulierte. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg, am 12. Juni 1938,
sagte der Gründervater des israelischen Staates von 1948: „Ich bin für
eine Umsiedlung mit Gewalt. Ich sehe darin nichts Unmoralisches.“
Freilich sprach Ben Gurion nicht öffentlich, sondern in einer
geschlossenen Sitzung der Jewish Agency, der jüdischen
Selstverwaltungsorganisation im britischen Mandatsgebiet. Er war keine
Randfigur, sondern deren Vorsitzender. Als Ben Gurion mit der
Unabhängigkeit Ministerpräsident wurde, mussten die Palästinenser gehen.
Und als er nach einem Intervall von zwei Jahren 1953 an die Macht
zurückkehrte, machte er sofort die weit fortgeschrittenen
Friedensinitiativen seines Vorgängers Mosche Scharett zunichte. Isaak
Deutscher nannte ihn „den bösen Geist Israels“. Zionismus als Idee ist
letztlich nur im historischen Kontext des Kolonialismus begreifbar. Was
die Eingeborenen wollten, fühlten oder dachten, war für Europäer auch
anderswo auf der Welt irrelevant.
RUDOLPH CHIMELLI
GEORGES BENSOUSSAN: Une histoire intellectuelle et politique du
sionisme, Fayard, Paris 2002. 1079 Seiten, 47 Euro.
sz 17-06-02
haGalil onLine 17-06-2002 |