Untersuchung enthüllt:
25 % der jüdischen Bevölkerung von Argentinien leben
unterhalb der Armutsgrenze
Von Ya’ir Sheleg
Bereits seit einigen Jahren hält eine
ernste Wirtschaftskrise Argentinien im Griff, wovon auch die jüdischen
Gemeinden des Landes betroffen sind. Eine neue Untersuchung, die von dem
jüdischen Wirtschaftswissenschaftler Bernardo Gliksberg durchgeführt
wurde, enthält Zahlen, die den zunehmenden Ernst der Krise belegen.
Gliksberg, der als besonderer Berater der All-America Bank für
Gesellschafts-Entwicklung arbeitet (und auch Präsident des Ausschusses
für Gesellschafts-Entwicklung des Jüdischen Kongresses von Latein
Amerika ist), schreibt in seiner Untersuchung, dass in den 60er Jahren
die Hälfte der jüdischen Gemeinschaft, die sich heute auf etwa 200 000
Personen beläuft, als Teil der Mittelklasse bezeichnet werden konnte.
Dagegen können heute nur 25 % als solche eingestuft werden. Weitere 25 %
leben im Gegensatz dazu entweder am Rande oder unter der Armutsgrenze.
Die Zahl der Menschen, die von den großen
Unterstützungs-Organisationen der Gemeinden betreut werden, ist in den
letzten wenigen Jahren von 4000 auf 20 000 angestiegen, so die
Untersuchung von Gliksberg. Etwa 10 % der 20 000 Schüler an den
jüdischen Schulen bekommen täglich nur eine warme Mahlzeit an den
Schulen. 1700 jüdische Familien haben alleine in Buenos Aires ihr Heim
verloren. 300 Familien erhalten alles, von der Nahrung bis zur
medizinischen Versorgung, von der Emanuel Synagoge, einer jüdischen
Reform-Einrichtung. 500 Arbeitssuchende werden jeden Monat in die Liste
der Gemeinde aufgenommen, die ein Programm dargestellt, das die jüdische
Gemeinde ins Leben gerufen hat und das darauf abzielt, Arbeitsplätze
ausfindig zu machen und Berufsumschulungen zu ermöglichen.
Diese trockenen Zahlen sagen nichts über
die sozialen Realitäten aus. Gliksbergs Untersuchung beschreibt, wie
„jeden Mittwoch morgen jüdische Menschen, die einmal der Mittelklasse
angehört haben, zu einer der Wohlfahrts-Organisationen kommen, um ein
Frühstück zu bekommen und sich ein Essens-Paket abzuholen.“ Andere
Beschreibungen betrachten das Schamgefühl als das größte Problem, das
Juden der Mittelklasse haben, wenn sie sich an ihren neuen Status als
arme Menschen gewöhnen müssen. Nach den Worten von Anita Weinstein, der
Direktorin des Gemeinde-Ausschusses, der Körperschaft, die sich mit
internen Gemeinde-Angelegenheiten befasst, „gibt es diejenige, die
darauf bestehen, in der gleichen Wohnung zu bleiben, obwohl sie kein
Geld haben, um die Elektrizitäts-Rechnung zu bezahlen; sie sitzen
einfach im Dunkeln.“
Der stellvertretende Minister für
Eingliederung in Israel, Yuli Edelstein, der kürzlich Argentinien
besuchte, sagte, dass „viele sogar die Schwelle der Scham überwunden
haben und mich dazu einluden, die Gemeinde-Küche auszumalen, die für
viele die einzige Quelle einer warmen Mahlzeit darstellt. Ich habe mich
geschämt, diese zu betreten, damit ich niemanden beleidigte, aber viele
Menschen schilderten mir ganz bereitwillig ihre Situation. Sie haben
offenbar die Schwelle des sich Schämens überwunden.“
David Pilk, ein früherer Sekretär der
Jüdischen Gemeinde, erklärte Reportern von Ha’aretz vor einigen Jahren,
dass die wirtschaftliche Krise durch die Politik des früheren
argentinischen Präsidenten Carlos Menem ausgelöst worden sei. Dieser
führte eine weitreichende Privatisierung und die völlig Öffnung des
internen Marktes für Importe von Wettbewerbern ein – was zum
Zusammenbruch von vielen Geschäften führte, besonders von kleinen
Unternehmen, bei denen viele Juden beteiligt waren. Auch die Gemeinde,
als eigene Körperschaft, war von der Krise nach dem Zusammenbruch
einiger jüdischen Banken ernsthaft betroffen, denn bei ihnen war ein
großer Teil des Gemeinde-Vermögens angelegt gewesen. Als Ergebnis wurde
aus der gutsituierten Gemeinde eine Einrichtung, die mit mehreren zehn
Millionen Dollar verschuldet ist.
Währenddessen sind in den letzten Jahren
einige Einrichtungen gegründet worden, um zu versuchen, wenigstens
Teil-Lösungen für die Krise bereitzustellen. Der Joint hat in diesem
Jahr eine besondere Spende von einer Million Dollar geleistet, die
Wohlfahrts-Aufgaben in Argentinien zugute kommt. Dieses Geld, neben
anderen Dingen, wurde dazu verwendet, ein Essens-Programm einzurichten,
dessen Aufgabe es ist, Mahlzeiten für bedürftige Juden im ganzen Land zu
verteilen.
Einige der reicheren Mitglieder der
Gemeinde haben eine Zedaka Wohlfahrts-Stiftung gegründet, die auch Essen
und Medikamente verteilt, die die Versorgung der Alten unterstützt und
auch in anderen Bereichen aktiv ist. Kürzlich stellte die Stiftung 12
Wohnungen für bedürftige Familien zur Verfügung, die ihr Heim verloren
hatten.
Die Gemeinde gründete auch ein Zentrum,
um Arbeitsplätze zu finden und berufliche Weiterbildung zu ermöglichen.
Benny Zugman, der Schatzmeister der Gemeinde, findet jährlich etwa 1000
Arbeitsstellen (wie bereits erwähnt, nimmt die Liste der
Arbeitssuchenden jeden Monat um 500 zu.) Kürzlich wurde in Buenos Aires
zwischen der All-America Bank und der örtlichen jüdischen Gemeinde ein
Abkommen mit einer Investition von 3,7 Millionen Dollar unterzeichnet,
nach dem die Aktivitäten der Gemeinde auf ganz Argentinien in den
nächsten drei Jahren ausgeweitet werden sollen (die eine Hälfte des
Geldes kommt von der Bank, die andere Hälfte von der Gemeinde). Nach den
Worten von Zugman liegt das Ziel darin, jedes Jahr 10 000 Arbeitsplätze
zu finden.
Die Jewish Agency hat ebenfalls ein
Programm für ergänzende jüdische Erziehung ins Leben gerufen, das
zweimal in der Woche all jenen jüdischen Schülern zur Verfügung steht,
die jüdische Schulen verlassen haben. Offenbar wird die Krise
möglicherweise auch die Aliyah nach Israel sprunghaft ansteigen lassen.
Der Vorsitzende der Jewish Agency, Sallai Meridor, sagte ohne zu zögern,
„dass diese schwierige Krise auch eine große Gelegenheit zur Aliyah
darstellt, und nicht versäumt werden sollte.“
In diese Richtung wurden auch bereits
gewisse Schritte unternommen. Etwa ein ganzes Jahr lang erhalten
Einwanderer aus Argentinien - die einzigen bisher aus dem Westen – ein
Einwanderungspaket von etwa 2000 Dollar pro Person (was vom Status der
Familie der oder des Einwanderers abhängt), um mit dem
Eingewöhnungs-Prozess in Israel beginnen zu können. Die Agency
ermöglicht es den Einwanderern auch, in ihren Eingliederungs-Zentren ein
Jahr lang zu bleiben, wohingegen bisher der Aufenthalt auf zwei Monate
beschränkt war.
Dennoch sind die Aliyah-Zahlen nicht
beeindruckend. Gegenwärtig sprechen wir von jährlich etwa 1500
Einwanderern. Dies stellt dennoch einen Anstieg von 30 % gegenüber
früheren Jahren dar – aber das ist keine hohe Zahl.
Mario Weinstein, Redakteur der
jüdisch-spanischen Wochenzeitschrift Aurora,
erklärt, dass viele der jüngst verarmten Menschen es vorziehen, in ihrem
Geburtsland zu bleiben: „Bei den schwierigen Lebensumständen, in denen
sie sich befinden, haben sie Angst, dass sie nicht genügend Mittel haben
werden, um ein neues Leben in Israel zu beginnen.“ Deshalb halten sie an
ihrem familiären Umfeld fest, das ihre Probleme kennt, das ihnen hilft
und sogar noch ihre Sprache spricht.“
Von denen, die das Land verlassen,
versuchen viele in spanisch-sprechende Gebiete zu reisen, wie Miami,
Florida (wenigstens bis zu den Angriffen vom 11. September) oder nach
Spanien selbst.
Quita Hasson, ein Gesandter der Jewish
Agency in Argentinien, und Mario Weinstein stimmen darüber überein, dass
jüdische Gemeinden in der ganzen Welt, „deren Vorräte erschöpft sind“,
versuchen, sich neues Leben einzuhauchen, indem sie Juden aus
Argentinien anziehen.
Vor diesem Hintergrund hat die Agency
kürzlich vorgeschlagen, ein Sozial-Unterstützungs-System zu schaffen,
das über das Eingliederungs-Paket hinausgeht und jenen Juden zugute
kommen soll, die aus drei Ländern stammen, die als mögliche Quellen der
Aliyah identifiziert wurden: Argentinien, Frankreich und Süd Afrika.
Der gemeinsame Koordinierungs-Ausschuss
der Regierung und der Jewish Agency genehmigte vor fünf Monaten diesem
Vorschlag, aber das Finanz-Ministerium hat bisher noch nicht die
Finanzierung dieses Programms im Staats-Haushalt des kommenden Jahres
aufgenommen.
Die Zahlen der Armut unter den Juden in Argentinien
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25 % der Gemeinde-Mitglieder leben an
oder unter der Armutsgrenze.
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In den 90er Jahren fielen 20 % der
Gemeinde-Mitglieder unter die Armutsgrenze.
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In den letzten Jahren ist die Zahl jener
jüdischen Menschen, die Unterstützung von jüdischen
Wohlfahrts-Organisation in Buenos Aires erhalten, von 4000 auf 20 000
angestiegen.
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Jeden Monat nimmt die Liste des von der
jüdischen Gemeinde eingerichteten Arbeits-Vermittlungs-Zentrums um etwa
500 arbeitssuchende Personen zu.
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1700 Familien in Buenos Aires haben ihr
Heim verloren.
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50 % der Schüler von Jüdischen Schulen
erhalten Stipendien der Gemeinden.
Ha’aretz, 29. 11. 01
Quelle: Untersuchung von Bernardo Gliksberg,
Präsident des Ausschusses für Gesellschaftliche Entwicklung des
Jüdischen Kongresses von Latein Amerika.
haGalil onLine
11-12-2001 |