"Es wird gebaut wie nie zuvor":
Späher im Auftrag der Wahrheit
Dror Etkes schreibt jeden Tag
die Landkarte der Siedlungen von Juden im Westjordanland neu: Hügel
werden besetzt, Container aufgestellt, Zäune gezogen – ein Israeli
registriert die Landnahme seiner Landsleute in palästinensischem
Terrain
Von Thorsten Schmitz
Jerusalem, im Dezember – Mit der
Johannespassion im Ohr und im Vertrauen darauf, dass das Schicksal
es gut meinen möge, verlässt Dror Etkes an einem strahlenden
Sonntagmorgen das Stadtgebiet von Jerusalem. Beschwingt von Bach,
rast der 35 Jahre alte Etkes mit seinem ungepanzerten Pick-up-Wagen
ins Westjordanland, wo Juden Gefahr laufen, erschossen zu werden.
Nie würde Dror Etkes deshalb zusammen mit seiner Freundin durchs
Westjordanland kurven, obwohl sie sehr neugierig ist, was er da so
erlebt. Sie muss sich mit Erzählungen zufriedengeben, denn "wir
haben zwei Töchter, einer muss am Leben bleiben", sagt Dror Etkes
und lächelt. Wie er überhaupt an den unpassendsten Stellen lächelt.
Einmal an diesem Tag sagt er mit demselben Lächeln den
hoffnungsleeren Satz: "Der Krieg wird noch Jahre weitergehen." Und
wenn man ihn fragt, was es dabei zu lächeln gebe, schießt er mit
einer Frage zurück: "Soll ich weinen? Ich habe in den letzten drei
Jahren genug geweint. Ich habe keine Tränen mehr."
Dror Etkes könnte sein Leben sicherer machen und
gleichzeitig die Unruhe seiner Freundin drosseln, wenn er sich
morgens von ihr verabschiedet. Er könnte etwa die Buchstaben "TV"
mit Klebeband auf den Wagen zeichnen, wie das alle Journalisten in
Israel tun, oder arabische Aufkleber von "Peace now" ans Heck
pappen, um sich so als Freund der Palästinenser zu etikettieren.
Dann aber würde er die jüdischen Siedler gegen sich aufbringen. Also
jagt Dror Etkes hauptberuflich inkognito durchs Westjordanland.
Palästinenser, israelische Soldaten, jüdische Siedler, sie alle
halten ihn für einen jüdischen Siedler.
"Perfekte Apartheid"
Die Camouflage hat ihm zu einem Ruf als
vertrauenswürdiger Experte verholfen, der sich bis ins Weiße Haus
herumgesprochen hat: Dror Etkes gilt im Nahen Osten als der
bestinformierte Mann, was jüdische Siedlungen und illegale
Außenposten angeht. Im Auftrag von der größten israelischen
Friedensbewegung "Peace now" kartografiert, fotografiert, zeichnet
und registriert Etkes jede Siedlungsaktivität im Westjordanland.
Kein Baukran entgeht ihm, kein Wohncontainer, keine Antenne, kein
plötzlicher Stromanschluss, keine Wasserleitung: Dror Etkes ist die
lebende Landkarte des Westjordanlandes.
Er glaubt Regierungschef Ariel Scharon nicht, der
Evakuierungen von Siedlungen in Aussicht stellt: "Ich vertraue
meinen Augen." Was Dror Etkes mit diesen seit anderthalb Jahren
sieht, sei eine "ungezügelte" Bauwut auf dem Land, auf dem die
Palästinenser gerne einen eigenen Staat errichteten. Dass
ausgerechnet Palästinenser Häuser, Zäune, Straßen für die jüdischen
Siedler bauten, nennt Etkes "perfekte Apartheid: die Palästinenser
arbeiten für die Siedler".
Ausgestattet mit einer digitalen Kamera, einem
unfassbaren Gedächtnis und einem Exemplar des Alten Testaments im
Handschuhfach, dokumentiert Etkes die Landnahme im Namen der Bibel.
Die Denkweise der religiösen Siedler ist ihm vertraut, weil er aus
einem religiösem Elternhaus stammt. Was Etkes sagt, klingt nicht
nach einem Auszug der Siedler aus den Palästinensergebieten: "Es
wird gebaut wie nie zuvor. Die Siedler erobern einen Hügel nach dem
anderen." Und wenn sie es sich dort erst einmal wohnlich gemacht
haben, soll es ihnen an nichts fehlen.
Etkes jagt mit seinem Wagen eine noch nicht
asphaltierte Straße entlang, die für 120 Millionen Dollar Jerusalem
mit den südöstlich gelegenen Siedlungen Nokdim und Tekua verbinden
wird. Die künftig nur Siedlern vorbehaltene Straße hat für die 1200
Siedler zwei Vorteile: Die Fahrtzeit nach Jerusalem reduziert sich
auf bloße zehn Minuten. Zudem wird das Leben der Siedler sicherer,
denn künftig müssen sie nicht mehr palästinensische Dörfer
durchqueren, sondern fahren an ihnen vorbei. An manchen Stellen via
Brücken sogar darüber hinweg: Die Siedler oben, die Palästinenser
unten. Peace Now argwöhnt, dass die Genehmigung für die Straße auch
deshalb so schnell erteilt wurde, weil Verkehrsminister Avigdor
Lieberman in Nokdim lebt (insgesamt sind vier Minister in Scharons
Regierung Siedler).
Jedesmal, wenn Dror Etkes die Palästinensergebiete
inspiziert, nimmt er sich eine andere Ecke vor. Oft kämen Siedler
über Nacht mit ihren Karawanen, und ein jahrelang leerstehender
Hügel sei plötzlich belebt, sagt er. Ohne einen Blick in seine
Aufzeichnungen werfen zu müssen, kann Dror Etkes die Daten
herunterrattern, wann Siedlungen und Außenposten errichtet und (in
den seltensten Fällen) aufgegeben wurden. Hunderte und tausende
Kilometer legt Etkes jeden Monat in seinem Geländewagen zurück,
manchmal streift er sich dabei eine schusssichere Weste über, die
meiste Zeit aber lässt er das bleiben, weil er auf Gott vertraut.
Auch aus der Luft kartografiert und registriert Etkes das Treiben
der 220 000 Siedler.
Einmal im Monat startet er von einem Flughafen
nahe Tel Aviv und fliegt übers Westjordanland. Das letzte Mal wurde
sein Pilot von einem Mitarbeiter der Bodenkontrolle angeraunzt, wie
er Etkes behilflich sein könne, der Israel im Grunde doch hasse.
Etkes korrigierte den Lotsen gleich doppelt: "Ich mache das aus
Liebe zu Israel und aus Angst, dass die Besiedlung uns die
moralische Legitimation raubt." Seine Arbeit als schlechtes Gewissen
der jüdischen Nation hat ihn nicht betriebsblind gemacht wie manch
andere in der israelischen Friedensbewegung, denen kein Wort der
Kritik zur Palästinenserführung über die Lippen kommt. "Um es gleich
richtig zu stellen", sagte er gleich zu Beginn jenes Tages, "ich
halte Arafat für einen furchtbaren Präsidenten. Er hat den
Palästinensern nur Unglück gebracht."
Es scheint, als sei die halbe Welt dankbar, dass
es einen wie Dror Etkes gibt, außer Israel selbst. Einen, der im
Besitz eines kostbaren Gutes im Nahen Osten ist: Antworten, die
stimmen. Alle fünf Minuten klingelt sein Handy, jeder Anruf beginnt
mit einer Frage. Der Korrespondent der Washington Times möchte
wissen, wie viele Wohnungen und Häuser in diesem Jahr im
Westjordanland gebaut wurden (1627), der bekannteste Radiomoderator
fragt, warum Verteidigungsminister Schaul Mofaz plötzlich behauptet,
Israel habe bereits 43 Außenposten evakuiert ("Weil er lügt"), und
Drors Freundin möchte wissen, ob er heute früher nach Hause kommt,
weil sie doch Geburtstag hat (er versucht‘s). Am Ende des Tages, als
Dror Etkes nach Jerusalem zurückkehrt, seufzt er: "Ich lebe ein
Doppelleben: Tagsüber Apartheid, abends westliche Demokratie."
Die seit Regierungschef Ariel Scharons Amtsantritt
vor drei Jahren errichteten rund 61 Außenposten, die Israel laut
Friedensfahrplan des Nahost-Quartetts auflösen soll, befinden sich
stets in der Nähe größerer Siedlungen. Die Außenposten sind in der
Ideologie der radikalen Siedler Markierungspunkte für die
Erweiterungen von Siedlungen, wobei Etkes ungefähr 30 Prozent der
Siedler als religiös oder radikal bezeichnet; der große Rest sei vor
Beginn der Intifada ins Westjordanland gezogen, weil
Einfamilienhäuser dort schon für 50 000 Dollar zu haben sind.
Außenposten zu gründen, ist relativ einfach. Eine
Vorhut junger Leute ruft den Siedlerrat an, der offeriert mehrere
Gebiete, woraufhin die jungen Leute, meist in Siedlungen
aufgewachsene Kinder, einen Hügel nahe einer Siedlung besetzen. Wie
überhaupt alle Außenposten und Siedlungen auf Hügeln errichtet
werden – um einen Überblick zu haben auf die palästinensischen
Dörfer und Städte drumherum. Neue Außenposten sieht Etkes mit den
eigenen Augen oder er erfährt von ihnen durchs Internet, wenn er auf
den Websites der Religiösen surft. Manchmal gibt er sich als
Vertreter einer Handy-Firma aus, manchmal als potenzieller neuer
Nachbar, so komplettiert Etkes seine Karten.
Schlangen am Checkpoint
Etkes ist einer der wenigen Menschen in Israel,
die überhaupt wissen, wie die Palästinensergebiete besetzt werden:
"Die israelische Gesellschaft zeigt ein absolutes Desinteresse an
dem, was in den Palästinensergebieten vor ihrer Haustür passiert. Es
ist eine Mischung aus Ignoranz, Gleichgültigkeit und einer
Weigerung, Verantwortung zu übernehmen", ereifert sich Dror Etkes in
seinem Wagen, während er israelische Checkpoints umfährt, an denen
sich lange Schlangen von palästinensischen Autos und Lkws gebildet
haben. Mit seinem israelischen Kennzeichen kann Dror ohne weiteres
die Checkpoints umfahren, die jungen Soldaten würdigen ihn nicht
einmal eines Blickes. "Die Siedler, die israelischen Regierungen und
die Armee profitieren von der Ignoranz der israelischen
Öffentlichkeit gegenüber der Besiedlung. Ich teile mit den Siedlern
das Geheimnis, der Unterschied ist nur, dass die Siedler ihr Projekt
im Geheimen belassen wollen, während ich will, dass alle Welt davon
erfährt, was hier passiert."
Mitunter rücken ihm dabei die Siedler zu Leibe.
Vor kurzem fuhr er in die Siedlung Jitzhar im nördlichen
Westjordanland. Sie gilt als eine der militantesten Wehrdörfer
überhaupt. Etkes fotografierte mit einer Digitalkamera den
Außenposten der Siedlung, als sich ihm 15 Siedler in den Weg
stellten. Sie konfiszierten den Mikrochip seiner Kamera. "Die
Atmosphäre war beängstigend", sagt Etkes. Auf dem Weg aus der
Siedlung warfen die Siedler Steine auf sein Auto, "aus höchstens
fünf Metern Entfernung". Seitdem hält sich Etkes von radikalen
Siedlungen fern und beobachtet deren Bautätigkeiten durchs Fernglas.
Aber nicht alle Siedler seien gewalttätig, betont Etkes. Manche
offerierten ihm Kaffee, was er stets ablehne, es gehe ihm da ums
Prinzip. Aber er bricht es manchmal.
Bei seiner Tour an diesem Sonntag durchs
Westjordanland hält er neben zwei 15 Jahre alten Jungs, die zu Fuß
zur Siedlung Tekua laufen. Sie trampen. Etkes bietet ihnen Platz auf
der Verladefläche seines Pickups an. Bevor er losfährt, sagt er den
Jungs, wer er sei und wem das Auto gehört. Die Jungs tragen die
Nachricht, dass sie im Feindesauto sitzen, mit Gelassenheit, ziehen
an ihren Zigaretten, und wollen nur wissen: "Bist du Jude?" Als Dror
die beiden in Tekua absetzt, initiiert er eine Debatte über die
Ansiedlung von 220 000 Juden mitten unter zwei Millionen
Palästinensern. Die Ansichten der "Hügeljugend", wie Dror die Jungs
nennt, sind extrem. Sie bezeichnen sich selbst als "Chauvinisten",
wobei das Wort wie auswendig gelernt klingt. In ihren bunten,
wallenden T-Shirts sehen sie eher aus wie Party-Hippies. Sie reden
aber überzeugt wie Erwachsene und sagen, sie wollten im
Westjordanland bleiben, das sie in Anlehnung an die Bibel Judäa und
Samaria nennen. Die Palästinenser hätten "kein Recht auf einen
eigenen Staat". Sie könnten bleiben, "aber nur, wenn sie friedlich
sind".
Auf seiner Tour stattet Dror Etkes einer der am
schnellsten wachsenden Siedlungen eine Stippvisite ab: Beitar Illit.
Die nahe Bethlehem gelegene Kleinstadt wird von 25 000
Ultra-Orthodoxen bewohnt. Sie beherbergt 108 Synagogen, 150
Kindergärten und wird gerade von einem elektrischen Zaun eingefasst,
der vor unerwünschten (palästinensischen) Eindringlingen schützen
soll. Beitar Illit gilt als sicher, noch nie ist hier etwas
passiert, der Bürgermeister freut sich über große Popularität – und
über eine wohlgesonnene Regierung: Soeben hat die israelische
Regierung den Bau von 500 Häusern genehmigt. Das Neubaugebiet, auf
dem Kräne und Bagger stehen, hat schon einen Namen: "Hügel 2". Die
Regierung spricht von "natürlichem Wachstum", das Scharon gegenüber
US-Außenminister Colin Powell so gerechtfertigt haben soll: "Wollen
Sie, dass ich schwangere Siedlerinnen zur Abtreibung zwinge?"
Mit der Waffe am Gürtel
Letzte Station an diesem Sonntag im Dezember ist
der Außenposten "Maale Rechavam", eine aus zehn Containern
bestehende wilde Siedlung, deren Namen an den von palästinensischen
Terroristen erschossenen israelischen Tourismusminister Rechavam
Zeevi erinnern soll. Die kleine Siedlung besitzt keinen Zaun, aber
einen Rund-um-die-Uhr-Schutz von zehn israelischen Soldaten. Fünf
Hunde jagen auf Dror Etkes zu und bellen ihn an. Ihnen folgt Itzik,
ein 24 Jahre alter religiöser Siedler ohne Kippa und mit
Handfeuerwaffe am Gürtel, der seinen Nachnamen nicht nennen will.
Itzik blinzelt gegen die Wintersonne an, beruhigt die Hunde, und er
sagt, dass er nichts sagen werde. "Egal, was wir Siedler sagen,
geschrieben wird doch immer nur das Gegenteil."
Seit dem Mord an Tourismusminister Rechavam Zeevi
vor zwei Jahren siedeln Itzik und zehn andere junge Männer und
Frauen in den zehn Containern. Er selbst hat sich seinen für 4000
Schekel gekauft, umgerechnet 800 Euro. Seine Bude ist spartanisch
eingerichtet: Kochnische, Flohmarktsessel, Matratze auf dem Boden,
ein Fernsehgerät, aber keinen Kabelanschluss, dafür ein "Blick übers
Westjordanland wie nirgendwo sonst", sagt Itzik. Er ist in der
ultra-orthodoxen Siedlung Ofra groß geworden, seine Eltern, die ihn
regelmäßig besuchen, sind "sehr stolz" auf ihn. Itzik sucht einen
Job als Ingenieur, vielleicht aber wird er auch in einer der
Religionsschulen lernen im Westjordanland. Es sei ihm ein Rätsel,
dass die Israelis die coole Schenkin-Straße in Tel Aviv dem Leben im
Westjordanland vorzögen. In Maale Rechavam fühle er sich Gott nahe
und "eins mit mir selbst".
Der winzige, seit zwei Jahren bestehende
Außenposten stand schon auf der Liste der Armee, zwangsgeräumt zu
werden. Aber passiert ist bis heute nichts, außer dass ein
Mitarbeiter einer Handygesellschaft ein Kompaktangebot für die zehn
Siedler gemacht und das Dorf einen Strom- und Wasseranschluss
erhalten hat. Itzik liebt es asketisch. Höchstens einen DVD-Film in
der Woche, ansonsten keinen Kaffee, nur Tees aus Kräutern,
Fußmärsche ans Tote Meer. Über die Nachbarschaft zu den
Palästinensern verliert Itzik kein Wort, da gebe es "nicht viel zu
sagen", nur dass es gefährlich sei. Die Pistole trage er Tag und
Nacht bei sich, "und das nicht aus Spaß".
Dann verabschiedet sich Itzik mit Handschlag und
ruft seinen Hund. "Dschihad" nennt er ihn, "Heiliger Krieg".
hagalil.com
12-12-03 |