MEMRI Special Dispatch – 29.
November 2004
"Zwischen Kopftuch, Ehebruch
und Schwulen":
Al-Dustur über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei
Die in Europa geführte
Debatte um eine Aufnahme der Türkei in die EU findet sich mit ähnlich
vielfältigen Positionen auch in arabischen Medien. In einem Beitrag für
die jordanische Tageszeitung al-Dustur fasst Yasir al-Zaatara das
Dilemma zusammen, in dem sich der türkische Premierminister Recep Tayyip
Erdogan (AKP) gegenwärtig befindet, weil er zwischen den
unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Erwartungen der EU
einerseits und der politischen Basis seiner Partei andererseits steht.
Denn eine Motivation seiner Anhänger für einen EU-Beitritt ist eine
Ausweitung ihrer religiösen Freiheit, wie zum Beispiel das Tragen von
Kopftüchern.
Der Beitrag Zaataras erschien
am 19. November 2004:
"Erdogan – Zwischen
Kopftuch, Ehebruch und Schwulen"
"In einem Interview räumte [der türkische Ministerminister] Recep Tayyip
Erdogan ein, dass die Entscheidung, seine beiden Töchter in die USA zu
schicken, damit zusammenhänge, dass sie dort, anders als in der Türkei,
während ihres Studiums ein Kopftuch tragen könnten.
Erdogan äußerte dies in einem Gespräch mit einem französischen
Fernsehsender während seines Besuches in der französischen Hauptstadt
[Paris], währenddessen er zum Tragen des Kopftuches befragt wurde. Es
handelt sich hierbei um eine Diskussion, die seit einigen Monaten in
Frankreich geführt wird.
[Und] Erdogan ist nicht irgendein normaler Bürger, der sich nicht anders
zu helfen wüsste, sondern Präsident der in der Türkei regierenden Partei
für Gerechtigkeit und Fortschritt. Diese Partei besitzt eine
parlamentarische Mehrheit, die es ihr erlaubt, jedes Gesetz zu ändern.
Sie könnte selbst jene Gesetze ändern, durch die das Tragen des
Kopftuches in Universitäten und öffentlichen Einrichtungen verboten und
das säkulare, in seinem Kern religionsfeindliche türkische Modell
durchgesetzt wird. Dieses türkische Modell steht im Widerspruch zum
europäischen Säkularismus, der sich, mit Ausnahme einiger Verhärtungen
im französischen Fall, mit der Religion und deren Institutionen
ausgesöhnt hat.
Ja, Erdogan könnte die Gesetze ändern, aber er tut es nicht. Der Grund
dafür ist schlicht und einfach - und alle wissen es - die Angst vor
einem Konflikt mit dem Militär. Das Militär hat bekräftigt, dass es
gegenüber solchen Versuchen, die nach Meinung des Militärs das säkulare
System in der Türkei zerstören würden, nicht nachgeben werde.
In dem gleichen Interview mit dem französischen Fernsehsender antwortete
Erdogan auf eine Frage nach seiner Meinung über Schwule, die sich selbst
als Homosexuelle bezeichnen, dass diese Rechte [wie alle anderen]
genießen würden.
Diese Aussagen machte Erdogan wenige Wochen, nachdem er aufgrund von
Protesten der Europäischen Union von einem Gesetz Abstand genommen
hatte, welches Ehebruch unter Strafe stellte. Die Europäische Union, von
der man sagt, sie gründete sich auf christlich-jüdischem Erbe,
protestierte gegen dieses Gesetz, obwohl auch laut diesem Erbe
-beispielsweise in den Zehn Geboten - Ehebruch verboten ist.
Hier zeigt sich das Ausmaß des Dilemmas, in dem sich jemand wie Erdogan
befindet: Seine Religiosität hat islamistische Wurzeln, und er weiß,
dass ein großer Teil seiner Wähler und ein fester Kern der Mitglieder
seiner Partei zu einer ähnlichen [politisch-religiösen]
Bevölkerungsgruppe zählen. Ihm ist es nicht möglich, diese Gruppe mit
[einer Ausweitung von] religiösen Freiheiten zu hofieren, die [zum
Beispiel] die Fragen des Kopftuch-[Verbotes] und die Probleme der
Moscheen und der Imam- und Prediger-Schulen betreffen und die den
Absolventen dieser Schulen den Zugang zu den Universitäten erlauben
würden.
[Während ihm hierbei die Hände gebunden sind,] muss er Gesetze
beschließen, die den Grundlagen des Islam in Bezug auf Ehebruch und
Schwule widersprechen. Und es werden noch andere Gesetze nötig sein, um
sich für die Europäische Union zu qualifizieren.
Schlimmer noch: Erdogan, mit dessen Bemühungen für einen Eintritt in die
Europäische Union viele in der Türkei zufrieden sind, kann diesen
Beitritt in naher Zukunft nicht einmal garantieren, denn selbst die
größten Optimisten reden von mindestens 15 Jahren [,die bis zu einem
EU-Beitritt benötigt werden.] Andere in der Europäischen Union halten es
aus verschiedenen Überlegungen, u.a. aufgrund des Geredes vom
christlich-jüdischen Erbe [der EU], für gänzlich unmöglich, die
muslimische Türkei als Mitglied zu akzeptieren.
Erdogan hat auch begriffen, dass die Europäische Union den Beitritt der
Türkei nicht von einer Verbesserung der Situation der religiösen
Freiheiten abhängig machen wird, [obwohl dies] der Aspekt ist, auf den
es seinen Anhängern und seinen Wählern ankommt.
Erdogan sieht sich daher mit widersprüchlichen Forderungen konfrontiert:
Während die Forderungen der Union nicht mit den Grundlagen des Islam, an
den er glaubt, zusammen passen, scheint es aus Angst vor einer
Intervention des Militärs unmöglich zu sein, [in der Türkei] mehr
religiöse Freiheit zuzulassen.
Sollte diese Situation so weiter bestehen, wird seine Glaubwürdigkeit in
der Wahrnehmung der islamischen Bevölkerung bedrohlich abnehmen. Damit
stellt sich die Frage, die für die Zukunft Erdogans von größter
Bedeutung ist: Wie lässt sich dieser Widerspruch lösen? Auf diese Frage
wird die politische Bewegung Erdogans in den kommenden Jahren antworten
müssen. Angesichts der wirtschaftlichen Erfolge, die sich in der
türkischen Gesellschaft in einer Rekordzeit von weniger als zwei Jahren
bemerkbar machten, und einer Regierungsführung, die sich hinsichtlich
des Irakkrieges clever verhalten hat und vielleicht auch etwas Glück
hatte und wegen der dortigen Entwicklungen scheinen die Bedingungen für
einen Erfolg [Erdogans] bei den nächsten Wahlen dabei sehr wohl
gegeben."
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