Human Rights Watch über Selbstmordattentäter:
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Human Rights Watch - www.hrw.org
Übersetzung Daniela Marcus
"Die Menschen, die Selbstmordanschläge ausüben, sind keine Märtyrer, sie sind
Kriegsverbrecher, genauso wie die Menschen, die bei der Planung solcher
Anschläge helfen. Die umfangreiche und systematische Natur dieser Anschläge
trennt sie von anderen Gewalttaten, die in Konfliktzeiten ausgeübt werden. Sie
fallen klar und deutlich unter die Kategorie "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit"."
Kenneth Roth, Vorsitzender von Human Rights Watch
Gaza, 1. November 2002. Die Menschen, die für die Planung und Ausführung von
absichtlich gegen Zivilisten gerichtete Selbstmordanschläge verantwortlich sind,
machen sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig und sollten vor
Gericht gebracht werden, sagte Human Rights Watch heute in einem neuen Bericht.
Der 170-Seiten lange Bericht ist die erste ausgiebige Untersuchung über
individuelle kriminelle Verantwortung für Selbstmordanschläge gegen Zivilisten
in Israel und in den von Israel besetzten Territorien. Der Bericht mit dem Titel
"Ausgelöscht in einem einzigen Augenblick: Selbstmordanschläge gegen israelische
Zivilisten" (Erased in a Moment: Suicide Bombing Attacks against Israeli
Civilians) liefert auch die bis heute gründlichste Studie über die
Selbstmordoperationen von Hamas, Islamischem Dschihad, den
Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden und der Volksfront für die Befreiung Palästinas
(PFLP), also den Gruppen, die beinahe für alle bisherigen Selbstmordanschläge
die Verantwortung übernommen haben.
"Die Menschen, die Selbstmordanschläge ausüben, sind keine Märtyrer, sie sind
Kriegsverbrecher, genauso wie die Menschen, die bei der Planung solcher
Anschläge helfen", sagt Kenneth Roth, Vorsitzender von Human Rights Watch. "Die
umfangreiche und systematische Natur dieser Anschläge trennt sie von anderen
Gewalttaten, die in Konfliktzeiten ausgeübt werden. Sie fallen klar und deutlich
unter die Kategorie "Verbrechen gegen die Menschlichkeit"."
Seit Januar 2001 wurden bei 52 palästinensischen Selbstmordanschlägen 250
Zivilisten getötet und 2.000 weitere verletzt.
Gut begründete Prinzipien des internationalen Rechts verlangen, dass diejenigen
Personen, die die Amtsgewalt innehaben, zur Verantwortung gezogen werden, wenn
Menschen unter ihrer Kontrolle Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die
Menschlichkeit begehen. Führer, die solche Verbrechen befehlen, die darin
versagen, verantwortliche Präventivmaßnahmen zu ergreifen, oder die versäumen,
die Täter zu bestrafen, sind mitverantwortlich für diese Verbrechen.
Die obersten Führer von Hamas und Islamischem Dschihad sind öffentlich für
Selbstmordanschläge gegen israelische Zivilisten eingetreten, haben dazu
ermutigt und sie unterstützt. Und sie haben angedeutet, dass sie die Möglichkeit
haben, diese zu stoppen. Gegen diese Führer –wie Scheich Achmed Yassin und
Khalid Mish’al von Hamas und Ramadan Schalah vom Islamischen Dschihad- sollte
wegen ihrer Rolle, die sie bei diesen Verbrechen gespielt haben, strafrechtlich
ermittelt werden. Die PFLP hat sich öffentlich zu Selbstmordanschlägen und
Anschlägen durch Autobomben gegen Zivilisten bekannt. Es hat den Anschein, dass
die Führer der PFLP die Kontrolle über diese Vorkommnisse haben, was eine
strafrechtliche Ermittlung rechtfertigt. Im Fall der Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden
scheint es, dass Kontrolle und Verantwortung auf lokaler Ebene vorhanden sind,
weshalb gegen die jeweils Verantwortlichen ebenfalls strafrechtlich ermittelt
werden sollte.
Der Bericht von Human Rights Watch bewertet die Rolle und Verantwortung, die die
Palästinensische Autonomiebehörde (PA) und Präsident Yassir Arafat bezüglich der
Selbstmordanschläge gegen Zivilisten inne haben. Die Schlussfolgerung lautet,
dass die PA darin versagt hat, alle möglichen Maßnahmen zur Verhinderung solcher
Angriffe zu ergreifen oder die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Durch
dieses Versagen trägt die PA zu einer Atmosphäre der Straflosigkeit bezüglich
solcher Verbrechen bei.
"Das größte Versagen von Präsident Arafat und der PA-Führung ist deren Unwillen,
die Strafgesetzordnung einzusetzen, um Selbstmordattentate zu verhindern,
besonders im Jahr 2001, als die PA meistens in der Lage war, dies zu tun", sagte
Roth.
Roth sagte außerdem, das Versagen der PA, effektive Präventivaktionen zu
unternehmen oder Täter außerhalb ihres Kontrollbereiches zu bestrafen, stößt
unter dem gegenwärtigen Status des internationalen Rechts nicht gegen die
Kriterien befehlsführender Verantwortung. "Doch Arafat und die PA tragen einen
hohen Anteil von politischer Verantwortung für die Gräueltaten, die geschehen
sind", sagte Roth.
Die PA hatte argumentiert, dass israelische Aktionen wie die Zerstörung des
Polizei- und Sicherheitsapparates der PA, die Fähigkeit zu handeln unterminiert
hätte. Doch selbst als der Apparat zum großen Teil intakt war, unternahm die PA
keine effektiven Aktionen, um diejenigen, die zu Selbstmordanschlägen oder
anderen Anschlägen gegen israelische Zivilisten aufhetzten, diese Anschläge
planten oder bei der Planung halfen, vor Gericht zu bringen. Stattdessen
verfolgte die PA eine Politik, die inhaftierte Verdächtige nicht befragte oder
strafrechtlich verfolgte, sondern diese in der Regel bald wieder entließ.
Die PA versuchte, diese Entlassungen damit zu begründen, dass die Gefangenen bei
Bombenabwürfen durch israelische Streitkräfte auf Gefängnisse, Gefahren
ausgesetzt sind. Doch die PA hat nicht erklärt, warum Verdächtige niemals
befragt oder angeklagt werden, warum sie also keine Schritte unternommen hat,
die unabhängig von der Unterbringung Verdächtiger in Strafanstalten sind.
Human Rights Watch hat eingehende Interviews mit PA-Offiziellen und Mitglieder
bewaffneter Gruppen geführt und interne Dokumente der PA, die von Israel
veröffentlicht worden waren, gründlich untersucht. Auf der Basis dessen, was
öffentlich zugänglich war, fand Human Rights Watch keinen Beweis dafür, dass
Arafat oder die PA Selbstmordanschläge oder andere Anschläge auf israelische
Zivilisten geplant, befohlen oder ausgeführt haben, oder dass sie fähig waren,
effektive Kontrolle über die Aktionen von Tätergruppen, inklusive der
Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden, die ein Zweig von Arafats Fatah-Bewegung sind,
auszuüben.
Palästinensische bewaffnete Gruppen und deren Unterstützer haben als
Rechtfertigung für die Selbstmordanschläge und andere Anschläge auf israelische
Zivilisten auf wiederholte israelische Angriffe hingewiesen, die
palästinensische Zivilisten getötet oder verletzt haben. Der Bericht kommt zu
dem Schluss, dass diese Argumente in keinster Weise die Vergeltungsmaßnahmen
rechtfertigen, bei denen Zivilisten ins Visier genommen oder wahllos angegriffen
werden.
"Das Verbot, Zivilisten ins Visier zu nehmen, hängt nicht von dem Verhalten des
Gegners ab", sagte Roth. "Selbst angesichts israelischer Verletzungen
internationalen Rechtes, müssen palästinensische bewaffnete Gruppen absichtliche
Angriffe auf Zivilisten unterlassen."
Die für diese Anschläge verantwortlichen bewaffneten Gruppen argumentieren, dass
Israels anhaltende militärische Besatzung und seine in hohem Maße überragenden
Kriegsmittel solche Anschläge zu ihrer einzigen Option machen. Erneut finden
diese Argumente keinerlei Rechtfertigung in internationalem Recht, das bezüglich
des Verbotes von absichtlichen Anschlägen auf Zivilisten unumschränkt und
bedingungslos ist.
"Bewaffnete Konflikte schließen oft Unterschiede in der Stärke der Gegner ein",
sagte Roth. "Wenn man auf Grund solcher Unterschiede Angriffe gegen Zivilisten
rechtfertigen würde, wäre, was die Wahrung internationalen Menschenrechtes
angeht, ein gutes Schlupfloch gefunden."
Schließlich machen palästinensische bewaffnete Gruppen auch geltend, dass ihre
Ziele keine wirklichen Zivilisten sind weil "alle Israelis Reservisten sind"
oder weil, wie sie sagen, israelische Bewohner von Siedlungen ihren Status als
Zivilisten eingebüßt haben. Der Bericht weist darauf hin, dass das
internationale Menschenrecht eindeutig ist: Reservisten militärischer
Streitkräfte sind nur dann als Kämpfer zu betrachten, wenn sie in aktivem Dienst
sind, ansonsten genießen sie den Schutz als Zivilisten. Und während zivile
israelische Siedlungen in der Westbank und im Gazastreifen nach internationalem
Menschenrecht illegal sind, sind doch die Menschen, die dort leben, berechtigt,
Schutz als Zivilisten zu genießen, es sei denn, sie nehmen direkt an feindlichen
Handlungen teil.
Human Rights Watch ruft alle palästinensischen bewaffneten Gruppen auf, die
Anschläge gegen Zivilisten sofort und bedingungslos zu stoppen und drängt die
PA, sicher zu stellen, dass diejenigen, die für solche Anschläge verantwortlich
sind, vor Gericht gestellt werden. Human Rights Watch drängt die PA auch, eine
öffentliche Kampagne durchzuführen, in der ein Ende der Selbstmordanschläge und
anderer Anschläge gegen Zivilisten gefordert wird. Außerdem soll klar gestellt
werden, dass die PA Menschen, die beim Ausführen eines Anschlages sterben, der
absichtlich oder willkürlich Zivilisten tötet oder großes Leiden unter ihnen
verursacht, nicht als "Märtyrer" betrachtet.
Zuerst bei Nahostfocus erschienen
hagalil.com
03-11-02 |