Ein Bericht über eine Israelin, die vor einem Jahr bei
einem Selbstmordanschlag schwer verletzt wurde. Wer sich für weitere
Artikel über verletzte Terroropfer und darüber, wie sie solche Anschläge
verarbeiten, interessiert, der kann diese bei
haaretz auf Englisch nachlesen unter: "Seriously injured -
Terror survivors face the future".
Schwer verletzt / Kreuzung Mei Ami,
Wadi Ara, 10. März 2001
Bruria Alkobi hatte Angst,
nach Hause zu gehen
Als Bruria Alkobi ihre Kinder das erste Mal nach dem Terroranschlag
traf, musterte Tal, ihr Ältester, sie vorsichtig, um sicher zu sein,
dass sie wirklich seine Mutter war
Von Uri Ash, Ha’aretz, 10.03.2002
„Die Kinder sind wohlauf, du brauchst
dir keine Sorgen zu machen“, sagte ihr Mann Yossi, der bei der Armee
Karriere macht, sobald sie das Bewusstsein wieder erlangt hatte. Als
Bruria Alkobi, die letztes Jahr im März beim Terroranschlag an der
Mei-Ami-Kreuzung verletzt wurde, das erste Mal ihre drei Kinder –ein
Sohn namens Tal, 15 Jahre, ein Sohn namens Ron, 12 Jahre und eine
Tochter namens Sapir, 10 Jahre- traf, war sie noch auf der
Intensivstation des Ha’emek-Krankenhauses in Afula.
„Sie setzten mich in einen Sessel und
banden mich fest, denn meine Muskeln waren geschwunden und sie hatten
Angst, dass ich fallen würde“, erinnert sie sich, nun zuhause in ihrem
Wohnzimmer.
„Ich konnte mich nicht bewegen, konnte
sie nicht umarmen oder küssen. Ich konnte nicht einmal sprechen, konnte
nur meine Lippen und meinen Kopf bewegen. Ron brach in Tränen aus und
rannte hinaus, er konnte meinen Anblick nicht ertragen. Das war das
erste Mal seit er klein war, dass ich ihn weinen sah. Eigentlich ist er
so groß und stark und deshalb war das sehr schwer für mich. Sapir stand
neben mir und weinte leise in sich hinein....“
Sie konnten einfach nicht glauben,
dass das ihre Mutter war, sagt sie, weil sie immer gepflegt, gut zurecht
gemacht und gut angezogen war, auch dann, wenn sie nicht arbeiten war.
„Tal inspizierte mich um zu sehen, ob ich wirklich seine Mutter war.“
Dr. Doron Kopelman, der Leiter der
chirurgischen Abteilung des Krankenhauses, in dem Alkobi behandelt
wurde, fügt hinzu: „Dieses Treffen war so problematisch, dass sie
fürchterliche Angst vor dem nächsten hatte.“
Bruria Alkobi lag 45 Minuten lang in
dem Taxibus, der bei der Bombenexplosion an der Mei-Ami-Kreuzung in Wadi
Arafat zerstört worden war. Durch das zersplitterte Fenster konnte sie
einen Polizisten sehen, der am Schauplatz erschienen war. Er rief ihr
zu: „Meine Dame, ich sehe, dass Sie in Ordnung sind, wir holen Sie
gleich dort raus.“ Dann verlor sie für zehn Tage ihr Bewusstsein.
Zid Al-Kilani, der Terrorist, der im
gleichen Taxi gefahren war und die Bombe gezündet hatte, war rechts von
ihr gesessen, ganz in ihrer Nähe. Er wurde auch verletzt. Die Polizei
fürchtete, dass es noch eine Bombe im Taxi geben könnte und holte
deshalb Alkobi, Al-Kilani und Claude Knapp, der bei dem Anschlag getötet
worden war, nicht gleich heraus.
An diesem 1. März 2001 kehrte Bruria
mit Maya -eine Freundin von der Arbeitsstelle in der Stadtverwaltung von
Afula- von einem Kurs der Nationalen Versicherungsanstalt in Tel Aviv
zurück. Al-Kilani saß bereits im Wagen, als die beiden Frauen einstiegen
und er machte ihnen auf einem der Doppelsitze Platz. Alkobi saß auf dem
Platz am Gang und der Terrorist saß auf dem Sitz rechts hinter ihr, die
Bombe neben sich. Der israelische Geheimdienst Shin Bet hatte vom
Vorhaben des Terroristen erfahren und die Verfolgung endete an der
Mei-Ami-Kreuzung, wo das Taxi angehalten wurde. Al-Kilani merkte, dass
man ihn enttarnt hatte. Als ein Polizist das Taxi betrat und die
Passagiere nach ihren Ausweisen fragte, zündete der Terrorist die Bombe.
Alkobi, 37 Jahre alt, Bewohnerin des
Dorfes Achusat Barak bei Afula, Mutter von drei Kindern, wurde durch die
Wucht der Explosion schwer verletzt. „Die Bombe explodierte an einem
geschlossenen Ort und die Druckwelle drang durch den Mund von Alkobi und
fügte ihren Lungen und ihrem ganzen Atemsystem schwere Verletzungen zu“,
erklärt Dr. Kopelman. Ihre rechte Seite wurde von einer Menge
Schrapnells verletzt, besonders ihr Arm. Außerdem wurde sie von Federn
des Sitzes durchbohrt. „Eine Person, die von Schrapnells verletzt wurde,
gilt als schwer verwundet“, fügt Dr. Kopelman hinzu, „was sie betrifft,
kann man nicht von weniger reden.“
Nachdem sie endlich aus dem Taxi
herausgeholt worden war, hatten die Mitarbeiter des medizinischen
Notfallteams Schwierigkeiten, ihren Puls auszumachen. Erst beim dritten
Versuch hatten sie Erfolg. Der Doktor vor Ort bestand darauf, dass man
sie mit dem Notfallwagen ins Ha’emek-Krankenhaus brachte und nicht mit
dem Hubschrauber ins Trauma-Zentrum des Rambam-Krankenhauses in Haifa.
So konnte er sie auf dem Weg dorthin behandeln und bis heute ist Bruria
für diese Entscheidung dankbar.
Das Treibhaus namens Krankenhaus
Wegen der schweren Verletzung ihres
Atemsystems wurde Alkobi auf der Intensivstation an ein Beatmungsgerät
angeschlossen. Sauerstoff wurde ihr durch eine Öffnung in der Luftröhre
zugeführt. Sie befand sich drei Wochen lang in kritischem Zustand auf
der Intensivstation, unfähig zu sprechen, bis sie die Fähigkeit, selbst
zu atmen, zurückgewann. Ein anderes Problem trat auf, eines, das Alkobi
für viele Monate hart auf den Fersen blieb.
Die Explosion, die ihre Lungen
verletzt hatte, hatte auch ihren Dünndarm zerrissen. Dessen Inhalt war
in ihrer gesamten Bauchhöhle zerstreut. Sie musste sich mehreren
Operationen unterziehen, damit man ihren Unterleib säubern und die
Infektion unter Kontrolle bekommen konnte. Sie wurde auch mit
Antibiotika behandelt. Ein Teil ihres Darms wurde entfernt, die Öffnung
wurde mit der Magenwand verbunden. Der Darminhalt wurde in einen
Plastikbeutel abgeleitet.
Erst nachdem es den Ärzten gelungen
war, die Infektion in Alkobis Magen unter Kontrolle zu bringen und sich
ihr Zustand verbessert hatte, wurde sie in die chirurgische Abteilung
verlegt. Diese wurde bald ihr zweites Zuhause, eines, von dem es ihr
schwer wurde, wieder Abschied zu nehmen. Ihre offene Magenwunde, die
Schrapnell-Wunden, die Hautinfektionen, immer wieder auftretende
Lungenentzündungen und infolge des künstlichen Ausgangs eine mangelnde
Aufnahme von Flüssigkeiten und Salzen – all das erforderte einen langen
Aufenthalt von über einem Monat und intensive Pflege durch das
medizinische Personal.
„Hier begann mein psychologischer
Kampf, denn in der Zeit auf der Intensivabteilung verstand ich noch
nicht, was passiert war“, erinnert sie sich. Das Ausmaß der Abhängigkeit
von der Krankenhausstation und dem unterstützenden medizinischen
Personal wurde deutlich, als die Zeit kam, in der sie das Krankenhaus
verlassen sollte. „Sie sagten mir ‚Geh für eine Nacht nach Hause,
versuche es. Und wenn es funktioniert, bleibe zu Hause.‘“
Donnerstag abends ging sie nach Hause,
aber am Freitag und am Sonntag kam sie ins Krankenhaus, bis der
behandelnde Arzt Dr. Yisrael Amir sie überzeugen konnte, zuhause zu
bleiben. „Wir entlassen Sie nicht und Sie können jederzeit
zurückkommen“, sagte er zu ihr. „Er versprach mir, dass mir jeder bei
der psychologischen Verarbeitung all dessen helfen würde“, sagt Alkobi.
Sie willigte ein. „Über die
medizinische Angelegenheit hinaus musste Bruria eine Art
„Rückzugsprozess“ aus dem Treibhaus, das das Krankenhaus für sie
geworden war, vollziehen – z. B. was die enge Verbindung zu den
Schwestern angeht“, erklärt Dr. Kopelman. „Dieser Prozess wurde von
Ängsten und einem starken psychologischen Kampf begleitet.“
Das Krankenhaus zu verlassen war für
sie auch eine körperliche Herausforderung. „Mir ging es noch nicht gut
und ich hatte immer noch geschwundene Muskeln, weil ich so lange im Bett
gewesen war. Sie versuchten, mir beim Aufstehen zu helfen, aber ich
konnte nicht laufen. Ich fürchtete, dass meine Beine gelähmt seien.
Allein der Versuch, selbständig zu essen, war ein richtiges Unternehmen.
Ich konnte nichts in Händen halten. Ich kam nach Hause und musste die
Treppe nach oben gehen, um ins Bad zu gelangen. Es war sehr anstrengend
und ich brauchte dazu eine halbe Stunde und zwischendurch eine Pause.“
Ge’ula Misrachi, die stellvertretende
Oberschwester der chirurgischen Abteilung und eine Nachbarin von Alkobi,
kam täglich bei ihr vorbei und war nachts auf Abruf bereit. „Wenn Ge’ula
nicht gewesen wäre“, gibt Kopelman zu, „hätten wir Bruria nicht
entlassen können, denn dann hätte sie nicht zugestimmt.“
Das bin nicht ich
Es war für Alkobi sehr schwer, zu
ihrem Mann Yossi und ihren drei Kindern zurückzukehren. „Zuerst einmal,
weil da noch jemand im Haus war. Im Krankenhaus waren sie gekommen,
hatten mich besucht und waren wieder gegangen. Aber hier lebten wir
zusammen. Ich schämte mich, dass mein Mann mir beim Aufstehen helfen
musste. Ich hätte ihm nie erlaubt, mich zu duschen. Ich schämte mich vor
mir selbst. Es war nicht ich. Ich hatte in meinem Leben nie große
Schrammen gehabt. Und plötzlich war ich übersät von Wunden. Ich ekelte
mich, es war schrecklich. Mein Mann kannte mich so nicht. Er hatte mich
nicht so geheiratet. Er kannte mich anders.“
Alkobis Schwestern und eine gute
Freundin wechselten sich ab und kamen jeden Morgen, um sie zu waschen.
Auch das war problematisch. „Obwohl es meine Schwestern waren fand ich
es sehr schwer, mich so zu entblößen.“ Eine ihrer neun Geschwister,
Zipi, war in der Schule in Ma’alot bei einem Terroranschlag ebenfalls
schwer verletzt worden. Sie hatte beide Arme und Beine und ihr Rückgrat
gebrochen. Und sie war von zwei Kugeln im Rücken und im Bein getroffen
worden.
„Sie war diejenige, die mir an meinen
schlechten Tagen Kraft gab. Alles tauchte wieder vor ihr auf und sie
hatte das Gefühl, dass sie es mir schuldig war, mir auf die Beine
zurückzuhelfen. Sie weigerte sich aufzugeben. ‚Wenn ich wieder aufstehen
konnte, wirst du es auch können. Ich werde dich nicht fallen lassen.‘
Für sie war es ein täglicher Kampf mit mir.“
Über lange Monate hinweg war Bruria
gezwungen, mit dem künstlichen Darmausgang fertig zu werden. „Ich musste
mich immerzu vergewissern, ob ich den ekelerregenden Beutel auch
weggeworfen hatte. Es war keine gewöhnliche Wunde. Man muss damit leben,
einen weiteren Monat, einen weiteren Tag. Plötzlich wurde ich unfähig,
irgendetwas anzufassen, weil ich mich vor mir selbst ekelte und ich war
sicher, dass sich jeder andere auch vor mir ekelte. Ich wollte einfach
die ganze Zeit über nur für mich sein, allein. Erst heute weiß ich, dass
niemand wirklich so fühlte.“
Sie zeigte den Kindern „beinahe alles.
Ich erklärte alles. Ich wollte nicht, dass sie Angst hatten, dass sie
tagtäglich vor Neugierde platzen mussten.“ Auch ihr Kampf mit den
Schmerzen war zuhause schwierig. „Ich hatte qualvolle Schmerzen. Aber
wegen der Kinder konnte ich nicht weinen. Ich musste ins Bad gehen, um
zu weinen.“ Am meisten machte sie sich beim Nachhausekommen darüber
Sorgen, dass sie als scheinbar funktionierende Mutter mit ihren Kindern
zusammen sein musste. Sie dachte, sie wäre unfähig, deren Erwartungen an
sie zu begegnen.
„Wenn eine Mutter nach Hause kommt,
hat sie gesund zu sein“, zitiert sie ihre eigenen Gedanken von damals.
Bevor sie verletzt wurde, stand immer ein warmes Essen auf dem Tisch,
das auf Ron, Tal und Sapir wartete, wenn sie von der Schule nach Hause
kamen. Über die Monate, die der Verletzung folgten, sagt Alkobi: „Sie
aßen eine Menge Sandwiches.“ Und die Pommes frites, eines ihrer
Lieblingsessen, mussten vom Speiseplan verschwinden, nachdem sie eine
Zeitlang zum Grundnahrungsmittel geworden waren.
„Einmal stand ich auf und sagte ‚Hilf
mir, ich muss in die Küche gehen, ich will kochen‘. Ich erinnere mich
nicht mehr daran, was ich gekocht habe. Als die Kinder an diesem Tag von
der Schule nach Hause kamen, sagte mein Sohn: ‚Was für ein guter Geruch
–es gibt endlich richtiges Essen‘. Von diesem Tage an tat ich, was ich
konnte, selbst wenn es mich vier Stunden kostete, um einen Topf auf den
Herd zu stellen, das Gemüse zu zerkleinern und zu schälen und zu würzen.
Jeden Tag stand ich auf und plante das Essen. Von dieser Zeit an
realisierte ich, was meine Kinder wirklich wollten: Sie wollten das
Essen ihrer Mutter, sie wollten mich.“
Nach den Ferien ging Alkobi zu einer
weiteren Operation ins Krankenhaus, dieses Mal, um den künstlichen
Ausgang zu verschließen. „Ich musste die Kinder psychologisch darauf
vorbereiten – dass ihre Mutter sich noch einmal einer Operation
unterziehen musste. Es war nichts neues für sie und es war schwer.“ Die
Operation war auf Sonntag festgelegt und Alkobi verließ das Haus am
Samstagmorgen.
„Es war ein schwerer Tag, weil der
Samstag der Familientag ist. Dann sind die Kinder zuhause, sie gehen
nicht fort. Ich weinte ein bisschen und sie weinten auch.“ Erst jetzt,
ein Jahr nach ihrer Verletzung und wenige Monate nach ihrem zweiten
Krankenhausaufenthalt beginnt Bruria Alkobis wirkliche Genesung. Sie hat
den Gebrauch der schmerzlindernden Mittel reduziert und träumt davon, zu
ihrer Arbeit in der Stadtverwaltung zurückzukehren.
„Das wird mein nächster Kampf sein und
ich hoffe, dass man dort noch auf mich wartet.“ Sie muss sich
Zusatzbehandlungen unterziehen – eine Operation, um ihr rechtes
Trommelfell wieder herzustellen und eine wegen ihres verletzten Armes.
Die Rollos im Wohnzimmer sind
normalerweise unten und das Haus wird sorgfältig verschlossen – aus
Angst vor einem weiteren Terroranschlag, dieses Mal zuhause. Die meiste
Zeit über läuft im Wohnzimmer der Fernseher. „Ich verfolge ständig, ob
es andere Terroranschläge gegeben hat. Ich verweile bei den Details, in
denen ich nicht mich selbst sondern meine Familie sehe. Ich sehe eine
andere Mutter, einen Ehemann – dort geht eine gesamte Familie.“
haGalil onLine 12-03-2002 |