Ein Szenario Wem tut es nun leid?
Von Doron Rosenblum, Haaretz, 27.06.2002
An diesem Tag war das Wetter in London überraschend mild. Dicke Wolken hingen am
Himmel über dem "National" und über dem "Tate Modern" auf der Südseite der
Themse. Doch auf der anderen Seite des Flusses malte die Sonne, die sich auf
einem blauen Zipfel des Himmels niedergelassen hatte, die Blätter der jungen
Bäume und das Gras auf den Plätzen in einem saftigen Grün.
Vier ältere Herren saßen auf einer Holzbank am "Berkeley Square". Aufgrund der
angenehmen Wärme der Sonne hielten sie ihre Augen geschlossen. Doch ab und zu
beobachteten sie die kleinen Kinder, die lebhaft in der Nähe ihrer Mütter
spielten. Einer der Kleinen, der gerade laufen lernte, fasste nach dem Griff
seines Kinderwagens. Eine grauhaarige alte Frau lächelte freundlich über diesen
Anblick, als plötzlich ein Schatten auf sie fiel. Sie sah auf und erblickte
einen jungen Mann, der etwas aus seinem Mantel zog und sie anlächelte, bevor
alles dunkel wurde.
Die Explosion, die der Selbstmordattentäter ausgelöst hatte, war so mächtig,
dass die gesamte Glasfassade des nebenstehenden Hauses zerbrach, Stück für Stück
zu Boden fiel und einen weißen Sturm von Dokumenten auslöste, der über den
rauchenden Ruinen niederging. Auch die Rettungsmannschaft erkannte den Platz
kaum wieder. Doch wer konnte sich vorstellen, dass dies nur der Prolog gewesen
war?
Als Dutzende von Ambulanzen Richtung Mayfair rasten, wurde die Stadt von einer
gewaltigen Explosion aus der Richtung des "Covent Garden" erschüttert. Ein
blauer Kleintransporter, der in der "Strand" in der Nähe des "Bush House"
geparkt hatte, explodierte um 15.00 Uhr, wodurch Dutzende von Passagieren eines
Doppeldecker-Busses getötet und verletzt wurden und ein Erdbeben im
Hauptquartier der BBC-Weltnachrichten ausgelöst wurde. Radiohörer rund um die
Erde bekamen die donnernde Explosion während der Nachrichten live übertragen,
gerade als der Sprecher vom "Kreislauf der Gewalt im Nahen Osten aufgrund des
gestern abend stattgefundenen Angriffs" sprach, "bei dem 15 Israelis dem
Anschein nach durch das getötet wurden, was Israel "Terror" nennt."
Reporter von "Sky News", die direkt aus Londons Straßen sendeten, konnten kaum
Worte finden, um die Tiefen ihres Schocks und ihres Entsetzens über diesen
sinnlosen Massenmord an Dutzenden von unschuldigen Zivilisten auszudrücken: "Es
ist Mord! Nichts anderes als geisteskranker, sadistischer Nazimord!" schrie ein
Reporter heraus und hob dabei widerwärtig Nägel und Schrauben hoch, die der
Terrorist in die Bombe gepackt hatte, um die Zahl der Opfer zu erhöhen. "Es war
keine Nachtigall, die gestern am Berkeley Square gesungen hat", klagte "The
Independent" am nächsten Tag mit einer Umschreibung des alten Liedes "Es war der
Teufel selbst".
Die berühmte "stiff upper lip" der Engländer –die Art, Niederlagen und kritische
Situationen mit Haltung hinzunehmen- blieb wenigstens noch bis zum nächsten
Abend erhalten, als sich zwei Terroristen (oder "Militante", wie sie vom
französischen Fernsehn genannt wurden) innerhalb kurzer Zeit nacheinander in die
Luft sprengten: einer inmitten einer Menschenmenge im Foyer des Theaters
"Gielgud", der andere in einem mit Gästen gefüllten chinesischen Restaurant im
Stadtteil Soho. Dutzende von Menschen wurden bei diesen beiden Explosionen
getötet. West End leerte sich im Nu und glich in dem flackernden gelben Licht
einer Geisterstadt. Das Heulen der Ambulanzen und Rettungsfahrzeuge "verwandelte
die Metropole in einen einzigen gewaltigen Schrei", wie "The Guardian" es am
nächsten Tag formulierte. Die ganze Titelseite des "Mirror" war mit dem Wort
"M-A-S-S-A-K-E-R!" ausgefüllt, während die "Sun" "R-A-C-H-E!" forderte.
Die Kameras von "Sky News" übertrugen live von der "Downing Street" und fingen
zufällig ein peinliches Spektakel ein, das wiederholt gesendet wurde: Cherie
Blair, die Frau des Premierministers, war mit zerzausten Haaren und einem
zerknitterten Morgenrock durch die halb offene Tür zu sehen. Sie trommelte auf
die Brust eines Leibwächters und schrie hysterisch: "Meine Kinder! Wo sind meine
Kinder! Sagen Sie mir, dass es ihnen gut geht! Machen Sie etwas! Irgendetwas!!
Warum hat nicht schon irgendjemand diese stinkenden Mörder zur Strecke
gebracht!!" Der Premierminister selbst erschien kurz danach, gelassen und
gefasst wie üblich, doch auch ein bisschen blass. Er verkündete, dass er das
Kabinett zu einer Dringlichkeitssitzung einberufen und die Armee in höchste
Alarmbereitschaft versetzen würde.
Fünf islamische Organisationen und eine temporäre Gruppe, die sich "Skalpierer
der Sachsen" nannte, übernahmen die Verantwortung für diese Anschläge und
drohten, dass diese erst der Anfang gewesen seien. Regierungs- und Armeesprecher
bestanden jedoch darauf, dass diejenigen, die direkt für diese Taten
verantwortlich wären, Saddam Hussein, Osama bin Laden, eine fanatische Sekte aus
Ost-Timor und drei Individuen mit "nahöstlichem Aussehen" aus Earl’s Court
seien. Noch am gleichen Abend führten Kommandokräfte eine Razzia in Earl’s Court
durch, über das aufgrund eines besonderen Notbefehls eine strikte Ausgangssperre
verhängt worden war. Hartgesottene Fallschirmjäger errichteten auf der Cromwell
Road Straßensperren (die Bitte einer schwangeren indischen Frau, sie passieren
zu lassen, wurde zurückgewiesen), durchsuchten ein Haus nach dem anderen und
führten Massenverhaftungen durch.
Die Öffentlichkeit zeigte Verständnis für die unkonventionellen Maßnahmen: "Alle
Gesetze der Zivilisation und die Magna Charta sind angesichts solcher
mörderischen Bastarde, die fähig sind, unschuldige Theaterbesucher zu
massakrieren, null und nichtig", erklärte die Schauspielerin und Politikerin
Glenda Jackson in einem improvisierten Interview an der U-Bahnhaltestelle
Hampstead.
Die Londoner wagten sich nicht mehr aus dem Haus, ernährten sich von Pizzas, die
durch den Pizzabringdienst geliefert wurden, und verbrachten ihre Zeit damit,
Gewinn- und Reiseshows im Fernsehn zu sehen. Doch nach dem Selbstmordanschlag
auf Schulkinder an der "Paddington Station" und einer zweiten Explosion, die den
Rettungskräften galt, war es mit der "stiff upper lip" der Engländer vorbei und
Gelassenheit und Gefasstheit machten der Aufregung und der Unbeherrschtheit den
Weg frei.
In einer Sendung des BBC sagten ein Militär-Analyst und ein sachverständiger
Sprecher, dass die "Royal Air Force" bereit sei zu handeln und dass eine
Operation gegen Ost-Timor und andere Inseln des Indonesischen Archipel in
Betracht gezogen werde.
Warum ausgerechnet gegen dieses Gebiet? Ein Sprecher von Whitehall erklärte:
"Zuständige Experten haben den definitiven Beweis dafür, dass die ideologische
Unterstützung für diese Terroranschläge von Terroristen in Timor –oder
jedenfalls in Asien- kommt." Er lehnte es ab, nähere Einzelheiten zu nennen. In
dieser militanten Atmosphäre hielt es keiner für nötig zu fragen, worauf dieser
Beweis basierte. Reporter wollten wissen, ob und wann ein Angriff auf das
jemenitische Dorf stattfinden würde, in dem nach den Anschlägen Süßigkeiten
verteilt worden waren und Bewohner auf den Hausdächern getanzt hatten. "Obwohl
wir kein Interesse daran haben, in Asien einzudringen, haben wir keine andere
Wahl als das zu tun, was getan werden muss", sagte der Sprecher. "Dies ist eine
Art rollender Operation gegen jeden, der uns in die Quere kommt."
Frankreichs Präsident Jacques Chirac drückte den Familien der Opfer das Beileid
seines Landes aus, protestierte jedoch energisch gegen den "Schlag", den man in
Earl’s Court "gegen die Bewegungsfreiheit und die freie Meinungsäußerung"
geführt hätte. Er warnte auch vor raschen militärischen Operationen, die nur zu
einer Eskalation der Gewalt führten. Dennoch "griffen" genau an dem Tag, an dem
er sprach, britische Bomber in einer Anzahl von Dörfern oder Inseln (die
Streitkräfte äußerten sich nur vage darüber und verwehrten Reportern die
Einreise nach Ostasien) "Ziele an". Ein mit Kindern voll gefülltes Waisenheim
wurde aus Versehen getroffen, doch Außenminister Jack Straw wies die europäische
Kritik zurück, indem er sagte: "Ich drücke mein Bedauern aus, doch was kann man
tun? Wo gehobelt wird, fallen Späne."
Straw reagierte wütend auf die Warnung, die vom schwedischen Außenminister über
mögliche Kriegsverbrechen geäußert wurde: "Ich möchte diesen schöngeistigen
Skandinaviern nahelegen, uns nicht zu predigen. Wir werden sehen, wie sich diese
Wikinger benehmen, wenn ihr Uppsala bei tagtäglichen Terroranschlägen in die
Luft fliegt."
Die BBC-Sprecher verloren ein bisschen etwas von ihrer berühmten britischen
Ruhe, besonders nach dem gewaltigen Anschlag bei "Shepherd’s Bush", nicht weit
entfernt von den Fernsehstudios. Tim Sebastian machte während seiner Talkshow
"Hard Talk" den französischen Botschafter zur Schnecke. Er konnte sich nur mit
Mühe zurückhalten:
"Was sagen Sie da? Dass wir kein Recht zur Selbstverteidigung gegen diesen
mörderischen Terror haben?"
"Was Sie ‚Terror‘ nennen", verbesserte ihn der Botschafter.
Die Venen an den Schläfen des Interviewers schienen beinahe zu platzen: "Was
meinen Sie damit ‚Was Sie ‚Terror‘ nennen‘? Was ist es denn sonst, wenn nicht
Terror? Wie sollten wir es nennen? Kohlrabi? Karbunkel? Was schlagen Sie vor,
wie wir das tagtägliche Massaker an unseren Leuten nennen sollen?"
"Angriffe", erwiderte der Botschafter gelassen und zündete sich mit einem
vergoldeten Feuerzeug eine "Gitane" an. "Dem Anschein nach Angriffe von
mutmaßlichen Militanten."
Für einen Moment sah es so aus, als wollte Sebastian seinen Gast erwürgen.
"Ich möchte eines klarstellen", fuhr der Botschafter fort. "Meine Regierung und
ich bedauern den Kreislauf der Gewalt und den Schaden, der Zivilisten auf beiden
Seiten zugefügt worden ist. Doch wenn Sie mir gestatten zu sagen: Ich selbst
fühle Mitleid für diejenigen, die sich veranlasst sahen, die Selbstmordanschläge
auszuüben. Wie sagte Voltaire? ‚Obwohl ich...‘"
"Sie können sich Voltaire sonst wohin stecken, Sie Frosch", brach es aus dem
altgedienten BBC-Korrespondenten heraus. Er stürzte sich auf des Botschafters
Hals. Der Bildschirm wurde über dem Geräusch von schreienden und keuchenden
Stimmen dunkel.
Die erste Explosion in Paris geschah zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, an dem
man es am wenigsten erwartet hatte: am Sonntagnachmittag neben einem Karussell
im "Jardin du Luxembourg", nicht weit entfernt vom Puppentheater. Der Platz war
voll von Kindern und von Menschen, die Boule spielten. Die Spieler hatten ihre
Jacken ausgezogen und aufgehängt. Sie krempelten ihre Ärmel hoch und rollten
Eisenkugeln über den Boden. Eine bezaubernde junge Frau in eng anliegenden Jeans
beugte sich vor und schickte ihre Kugel mit einer anmutigen Handbewegung
langsam, jedoch akkurat, in Richtung der anderen. Doch gerade dann flog der
ganze Park durch die Kraft der riesigen Bombe, die neben dem Karussell
explodierte, in die Luft. Der Himmel schien sich zu verdunkeln und gleich danach
wurden die Überlebenden von einem Platzregen an Blut, Schmutz, Kleidungsstücken
und verbrannten Körperteilen überflutet.
Für einen Moment –um es genau zu sagen: für acht Sekunden- legte sich eine
bizarre Stille über die Szene, die nur vom Flügelschlag der Tauben, die in einer
großen Wolke davonflogen, und von den Alarmanlagen der Autos, die durch die
Explosionswelle ausgelöst worden waren, unterbrochen wurde. Acht Sekunden
gespenstische Stille – und dann die schrecklichen Schreie, das Stöhnen der
Verwundeten und die endlosen Sirenen von Feuerwehr, Polizei und Ambulanzen, die
den ruhigen Sonntagnachmittag bis zum Abend durchdrangen.
Ein intellektueller Pariser, der später am Tag an einer Fernsehdiskussion
teilnahm, sprach von den "acht Sekunden katastrophaler Ruhe, die dem Sense
schwingenden, erbarmungslosen Schnitter folgten. Der Meuchelmörder. Der
Schlächter."
Wer hätte sich vorstellen können, dass die "acht Sekunden der katastrophalen
Ruhe" eine beinahe tägliche Erscheinung in Paris und anderen französischen
Städten werden würden? Eine Reihe von Explosionen und Warnungen über
Selbstmordattentäter –islamische, solche aus dem Senegal, aus Timor, aus
Algerien und offensichtlich auch Anarchisten, die sich in einem mörderischen
Trancezustand befanden- verwandelte die Straßen der Städte in einen Sog von
Explosionen, Horror, Sicherheitskontrollen, heulenden Sirenen, flackerndem
Blaulicht und Straßensperren.
Die Anschläge wurden zu einer Art alptraumhafter Routine: die beiden
Selbstmordattentäter in den Cafés "Flore" und "Deux Magots"; der
Bombenattentäter in dem Restaurant, das sich auf einem schwimmenden Boot befand;
der Anschlag auf die Leute, die in einer Reihe vor dem Victor-Hugo-Haus am
"Place des Vosges" standen; die Frau, die sich im Kaufhaus "Samaritaine" in die
Luft jagte; die Autobombe an der "Sainte Chapelle", die die wundervollen bunten
Glasfenster zerstörte. Diese Glasfenster, die bisher jedes Auf und Ab der
Geschichte überlebt hatten, waren nun durch einen Augenblick der Barbarei für
immer verloren.
Wer kann sich an alle Anschläge erinnern? Wer kann alle Beerdigungen verfolgen?
Präsident Chirac’s Gesicht während seiner Rede an die Nation sprach eine
deutliche Sprache: "Dies ist ein Krieg für unsere Heimat. Mirabeaux sagte, dass
Paris eine geheimnisvolle Sphinx ist. Heute ruft uns diese verwundete Sphinx zu:
Rache! Rache! Rache!"
Am gleichen Abend schloss sich ein französischer Bomber den britischen Bombern
an, die irgendwo in Asien eine Flächenbombardierung ausführten. Doch musste er
wegen technischer Schwierigkeiten zum Stützpunkt zurückkehren. Ein Sprecher des
Esysee-Palastes sagte, dass der Präsident und die Regierung den eventuellen
Gebrauch von taktischen Nuklearwaffen nicht ausschließen: "Es ist ganz einfach.
Entweder sie oder wir. Es sind entweder ein paar Dreckskerle in irgendeinem
Wüstenstaat oder die Gänseleberpastete, der "Beaujolais" und die "Pont
Alexandre".
Selbst der israelische TV-Journalist Emanuel Halperin wurde dabei gesehen, wie
er die Stirn runzelte. Wegen unausgewogener und einseitiger Berichterstattung
sandte die französische Regierung einen ärgerlichen Protest an das israelische
Fernsehen.
haGalil onLine 05-07-2002 |