EINE
MILITÄRISCH-POLITISCHE KARRIERE
Schalom Scharon
DIE Terroranschläge von
Palästinensern gegen israelische Zivilisten lieferten Scharon den
willkommenen Vorwand, in einigen Städten des Westjordanlands israelische
Panzer und anderes schweres Kriegsgerät aufzufahren. Die Offensive gegen
die Autonomiegebiete hat unter der palästinensischen Zivilbevölkerung
fast täglich blutige Opfer gefordert. Außerdem haben israelische
Militärkommandos oder Geheimdienstkräfte seit Beginn der Intifada an die
fünfzig so genannte Exekutionen vorgenommen. Die staatlich angeordnete
Liquidierung erklärter Feinde - ohne gerichtliches Verfahren - erinnert
an frühere Aktionen des israelischen Regierungschefs. Die militärische
und politische Karriere Scharons ist zugleich eine Kette exzessiver
Gewaltakte gegen Palästinenser.
Von Amnon
Kapeliouk, Jerusalem
Fast fünfzig Tote in neun
Tagen: so lautete die Bilanz der Aktion, die Ariel Scharon veranlasst
hatte, um die Ermordung des Ministers für Tourismus, Rechawam Seewi, zu
vergelten. Ähnlich wie bei den Übergriffen, die nur acht Stunden nach
den Terroranschlägen vom 11. September in Dschenin stattfanden, war die
israelische Armee am Morgen nach dem Mord in sechs autonome
Palästinserstädte im Westjordanland eingerückt. Erst massiver Druck aus
den USA und seitens europäischer Regierungen brachte sie dazu, am 26.
Oktober den Rückzug anzukündigen.
An den von der israelischen Armee
wiederbesetzten Orten war die Bevölkerung einem regelrechten
Belagerungszustand unterworfen, und zwar "unter Verletzung der
Bestimmungen der internationalen Menschenrechte", wie das französische
Außenministerium betonte.(1 )So wurde das "Krankenhaus zur Heiligen
Familie" in Bethlehem wiederholt von Panzern beschossen, obwohl es unter
französischem Schutz steht. Doch am schlimmsten entwickelte sich die
Situation in Beit Rima. Zwei Tage lang hatten israelische Soldaten die
Stadt hermetisch abgeriegelt und sogar Krankenfahrzeugen die Einfahrt
verwehrt. Diese Art der "Rasterfahndung" forderte am Ende neun
Todesopfer, darunter fünf Polizisten, und mehrere Dutzend Verletzte. Die
Attentäter, die Rechawam Seewi auf dem Gewissen hatten, waren nach einer
Verlautbarung des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth bereits "vor kurzem",
das heißt schon vor der Operation, festgenommen worden.
Einen Widerstand gegen die
Besatzung und die Repressionsmaßnahmen will General Scharon nicht
erkennen: Für ihn handelt es sich schlicht um einen "Krieg gegen den
Terrorismus". Damit rechtfertigt er die ohne vorausgegangenes Urteil
vollzogenen Exekutionen (über fünfzig in dem einen Jahr seit Beginn der
zweiten Intifada), die Zerstörung von Häusern und Feldern, die
Vernichtung zehntausender von Olivenbäumen und die Beschlagnahmung
palästinensischer Grundstücke.
Dieser einseitigen Destruktion
stehen ebenso einseitige konstruktive Leistungen gegenüber - die
Ausweitung israelischer Siedlungen in den besetzten Gebieten. Dass die
Arbeitslosigkeit unter den Palästinensern mit 50 Prozent so hoch wie nie
zuvor ist, ist eine unmittelbare Folge der Abriegelung ihrer Städte und
Dörfer durch Israel. Wiederholt ist es vorgekommen, dass
palästinensische Frauen ihr Kind auf der Straße zur Welt bringen
mussten, weil ihnen israelische Soldaten an einem Kontrollpunkt den
Durchgang verweigerten. Zwei Neugeborene starben dabei.
Lebenslanger
Kampf gegen die Araber
ARIEL Scharon ist bei
alledem seinen Grundsätzen treu geblieben. Im Kampf gegen die Araber
sieht er seine Lebensaufgabe. Von den Fünfzigerjahren, als er die
berüchtigte Einheit 101 bei Einsätzen hinter den feindlichen Linien
führte, bis zu seiner heutigen Politik als Ministerpräsident verfährt er
nach derselben Methode, und die bedeutet Gewalt und Zerstörung, ohne
Rücksicht auf die Opfer unter den Feinden. Als er im Februar 2001
Regierungschef wurde, hofften manche, man werde einen "neuen Scharon"
erleben, einen gemäßigten und weniger aggressiven Politiker. Die
Hoffnung war vergebens. Scharon agiert genau wie vor fünfzig Jahren bei
seinen militärischen Vergeltungsschlägen.
Eine seiner ersten Operationen
war im Oktober 1953 der Angriff auf das palästinensische Dorf Qibya im
Westjordanland. Der Generalstab der Armee hatte Scharon beauftragt, in
diesem Dorf zur Vergeltung für einen Mordanschlag palästinensischer
Agenten in Israel einige Häuser sprengen zu lassen und die Bewohner zu
vertreiben. Aber der junge "Arik" Scharon hatte sich etwas anderes
vorgenommen: Seine Männer rückten mit 600 Kilo Sprengstoff an und ließen
45 Häuser samt ihren Bewohnern in die Luft gehen. In den Trümmern
starben 69 Menschen, zur Hälfte Frauen und Kinder, dutzende wurden
verletzt.
Das war beileibe kein Einzelfall:
Scharon war dafür bekannt, dass die von ihm geführten Einsätze jenseits
der Waffenstillstandslinien von 1949 dem Gegner stets hohe Verluste
zufügten - jedenfalls weit höhere, als von der militärischen und
politischen Führung erwartet. Im Februar 1955 war Scharon der Anführer
einer Operation gegen ein ägyptisches Militärlager im Gaza-Streifen, bei
dem 38 ägyptische Soldaten ums Leben kamen, als sie in einen Hinterhalt
gerieten. Diese Demütigung hat damals den ägyptischen Staatspräsidenten
Gamal Abdel-Nasser veranlasst, einen Vertrag über umfangreiche
sowjetische Waffenlieferungen abzuschließen. Im Dezember 1955 starben
bei einem Angriff von Scharons Einheit auf syrische Stellungen beim See
Genezareth 56 syrische Soldaten. Als der israelische Ministerpräsident
David Ben Gurion, der durchaus zu den politischen "Falken" zählte, seine
Bedenken gegen die "allzu guten" Resultate äußerte, die der junge,
hitzköpfige Offizier Scharon bei seinen Aktionen erzielte, belehrte ihn
Oberst Mosche Dajan: "Erfolg zählt für Arik nur nach Opfern im Dutzend.
Bei keinem seiner Einsätze gab es beim Gegner weniger als einige Dutzend
Tote."(1)
Anfang der Siebzigerjahre war
Scharon kommandierender General im südlichen Militärsektor Israels und
führte den Kampf gegen die Fedajin im seit 1967 besetzten Gaza-Streifen.
Damals stellte er ein Liste von über hundert "gesuchten" Palästinensern
zusammen, die er dann der Reihe nach "liquidieren" ließ. Zur gleichen
Zeit vertrieb er auf höchst brutale Weise und ohne militärischen Auftrag
tausende Beduinen aus der Region um Rafah, im Süden des Gaza-Streifens,
indem die israelischen Soldaten Siedlungen zerstörten und Brunnen
zuschütteten. In Israel gab es damals heftige Proteste gegen diese
"unmoralische Politik", die Menschen unter dem Besatzungsregime die
elementaren Lebensrechte verweigerte.
Als sich Israel Ende April 1982,
nach dem israelisch-ägyptischen Friedensvertrag, aus dem Sinai
zurückzog, setzte der damalige Verteidigungsminister Ariel Scharon noch
seinen eigenen Schlussakkord, wie einst Nero mit dem brennenden Rom,
wenn auch weniger musikalisch. Scharon ließ die während der
Besatzungszeit gebaute Stadt Jamit vollständig zerstören, weil er
eigenmächtig befunden hatte, eine so schöne Stadt habe Ägypten nicht
verdient. Einige Monate später begann der Libanonkrieg. Hier trat die
innere Logik der Handlungen Scharons noch einmal deutlich in den
Verheerungen zutage, die er in der libanesischen Hauptstadt anrichten
ließ. In Beirut besaßen die Fedajin ihre Hauptquartiere, doch dort
lebten zugleich hunderttausende, die mit dem Konflikt nichts zu tun
hatten.
"Der Libanonkrieg entzündete sich
am hitzigen Temperament eines entschlossenen und rücksichtslosen Mannes,
der eine ganze Nation in einen vergeblichen Kampf für Ziele hineinzog,
die teilweise imaginär waren", heißt es in einem Buch der israelischen
Journalisten Zeev Schif (von der Tageszeitung Haaretz) und Ehud
Jaari (vom israelischen Fernsehen).
"Ein
Versprechen dieses Mannes ist nichts wert"
DIESER Krieg "gründete
sich auf Illusionen, in seinem Verlauf gab es jede Menge unsauberer
Machenschaften, und er endete zwangsläufig mit Enttäuschungen [. . .].
Zugespitzt könnte man sagen, dass in der Vorbereitungsphase dieses
Krieges und in den ersten Monaten der Kampfhandlungen in Israel ein
Staatsstreich von ganz besonderer Art stattgefunden hat [. . .]. Während
sich Putschisten gewöhnlich der staatlichen Entscheidungsinstanzen
bemächtigen oder sie auflösen, fand Scharon einen Weg, den Prozess der
Entscheidungsfindung zu steuern. Er beraubte die demokratischen
Institutionen ihrer Aufsichts- und Kontrollfunktion und lockerte die
hemmenden Mechanismen im System der Macht."(2)
Der Einmarsch in Libanon und die
Belagerung Beiruts (von Juni bis August 1982) forderten mehr als 15 000
Opfer unter der libanesischen und palästinensischen Zivilbevölkerung.
Jeden Tag flog die Luftwaffe ihre Angriffe auf die Hauptstadt, und
Anfang August hatte das Bombardement ein Ausmaß erreicht, das
US-Präsident Ronald Reagan veranlasste, bei Ministerpräsident Menachem
Begin gegen die "untragbaren Aktionen" zu protestieren. Begin entschloss
sich damals zu einer beispiellosen Maßnahme: Er untersagte seinem
Verteidigungsminister die Luftangriffe auf Beirut.
Mitte September, zwei Wochen
nachdem die Kämpfer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO)
abgezogen waren, besetzte Scharon mit seinen Truppen die libanesischen
Hauptstadt - entgegen eigenen früheren Zusagen. Unter den Augen des
israelischen Militärs und mit Erlaubnis Scharons drangen 24 Stunden
darauf die maronitischen Falangisten, eine mit Israel verbündete
ultrarechte christliche Miliz, in die palästinensischen Flüchtlingslager
Sabra und Schatila ein und begannen deren Bewohner systematisch
abzuschlachten. Die beiden Lager waren von Scharons Soldaten umstellt,
vom israelischen Hauptquartier hatte man sogar direkten Blick auf den
Schauplatz eines Massakers, das in der Geschichte des
israelisch-arabischen Konflikts eines der brutalsten war. Bereits zwei
Stunden nach Beginn des Mordens lagen der militärischen Führung Israels
Berichte über das entsetzliche Geschehen vor. Doch niemand schritt ein.
Als das Blutbad nach 48 Stunden vorüber war, blieben über 2 000 Tote
zurück, vorwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen. Hunderte wurden
verschleppt, sie gelten bis heute als "verschwunden".(3)
Ein israelischer
Untersuchungsausschuss schrieb General Scharon die persönliche
Verantwortung an diesem Massaker zu und empfahl, ihn vom Amt des
Verteidigungsministers zu entbinden.(4) Scharon musste den Posten -
Traumjob eines jeden Militärs - aufgeben.
Der US-amerikanische Vermittler
Philip Habib, der den Abzug der PLO ausgehandelt hatte, war damals außer
sich vor Zorn: "Scharon ist ein Mörder, der von Hass gegen die
Palästinenser getrieben wird. Ich habe Arafat zugesichert, den [in
Beirut verbleibenden] Palästinensern werde nichts geschehen, aber
Scharon hat sich nicht daran gehalten. Ein Versprechen dieses Mannes ist
nichts wert."(5 )Diese Eigenschaft hat Scharon während seiner gesamten
militärischen und politischen Laufbahn ausgezeichnet. Schon
Staatsgründer David Ben Gurion, durchaus ein Bewunderer des jungen,
verwegenen Offiziers, hatte sich gefragt, ob "Arik" wohl eines Tages die
Wahrheit sagen werde . . .
dt. Edgar Peinelt
Fußnoten:
(1) Uzi Benziman,
"Scharon hält nicht bei Rot" (Hebr.), Tel Aviv (Adam) 1985, S. 62.
(2) Zeev Schif, Ehud Yaari, "Trügerischer Krieg", Tel Aviv (Schocken)
1984, S. 380.
(3) Amnon Kapeliouk, "Sabra et Chatila - Enquête sur un massacre", Paris
(Seuil) 1982.
(4) Im Bericht des Kahane-Ausschusses hieß es: "Dem
Verteidigungsminister kommt die Verantwortung dafür zu, die Gefahr von
Racheakten und Massakern der Falangisten an den Einwohnern der Lager
missachtet und bei seiner Entscheidung, die Falangisten in die Lager
eindringen zu lassen, nicht berücksichtigt zu haben. Darüber hinaus
trägt der Verteidigungsminister die Verantwortung dafür, die Falangisten
in die Lager vordringen zu lassen, ohne geeignete Maßnahmen angeordnet
zu haben, um die Gefahr eines Massakers auszuschließen oder zu mindern.
Diese Fehlentscheidungen bedeuten, dass der Verteidigungsminister der
ihm übertragenen Aufgabe nicht gerecht geworden ist."
(5) Patrick Seale, "Assad" (hebr. Ausg.), Tel Aviv (Maarakhot/israel.
Verteidigungsministerium) 1993, S. 383.
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25-11-2001 |