
ISRAEL UND DER
KAMPF GEGEN DEN TERRORISMUS
Schimären der
Erinnerung
Nach dem 11. September glaubten
viele Menschen in Israel, die internationale Gemeinschaft werde der
Regierung in Jerusalem einen Platz in der vordersten Front der
Antiterrorallianz anbieten. Dass eher das Gegenteil geschah, resultiert
nicht nur aus den Bündnisinteressen, die vorrangig auf die arabischen
und islamischen Staaten Rücksicht nehmen. Zu der Entfremdung trägt auch
das israelische Selbstverständnis bei, das zunehmend ein
nationalethnisches Bewusstsein reflektiert - und damit in Widerspruch zu
universalen Begründungen gerät.
Von NATAN
SZNAIDER
Natan
Sznaider unterrichtet Soziologie am Academic College of Tel-Aviv in
Israel. Soeben erschien (mit Daniel Levy): "Erinnerung im globalen
Zeitalter: Der Holocaust", Frankfurt (Suhrkamp) 2001. Dieser Beitrag
erscheint nur in der Ausgabe für Deutschland und Luxemburg.
Auch in Israel brach der 11.
September aus, aber anders, als man es im Lande erwartet hat. Die
meisten Menschen hier rechneten mit einer "Israelisierung" der
westlichen Welt, einer aufrechten Solidarität zwischen allen
(Terror-)Opfern. Haben nicht alle Fluggesellschaften die strikten
Sicherheitsmaßnahmen der El-Al übernommen? Mussten in dieser Situation
nicht alle Menschen Israelis werden? Am Abend bot man in den
israelischen Talkshows den Amerikanern vielfältige Unterstützung an. Wir
gehören alle zusammen - glaubte man. Wie sehr man sich politisch und
emotional verrechnen kann!
In der Tat gehört der Terror zum
israelischen Alltag. Längst hat man sich an die ständige Möglichkeit
einer Bombenexplosion gewöhnt. Jedes Treffen im Café kann das letzte
sein, jede Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel - oder auch im
eigenen Auto neben einem Bus - mag die letzte Fahrt sein. Jeder weiß es,
kaum jemand spricht darüber. Man lebt mit der Angst, integriert sie in
den Alltag, aber man kann sie nicht vergessen. Auch im noch gar nicht
existierenden Palästina überschattet der Terror jeden Alltag, obwohl die
israelische Besatzung einen richtigen Alltag noch gar nicht entstehen
ließ.
Jedes öffentliche Gebäude wird
überwacht; den Griff, mit dem am Eingang der Einkaufszentren routiniert
die Handtaschen kontrolliert werden, nimmt man gar nicht mehr wahr. Der
anhaltende Terror des letzten Jahres hat auch die Intellektuellen
sprachlos gemacht, die bis dahin nach einer friedlichen und politischen
Lösung suchten. Terror kann nichts anderes - er erzeugt verlegenes und
verängstigtes Schweigen. Er unterscheidet nicht zwischen rechts und
links, zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen "Schuldigen" und
"Unschuldigen". Das ist die Rationalität des Terrors, die hinter den
irrationalen Taten steckt.
Solange man noch "verstehen"
wollte, die Motivationsstrukturen der Täter verstehbar schienen (etwa:
Terroristen bomben mangels anderer Waffen im antikolonialen Kampf), so
lange gab es Formeln, mit denen man sich auseinander setzen konnte, wie
etwa: Ein Rückzug aus den besetzen Gebieten bringt Frieden und ein Ende
des Terrors. Entsprechend sah die israelische Linke den Dreh- und
Angelpunkt im Jahre 1967. Sie hatte stets argumentiert, wenn man die
Sünde (der Okkupation) von 1967 rückgängig mache, werde die Erlösung
kommen, über Verhandlungen und Kompromisse. Auf dieser Analyse basierte
Oslo.
Die israelische Rechte hat diese
Formel nie akzeptiert. Sie war schon immer kompromisslos, weil sie von
der Kompromisslosigkeit der anderen Seite ausging. Dreh- und Angelpunkt
der Auseinandersetzungn war in ihren Augen nicht 1967, sondern 1948 -
die Staatsgründung. Oder noch klarer: die jüdische Existenz selbst. Als
die Palästinenser in der letzten Verhandlungsrunde das "Recht auf
Rückkehr" aufbrachten (das heißt auch die Rückkehr der 1948 vertriebenen
Palästinenser), schienen sie die Analyse der Rechten zu bestätigen,
wonach es den Palästinensern nicht um die Besatzung der Gebiete gehe,
sondern um die Illegitimität des Staates Israel. Dass die Palästinenser
das Rückkehrrecht in die Verhandlungen einbringen mussten - da nun
plötzlich alle den Konflikt beenden wollten, statt ihn wie vorher zu
institutionalisieren -, haben die Rechten erfolgreich ausgeblendet. Das
brachte die Linke zum Schweigen und zu der Einsicht, dass sie sich mit
diesem Konflikt aus dem politischen Raum verabschieden; die Zeit des
Nullsummenspiels brach an. Als dann Autobusse, Diskotheken und
Pizzarestaurants in die Luft flogen, war fortan jede Solidarisierung mit
dem "Feind" unmöglich.
Die israelische Rechte kannte
"den Feind" einfach schon länger und besser. Sie redete in fast
metaphysischen Formeln über die Araber als "das Böse" (daher der
ständige Vergleich Arafat/Hitler). Mit dem "Bösen" verhandelt man nicht
(wenn doch, geht es wie bei Chamberlain und Hitler aus, weshalb die
Friedensverhandlungen als "Münchner Abkommen" denunziert wurden). Das
Böse verweigert sich der Kommunikation, sieht Gewalt nicht als Mittel
zum Zweck, sondern als Selbstzweck, es genießt den Terror. Man denke nur
an die Bombe, die im August zur Mittagszeit in einem Jerusalemer
Pizzarestaurant gezündet wurde, just zu der Zeit, wo dieser Ort von
Müttern mit ihren Kindern besucht wird. Warum verstärkte sich der Terror
gerade in der Zeit der Verhandlungen und Kompromissbereitschaft, wenn
nicht, um diese zu unterwandern?
Die Intellektuellen Israels sahen
sich mit einer Gewalt konfrontiert, die zwar durch die israelische
Besatzung ausgelöst war, sich aber längst von ihrem ursprünglichen Motiv
verselbständigt hat. Damit verwandelte sich der Terror aus einer
politischen Waffe in ein antipolitisches Instrument, das jegliche
Kommunikation auslöscht: die perfekte Mischung zwischen Georges Sorel
und islamischem Fundamentalismus. Verständnis beginnt da, wo die Gewalt
aufhört, doch die anhaltende Gewalt hat langsam jedes Verständnis
untergraben. Friedenswillige und kompromissbereite Israelis zogen sich
aus der Öffentlichkeit zurück und begannen allen Ernstes zu überlegen,
ob nicht die Rechte Recht hat - und sie selbst jahrelang einem Irrtum
aufgesessen sind.
So weit war man bei uns in Israel
am 10. September. Dann stürzten die Türme ein, und die Welt wurde
Israel. Sind wir damit alle in eine globale Schicksalsgemeinschaft
hineingebombt worden? Verwandelte sich die ganze Welt in jüdische Opfer,
die erneut dem destruktiven Bösen gegenüberstehen? Wird nun die
spezifisch jüdische Erinnerung an Opfer und Verfolgung zur globalen
Erinnerung? Solche Fragen kamen vielen Israelis spontan und nicht nur
angesichts der Bilder von tanzenden Palästinensern. Noch nie hatte sich
Israel derart als integraler Teil der "zivilisierten" Welt verstanden
geglaubt. "Zivil" in dem Sinne, dass die Angst vor dem gewaltsamen Tode
der Motor aller gesellschaftlichen Ordnung ist. Terroristen setzen
diesen zivilisatorischen Fortschritt außer Kraft. Bin Laden schien am
Beginn der Bombardierung die neue israelische Zugehörigkeitsgewissheit
noch zu bestätigen, wonach es nicht um einen Kampf der Kulturen gehe,
sondern um Palästina. Als ob in Israel jemals jemand daran gezweifelt
hätte.
Arafat ist Bin Laden, hörte man
auf den Straßen des Landes; das klingt gut, das klingt überzeugend, und
wer hätte am 11. September ahnen können, dass Bin Laden es in seiner
Rede am 7. Oktober bestätigen würde? Umgehend erstarrte das von Arafat
für die Terroropfer gespendete Blut. Ist Terror nicht gleich Terror und
gleichbedeutend mit dem Ende der politischen Kommunikation?
Aber langsam wurde klar, dass das
neue, auf dem Schrecken des 11. September beruhende globale Gedächtnis
Israel vergessen möchte. Die Anschläge waren in den Augen der Welt kein
Angriff auf die Macht Amerikas und seiner Verbündeten, sondern ein
Angriff auf Zivilisation und Freiheit. Ein "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit".
Bevor die Bombardierung Kabuls
begann, war der Beginn einer neuen globalen Politik spürbar, in der
jedem seine Rolle zugedacht war. Das ist der Krieg im globalen
Zeitalter. Die Symbolik des angegriffenen Objekts bestätigte geradezu
die Globalität des neuen Krieges. In Israel akzeptierte man die Stimmen,
die ringsum ertönten: Amerika sei in der arabischen Welt wegen der
Unterstützung Israels verhasst. Das machte Sinn für die Israelis und
verband die USA und Israel zu einer Schicksalsgemeinschaft. Aber andere
Sichtweisen interpretierten die Geschichte mehr "jüdisch" als
"israelisch"; hier und da war herauszuhören, der Angriff gelte dem
"internationalen Judentum", symbolisiert schon immer durch New York. Es
gehe nicht nur um israelische Besetzung, sondern um die Verknüpfung von
Juden und New York.
Der Hass auf Amerika könnte also
mit Israel zusammenhängen, aber auch tiefer im Gedächtnis angesiedelt
sein. Er könnte auch damit zusammenhängen, dass in den Augen vieler
Antisemiten Amerika immer für einen von Geld angetriebenen,
"verjudeten", ortlosen Ort stehe - ein Symbol für emanzipierte Frauen
und ethnische Durchdringung. So gesehen wäre der Angriff auf Amerika ein
Angriff auf die Spätmoderne und kein antikolonialistischer
Befreiungskampf, gespeist aus der Erinnerung der Alten Welt.
Israel als
verspätete Nation
DIE ersten Anzeichen
dafür, dass Israel und die Welt nicht im Kampf gegen den Terror
verbunden sind, kamen nicht zufällig von den ehemaligen Kolonialherren
des Nahen Ostens. Der französische Botschafter in Israel wie der
britische Außenminister versuchten, Israel die feinen Unterschiede des
Terrors zu erklären: In Israel sei der Terror nur "so genannter Terror"
(oder "was in Israel als Terroranschlag bezeichnet wird", wie es die BBC
formuliert), da es sich schließlich um den palästinensischen
Unabhängigkeitskampf handele. Die Erfahrungen mit der eigenen kolonialen
Geschichte (FNL und IRA) dürften an dieser Übertragung nicht unbeteiligt
sein.
Nach dem 11. September, so wollen
es England und Frankreich (vor dem Hintergrund der eigenen Erinnerung an
Kolonialismus und Entkolonisierung) den Israelis beibringen, seien die
Probleme der Welt auf einer anderen Ebene angelangt. Die Angriffe auf
New York und Washington gehören nach diesem Verständnis einer neuen
historischen Stufe an; Israel ist plötzlich historisch in einen
Rückstand geraten, ob seines kolonisierenden Ethnonationalismus zur
verspäteten Nation geworden.
So bildete sich die
Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten heraus, auf der die
politischen Missverständnisse des 11. September in Israel basieren. Auf
der einen Seite hatte sich in den letzten Jahren über die
nationalstaatlichen Grenzen hinweg ein globales Gedächtnis konstituiert;
transnational ausgeprägt in der Erinnerung an Holocaust, Völkermord,
Sklaverei und Kolonialismus. Auf der anderen Seite ist im offiziellen
israelischen Gedächtnis der Holocaust nach wie vor ein Verbrechen gegen
das jüdische Volk. Während also die Reaktion auf den 11. September neue
transnationale Kooperationen hervorbringt - noch nie war ein so großer
Teil der Welt im Abwehrwillen gegen den Terror derart vereint -, sieht
die Einschätzung in Israel aufgrund der eigenen Geschichte völlig anders
aus.
Was für viele Israelis die
Situation noch unverständlicher macht, ist der unterschiedliche Weg, den
das globale und kosmopolitische Gedächtnis eingeschlagen haben.
Jüdisches Gedächtnis war lange und gerade vor der israelischen
Staatsgründung ein Diaspora- oder Exilgedächtnis. Entortung war
konkretes jüdisches Schicksal, bevor sie global zum Identitätsträger
wurde. Das Gegenstück der Entortung ist die Verwurzelung, eine
"natürliche", örtlich gebundene Zusammengehörigkeit. Vor der
Staatsgründung fußte die jüdische Existenz gemeinhin nicht auf
geografisch definierter nationaler Zugehörigkeit, sondern auf der
Möglichkeit und Erfahrung transnationaler Solidarität, welche die
Möglichkeit eines grenzübergreifenden Gedächtnisses überlieferte.
Daher sollte man jüdische
Erfahrung nicht mit israelischer Erfahrung verwechseln, wie es innerhalb
und außerhalb Israels oft getan wird. Die auf dem Nationalinteresse
beharrende israelische Position definiert sich heute geradezu als
Gegenstück zum globalen Kosmopolitismus. Gleichzeitig-ungleichzeitig
hinkt das in Kategorien des 19. Jahrhunderts verfangene Israel dem 21.
Jahrhundert hinterher. Vom Beginn an wollte das sich gründende Israel
das Exil als jüdische Existenzweise negieren, wollte diese durch
Ethnonationalismus aufheben. Das war nicht immer einfach. Die
zionistische Revolution wollte den neuen jüdischen Menschen auf eigenem
Territorium erschaffen, konnte dies aber nur im Rückgriff auf schon
vorher existierende jüdische Symbolik. Der Zionismus war nie eine
universale Ideologie, er wandte sich immer nur an eine bestimmte
ethnisch-religiöse Gruppe. Nationale Symbole sind gleichzeitig religiöse
Symbole. Israel ist säkulare Heimat und heiliger Boden.
Als der Zionismus mit seiner
nationalen Befreiungsidee Heimat schuf, befreite er zugleich das
Heilige. Während anderswo die Moderne als integrierendes Prinzip die
Religion verdrängte, wurde diese in der jüdischen Nationalbewegung
freigesetzt. Ohne religiöse Symbolik kann sich der jüdische Staat kaum
legitimieren, geschweige denn seine Bürger integrieren. Die Rückkehr zum
"Ort" ist für Israel deswegen nicht nur geopolitische Realität, sondern
mit der Problematik der Überwindung der Diaspora verflochten. Nur so
kann man erklären, warum der Kampf um Territorium in Israel so erbittert
ausgetragen wird. Es geht um mehr als nur um Land. Es geht um "heilige"
Verortung. Der Terror kämpft gegen diese Verortung, sieht den Ort
unrechtmäßig in Besitz genommen und will den Ort zerstören. Nicht mit
politischen Mitteln, sondern mit heiligem Terror.
Der Friedensprozess im Nahen
Osten versuchte die Politik zu entheiligen, so wie der globale Einfluss
der USA der Welt ihren Heiligenschein nimmt. Terror hingegen holt das
Heilige zurück in die Politik, wodurch diese verzaubert wird, weil Tod
und Gewalt alle zivile Errungenschaften überlagern. Terror kennt keinen
Kompromiss, man kann sich mit ihm nur militärisch auseinander setzen.
Und gerade hier im Nahen Osten, wo Religion niemals als Privatsache
gelten kann, wo Religion und Nation nicht zu trennen sind, ist die
Verheiligung der profanen Politik immer präsent.
In Israel treffen also
verschiedene Arten von Gedächtnis aufeinander. Kosmopolitische
Erinnerung ist nicht die Summe aller partikularen Gedächtnisse. So wie
Diasporagemeinschaften in ihrer Geschichte gelernt haben, Raum mit
Anderen zu teilen, bemüht sich das kosmopolitische Gedächtnis, die Zeit
mit anderen zu teilen. Kosmopolitische Erinnerung ist
Diasporaerinnerung. Die Existenz Anderer geht auf in der eigenen
Existenz.
Entsprechend versucht Amerika,
die Terroristen von den gemäßigten Muslimen zu isolieren und zur
bedingungslosen Kapitulation zu bringen. Das ist die Ideallösung des
Konflikts, die aber keinen Platz für Israel bietet, da andere Bündnisse
vonnöten sind. Als dies hierzulande klar wurde, verstand man die Welt
nicht mehr: Täglich ging der kleine Terror weiter, aber "draußen"
redeten Bush und Blair vom unabhängigen Palästina statt vom gleichen
Boot.
Scharon trat die Flucht nach
vorne an: Wenige Tage vor Beginn der Bombardierung Afghanistans warnte
er in einer seiner aggressivsten Reden die Amerikaner, dass Israel das
große und gewagte globale Spiel nicht mehr mitzuspielen bereit sei.
Israel sei nicht die Tschechoslowakei von 1938. Damit verrückte der
israelische Ministerpräsident den kosmopolitisch-globalen Konflikt des
Jahres 2001 auf die partikulare historische Ebene der verorteten
Nationalstaatlichkeit, mit der das israelische Gedächtnis vertraut ist.
Die Nazis stehen vor den Toren! Und wieder spielten Engländer und
Franzosen die Hauptrollen. 1938 lieferten Chamberlain und Daladier die
Tschechoslowakei an Hitler aus. Scharon wollte vielleicht London und
Paris an diese Zeit (und ihre Schuld) erinnern und damit kundtun, Israel
werde sich von nun an auf sich selbst verlassen, was in Zeiten
transnationaler Kooperationen wie aus einer anderen Welt klingt. Diesmal
würden die Juden nicht passiv wie die "Schafe zur Schlachtbank" gehen,
gilt doch die "Passivität" als das Symbol der Diaspora, des Exils, der
scheinbaren Politiklosigkeit - auf die der Staat Israel die "aktive"
Antwort darstellt, nämlich die Rückkehr des jüdischen Volkes in die
Geschichte.
Aber trotz der Rede Bin Ladens
wird Israel nicht mit offenen Armen in die Koalition aufgenommen.
Vielmehr drängt das globale Bündnis, das sich gegen den Terror formiert,
Israel gerade deshalb in die passive Rolle, weil man glaubt, so den
kosmopolitischen Kampf gegen den Terror besser bestehen zu können. Aber
Israel wird damit wiederum "jüdischer".
Derweil stehen die Israelis in
ihrer ganzen Verwirrung Schlange, um die alten Gasmasken aus dem
Golfkrieg gegen neue einzutauschen. Auch damals, als die irakischen
Raketen ins Land einschlugen, sah sich Israel von den Amerikanern zur
Passivität verdammt: ein Staat, so das Bild, das um die Welt ging,
voller hilfloser Juden, die plötzlich wieder "vergast" werden sollten.
Während den älteren Juden die Lage bekannt vorkam, konnten besonders die
jungen, kampfbereiten Israelis nur schlecht mit dieser Situation
umgehen. Dieses jüdische Moment der Hilflosigkeit (und gerade Scharon
lehnte die israelische Passivität damals ab) war es wohl, was zum Beginn
des Friedensprozesses etwas mehr als ein Jahr später führte. Nun steht
Israel erneut vor einem solchen Scheideweg.
Gibt es überhaupt noch einen
Ausweg? Bleibt nur noch die Flucht in die Utopie? Oslo war zum Scheitern
verurteilt, weil man nur in Scheidungsformeln denken wollte und sich
nicht vorstellen konnte, dass der einzige Weg jenseits des gegenseitigen
Mordens darin liegt, die Erfahrung, die Erinnerungen, die Lebenswelten
der anderen Seite in das eigene Leben einzubeziehen, ein gemeinsames
Schicksal, gemeinsames Leben zu entwerfen, mit anderen Worten:
kosmopolitisches Gedächtnis hierher zu verpflanzen. Man sollte also
nicht von Identität reden, sondern von Leben. Die Millionen Menschen,
die in Israel leben, müssen sich daran gewöhnen, dass hier nichts
einfach zu trennen ist, dass die Region vielmehr längst wirtschaftlich
und sogar kulturell eine Einheit ist. Das bedeutet auch: mit gemeinsamen
Erinnerungen, die sie sich dringend aneignen muss.
Es geht also keineswegs nur um
die Vergangenheit, sondern vor allem um die zukunftsbezogene Projektion
eines gemeinsamen Gedächtnisses, das, kosmopolitisch ausgerichtet, sich
aus der Anerkennung des Leidens des Anderen und der
Institutionalisierung dieses Leidens zusammensetzt. Das hieße, dass
Israelis anerkennen, was die Palästinenser 1948 zu erleiden hatten, ohne
dass das Leid der Juden und Israelis damit in irgendeiner Weise
geschmälert würde. Und dass die Palästinenser aufhören, den Holocaust
als zionistische Propaganda abzutun. Dass begonnen wird, sich
gegenseitig Geschichten zu erzählen, statt die eigene Geschichte zu
Mythen umzubauen. Was diese Geschichten verbindet, ist vor allem Leid.
Es kann nur eine gemeinsame Zukunft geben. Utopie? Wahrscheinlich. Aber
utopisch ist auch die Gewalt, die das Verschwinden des Anderen erträumt.
haGalil onLine
22-11-2001 |