
Eine Typologie der Selbstmordattentate:
Asymmetrische Feindschaft
Von Pierre Conesa
Autor von Dommages Collatéraux, Paris 2002
Die Bereitschaft junger Menschen,
in einem Selbstmordattentat zu sterben und dabei möglichst viele
Menschen mit in den Tod zu reißen, gibt zahllose Rätsel auf. Das
Selbstmordattentat gilt als die letzte wirksame Waffe der Schwachen
in einem asymmetrischen Krieg - das ist die einzige "moralische
Legitimation", die sich zu ihrer Verteidigung anführen lässt.
Weltweit steigt die Zahl der Selbstmordanschläge, während die Zahl
der "normalen" terroristischen Attentate rückläufig ist. Auch wenn
vielfach religiöse Motive angeführt werden, geht es zumeist um
politische Interessen, und so ähnlich sich die Taten scheinen, so
verschieden sind Motive und Zusammenhänge. Doch was genau
unterscheidet den Anschlag auf das WTC von Selbstmordanschlägen der
Tamil Tigers? Eine kurze Untersuchung über eine neue weltweite
Erscheinung, über ihre Hintergründe und Auswirkungen.
Wir haben keine Fliegerbomben und
Raketen, keine Panzer, Flugzeuge und Helikopter. Uns bleibt doch gar
keine andere Möglichkeit." Mit diesen Worten versuchte Scheich
Abdallah Sahmi, der Führer des Islamischen Dschihad im
Gaza-Streifen, in der Zeitung ABC vom 21. August 2001 eine
Rechtfertigung der Selbstmordattentate. Damit ist allerdings noch
nicht erklärt, warum immer mehr Selbstmordattentate verübt werden,
während die Zahl terroristischer Anschläge zurückgeht.
Selbstmordaktionen sind Ausdruck einer Ideologie, die sich offenbar
ebenso leicht weitergeben und exportieren lässt wie die zugehörige
Technik. Innerhalb weniger Jahre haben sie sich als billige,
"intelligente Waffe" für eine neue Terroristen-Generation etabliert.
Der Selbstmordanschlag ist ein
Gewaltakt, der keine Rücksicht auf zivile Opfer kennt und darauf
beruht, dass die ausführenden Terroristen den Tod finden. Der immer
wieder bemühte Vergleich mit den japanischen Kamikaze-Kämpfern trägt
zum Verständnis dieses neuen Phänomens wenig bei, denn die Japaner
verstanden sich als Soldaten und ihre Angriffe richteten sich auf
militärische Ziele. Im Zentrum der heutigen Anschläge steht jedoch
die Opferbereitschaft - in einem zunehmend mythisch aufgeladenen
Kontext.
Bis heute hat es in mehr als dreißig
Ländern oder Krisengebieten Selbstmordanschläge gegeben.(1)
Vierunddreißig Länder mussten Anschläge auf ihre Einrichtungen im
Ausland hinnehmen.(2) Zwischen 1982
(als diese Form des Angriffs aufkam) und April 2000 zählte man
durchschnittlich sechzehn Anschläge pro Jahr, inzwischen sind es
neununddreißig.
Entstanden ist der
Selbstmordanschlag als Kampfform im Krieg gegen eine
Besatzungsmacht. Ursprünglich im Libanon (1982) gegen Israel und die
"UN-Besatzer" gerichtet (3), tauchte
die Kampfform alsbald auch in anderen Ländern auf: 1987 in Sri
Lanka, 1994 nach dem Blutbad in der Moschee von Hebron in Palästina,
1995 in der Türkei, im Juli 1999 in Kaschmir, 2000 in Tschetschenien
(und 2002 in Russland), und seit 2003 im Irak. Diese Form des
indirekten Angriffs richtete sich auch gegen als feindlich
angesehene Ausländer: gegen die USA (2001 in Kenia und Tansania),
gegen Australien (2002 in Indonesien), gegen Frankreich (in Pakistan
und im Maghreb im April und Mai 2002). In Saudi-Arabien und Pakistan
sind Selbstmordanschläge seit Jahren eine Waffe in den Kämpfen
zwischen Bevölkerungsgruppen oder Religionsgemeinschaften, ähnlich
seit 2003 auch im Irak. Und wie der Anschlag auf den afghanischen
Kriegsherrn Schah Massud zeigt, werden Selbstmordanschläge mitunter
auch zur Begleichung hochrangiger Zwistigkeiten eingesetzt. Der
Anschlag auf das World Trade Center macht die "Globalisierung"
derartiger Gewalttaten deutlich: Attentäter aus sechs - und Helfer
aus fünfzehn - Ländern waren beteiligt, die 3 052 Opfer stammten aus
über hundert Ländern.
Mittlerweile gibt es die
unterschiedlichsten Ziele: Einrichtungen der Vereinten Nationen,
Touristenhotels (im kenianischen Mombasa), Nachtclubs (Bali),
Synagogen (Djerba, Buenos Aires und Istanbul), ein Wohnviertel
ausländischer Araber (Saudi-Arabien), eine Bank (Istanbul), ein
Kriegsschiff (die "USS Cole"), ein Tanker (die "Limbourg"). Und es
gibt eine große Zahl unschuldiger Opfer.
Auch die Landkarte der Anschläge hat
sich inzwischen deutlich ausgeweitet. Fanden sie zunächst nur auf
dem Gebiet des militärischen Gegners statt (Israel, Sri Lanka), so
kam bald das Staatsgebiet einer verhassten Macht (USA) oder auch
eines muslimischen Landes (Tunesien, Marokko), ja sogar von
islamistisch regierten Staaten (Saudi-Arabien, Türkei) hinzu.
Weitgehend, doch nicht
ausschließlich, ist der Selbstmordanschlag eine Erfindung der
muslimischen Welt. Die hinduistischen Tamil Tigers (4)
in Sri Lanka übernahmen die Kampfform von der schiitischen Hisbollah
im Libanon. Ihrem ersten Selbstmordanschlag fielen am 9. Juli 1987
vierzig Soldaten der Regierungstruppen zum Opfer. Seither haben sie
viele Selbstmordattentate verübt: Fast 200 werden ihnen insgesamt
zugeschrieben - weit mehr als den Palästinensern. Auch die Kurdische
Arbeiterpartei (PKK) griff, obwohl sie damals laizistisch und
leninistisch war, auf das Mittel zurück, als sie militärisch
geschwächt war und sich neu formieren wollte. Letztlich spielt das
Motiv der Nachahmung eine ebenso große Rolle wie religiöse
Überzeugungen. 1982 verübte die libanesische Hisbollah die ersten
Selbstmordanschläge, erst 1994, nach mehr als einem Jahrzehnt und
einem Umweg über Sri Lanka, griffen die Palästinenser das Mittel des
Selbstmordanschlags wieder auf.
Die Attentäter selbst sind durchaus
nicht nur Fanatiker aus den ärmsten Bevölkerungsschichten oder
irregeleitete junge Leute, die womöglich auch noch unter
Drogeneinfluss stehen. Die Attentäter vom 11. September 2001
stammten alle aus Familien der Mittelklasse, hatten studiert, und
keiner von ihnen war zuvor wegen militanter Aktivitäten aufgefallen.
In manchen Fällen sind persönliche
Gründe im Spiel, etwa bei der jungen palästinensischen
Rechtsanwältin Hanadi Tayssir Dscharadat, die mit ihrem Attentat in
Dschenin (Oktober 2003) den Tod ihres Bruders und ihres Verlobten
rächen wollte, während solche Motive für die Selbstmordattentäter in
Kaschmir (5) - Studenten
pakistanischer Koranschulen - oder für die indonesischen Islamisten,
die australische Touristen in Bali umbrachten, nicht ausschlaggebend
waren.
Die Zunahme dieser Art von
Anschlägen erklärt sich vor allem aus dem Misserfolg anderer Formen
des Terrorismus. In den Jahren 2000 bis 2002 machten
Selbstmordanschläge nur 1 Prozent der palästinensischen Attentate
aus - dabei kamen 44 Prozent aller Attentatsopfer bei
Selbstmordanschlägen ums Leben. Allein im Jahr 2002 gab es in Israel
mit 59 Toten fast so viele Opfer wie in den acht Jahren zuvor (62).
Obwohl die Selbstmordattentate die
"wirksamste" Art des Terrorismus darstellen - weil der Attentäter
den Ort und den Augenblick für die Tat bestimmen kann -, bleibt die
Bedeutung derartiger Kampfformen für das angegebene Ziel
zweifelhaft. Sie bieten einige "Vorteile". Man braucht keinen
Rückzugsplan: Einige der Attentäter nehmen sich das Leben, wenn ihr
Plan scheitert - die tamilischen Terroristen etwa hatten stets eine
Zyankalikapsel bei sich. Zudem fordern Selbstmordattentate, wie eine
Studie der Rand Corporation belegt (6),
durchschnittlich viermal so viele Opfer wie klassische Attentate.
Außerdem können sie den Gegner empfindlich treffen: mitten in seinem
eigenen Territorium, in New York, Washington, Tel Aviv oder Moskau;
auch Staatspräsidenten, Regierungschefs und andere noch so
geschützte Personen sind nicht unangreifbar. Nach israelischen
Schätzungen kostet die Durchführung eines solchen Attentats nicht
mehr als 150 Dollar. Auch die Bilanz der Anschläge des 11. September
ist auffällig: Sie haben knapp eine Million Dollar gekostet, aber
den USA einen wirtschaftlichen Schaden von schätzungsweise 40
Milliarden Dollar zugefügt.
Es gibt immer weniger Einzeltäter:
bei dem Anschlag in Marokko waren elf, bei den Anschlägen des 11.
September neunzehn Täter beteiligt, und vierzehn tamilische
Attentäter führten am 24. Juli 2001 den Angriff auf den
Luftwaffenstützpunkt in Colombo aus.
Diese Form des Terrors ist
inzwischen erschreckend verbreitet. Man kann zwei verschiedene Arten
von Selbstmordattentaten unterscheiden: Die einen finden in lang
andauernden Krisengebieten statt, die anderen richten sich gegen
einen globalen Feind - "den Westen", "die Juden" und so weiter. Die
erste Variante hat sich in vergleichbaren politisch-kulturellen
Zusammenhängen - in Palästina wie in Sri Lanka, in Kaschmir wie in
Tschetschenien - als Reaktion auf das seit Generationen andauernde
Leiden der Bevölkerung entwickelt. Die Tschetschenen waren unter
Stalin wegen der ihnen vorgeworfenen Kollaboration mit den Deutschen
deportiert worden, die Palästinenser hatten die "Katastrophe" der
Vertreibung von 1948 zu erdulden (7),
die Tamilen wurden unter der britischen Kolonialherrschaft zur
Zwangsarbeit auf Plantagen deportiert, nach der Unabhängigkeit waren
sie staatenlos, dann wurden sie zu Singhalesen und schließlich
teilweise wieder zu Indern erklärt. Selbstmordanschläge sind stets
Spätfolgen - zwei oder drei Generationen nach den ursprünglichen
Katastrophen fordern die Nachkommen der Opfer die uneingelösten
Hoffnungen ein.
Gewalt und Tod prägen dieses Milieu,
nur so konnte allmählich der Märtyrer den Kämpfer als subkulturelles
Leitbild ablösen. In einem Klima der Todesnähe, unter dem Eindruck
der Gewalt von Besatzungstruppen und der Glorifizierung des
Widerstands, wollen viele sich lieber aufopfern als weiterleben.
Eine Studie des palästinensischen Psychiaters Ajad al-Sarraj
(Begründer des Gaza Community Mental Health Programme) (8),
brachte erschreckende Resultate: Ein Viertel der Jugendlichen in
Gaza wünscht sich, als Märtyrer zu sterben. Viele wollen nicht mehr
zur Schule gehen, weil sie Angst haben, dass, wenn sie nach Hause
kommen, ihre Eltern verhaftet oder getötet worden sind oder das Haus
der Familie zerstört wurde. "Während der ersten Intifada drohte
Gefahr nur an den Orten, wo Soldaten und Steinewerfer aufeinander
trafen", erklärt Ajad al-Sarraj.(9)
"Heute kommt der Tod vom Himmel, und es kann jederzeit jeden treffen
- das erzeugt eine permanente Panikstimmung."
In die Rolle des Feindes schlüpfen
Al-Sarraj arbeitet unter anderem mit
palästinensischen Kindern, deren Gewaltbereitschaft sehr hoch ist.
Manche von ihnen haben zusehen müssen, wie ihr Vater oder ein Bruder
gedemütigt wurde. Al-Sarraj lässt die Kinder in Rollenspielen in die
Rolle des israelischen Soldaten schlüpfen und spricht hinterher mit
ihnen über die Erfahrung, die sie dabei machen. Das sll bewirken,
dass ihre Gewaltbereitschaft nachlässt.
Der französische NS-Forscher Jacques
Semelin hat im Zusammenhang mit dem Völkermord von einer
"Rationalität des Irrsinns" gesprochen - aber eben von einer
Rationalität.(10) Und nach Emile
Durkheim, der in seinem Buch "Der Selbstmord" den egoistischen vom
altruistischen Selbstmord unterscheidet, gehört die Selbsttötung mit
dem Motiv der Rache zu den altruistischen Akten. Ein moderner
Selbstmordattentäter gibt sein Leben für ein klar umrissenes
Kollektiv, er folgt den Vorgaben eines ethnonationalistischen
Anspruchs auf ein bestimmtes Gebiet. Und Leute, die potenziell
bereit sind, diesen Akt zu vollziehen, finden sich gerade unter den
gut ausgebildeten jungen Menschen, die eigentlich auf dem besten
Wege sind, das Feld der Gewalt und des Leidens zu verlassen. Doch
dann fühlen sie sich plötzlich "verraten" und wählen den Opfertod.(11)
In letzter Instanz ist das Ziel ihres Kampfes ein politisches, auch
wenn religiöse Motive genannt werden. Stets spielt die Bindung an
die Eltern oder an eine Gemeinschaft hinein, und mitunter findet
nach dem Selbstmord eine Feier statt, die an eine Hochzeit erinnert.
Auch wenn der Attentäter seinen
Anschlag im Geheimen und ohne Wissen seiner Angehörigen vorbereitet
hat, bezieht er sich zur Begründung seiner Tat häufig auf seine
Familie - anders als die Attentäter vom 11. September. "Ich will das
vergossene Blut der Palästinenser rächen, vor allem das Blut der
Frauen, der Kinder und der Alten", erklärte Machmud Achmed Marmasch,
der im Mai 2001 bei seinem Selbstmordanschlag in Netanja umkam.
"Ganz besonders geht es mir um Vergeltung für den Tod des kleinen
Himam Hejo, der mich tief erschüttert hat (…) Ich weihe meine Tat in
Demut den Gläubigen, die das Andenken der Märtyrer bewahren und ihr
Werk fortsetzen wollen."
Die immer wieder ergebnislosen
Verhandlungsrunden kamen den Palästinensern wie Täuschungsmanöver
vor und haben bei ihnen ein Gefühl der Ohnmacht erzeugt. Ihre ersten
Anschläge in Israel führte die Hamas aus, um den
Oslo-Friedensprozess zum Scheitern zu bringen - nachdem Israel
begonnen hatte, neue Siedlungen auf dem für die Palästinenser
vorgesehenen Territorium zu bauen. Auslöser war das Massaker vom
Februar 1994 in der Ibrahim-Moschee von Hebron: Baruch Goldstein,
ein jüdischer Siedler, erschoss damals dreißig Muslime während des
Freitagsgebets.
Die traditionellen Formen der
politischen Repräsentation sind in die Krise geraten, das gilt für
das System der Clans (Beispiel Tschetschenien) ebenso wie für das
Parteiengefüge in Palästina (PLO) oder die Kaschmir-Befreiungsfront
(JKLF).(12) Allgemeiner gesprochen
bestärkt die Unfähigkeit der herrschenden Eliten, den Lauf der Dinge
zum positiven zu verändern, die Märtyrer in ihrer Entscheidung. Die
Rivalitäten zwischen traditionellen Parteien und Gruppierungen (in
Palästina ebenso wie unter den Tamilen) schmälern das Vertrauen in
diese Organisationen zusätzlich. Ein drastisches Beispiel ist die
Kampagne der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) gegen die Tamil
Eelam Liberation Organization (Telo), der 1985 fast alle Mitglieder
dieser Gruppierung zum Opfer fielen. Anschließend (1986-87)
vernichtete die LTTE auch ihre Rivalen von der Revolutionären Eelam
Volksfront (EPLRF).
Das Motiv für viele
Selbstmordattentate ist die Perspektivlosigkeit. Für viele junge
Menschen zählt die Religion oder die Idee des Märtyrertodes heute
mehr als die patriarchalischen Strukturen. "Mit dem Koran gegen den
Vater", lautete die Formel, mit der die Soziologin Pénélopé
Larzillière den Konflikt zwischen Wahhabismus und sufischen
Bruderschaften zusammenfasste. Der Glaube spielt eine wichtige
Rolle, aber als auslösendes Moment genügt oft das allgemeine Klima
von Todes- und Opferbereitschaft.
Zunehmend sind Frauen an den
Anschlägen beteiligt, bei den Palästinensern ebenso wie bei der
syrischen Volkspartei PPS, die bei zwölf Selbstmordanschlägen fünf
Frauen einsetzte. Die LTTE gründete sogar eine Freiwilligenbrigade
für Frauen, die "Schwarzen Tigerinnen". Manchmal wählen junge Frauen
diesen Weg, weil sie von Soldaten der Besatzungsarmee vergewaltigt
wurden - zur Demütigung durch die Besatzer kommt in solchen Fällen
der Ehrverlust innerhalb der eigenen Gesellschaft. Und in der
persönlichen Motivation mischt sich dann der Widerstand gegen die
Besatzungsmacht mit dem Aufbegehren gegen die Männerherrschaft.(13)
Wafa Idriss, die erste palästinensische Selbstmordattentäterin, war
von ihrem Mann verstoßen worden, weil sie keine Kinder bekommen
konnte, und musste in Schande in die elterliche Familie
zurückkehren. Nur durch eine radikale Auflehnung gegen die soziale
Ordnung - den Opfertod - glaubte sie diese Schmach tilgen zu können.
Es gibt viele solcher Fälle: die Palästinenserin Ahlam Araf Tamimi,
die am 9. August 2001 ein Attentat verübte, oder die Tamilin Dhanui,
die Rajiv Gandhi ermordete - beide hatten "gesündigt" und waren
unverheiratet schwanger geworden. "Meine Tat richtete sich gegen die
Besatzung", erklärte Fatma al-Said, die nach der Ermordung zweier
israelischer Soldaten verhaftet wurde. "Aber ich wollte auch meiner
Familie beweisen, dass ich nicht weniger wert bin als meine Brüder,
die an die Universität gehen durften, während mir das Studium
verwehrt wurde."(14)
Die Frage, ob man bei
Selbstmordattentaten Unschuldige mit in den Tod reißen darf, ist
zumindest hin und wieder ein Streitpunkt. Der von der russischen
Regierung nicht mehr anerkannte Präsident Tschetscheniens Aslan
Maschadow hat Attentate auf Zivilisten ebenso verurteilt wie der
saudische Großmufti Scheich Abdal-Asis al-Scheich und der Mufti
Mohammed Sajid al-Tantawi von der Kairoer Al-Aschar-Universität.
Die weltweiten Anschläge mögen
religiös motiviert erscheinen, doch letztlich dienen sie politischen
Zwecken. Nur ernsthafte politische Bemühungen um Ausgleich werden
sie eindämmen können. Die Strategie der Terrorismusbekämpfung durch
Gewalt und Kollektivbestrafung ist zum Scheitern verurteilt. "Wir
werden den Krieg zu ihnen nach Hause bringen", erklärt ein Offizier
der israelischen Armee. "Dann müssen sie in ihren Häusern kämpfen,
und nicht bei uns. Wir führen unsere Einsätze auf ihrem Gebiet aus,
und wir sind ihnen überlegen."(15)
Seit Beginn der zweiten Intifada sind dreimal so viele Palästinenser
wie Israelis getötet worden, und dennoch konnte Ariel Scharons
Politik der harten Hand Israel nicht schützen: Auch die Zahl der
israelischen Opfer liegt heute dreimal so hoch wie vor
fünfundzwanzig Jahren.
Es sind derartige Gewaltstrategien,
die den Boden für Selbstmordattentate bereiten. Algerien zum
Beispiel kennt solche Anschläge nicht (16),
obwohl es nach 1991 einen mörderischen Bürgerkrieg erlebt hat. Dass
der Algerienkonflikt noch relativ jung ist, erklärt nicht, warum
diese Form des Attentats hier nicht existiert.
Äußerst beunruhigend ist dagegen die
zweite (neuartigere) Kategorie der Selbstmordanschläge, deren
bisheriger Höhepunkt die Angriffe auf das World Trade Center in New
York waren. Der Feind wird als globaler immer wieder neu imaginiert
und "verdinglicht": "Die Juden, die Kreuzfahrer und die Heuchler"
heißt das in den Worten von Ussama Bin Laden, der dabei alle
möglichen Angriffsziele in einen Topf wirft und sich auch um die
Religionszugehörigkeit der potenziellen Opfer nicht schert. Am 21.
Mai 2003 strahlte der arabische Fernsehsender al-Dschasira einen
Aufruf von Aiman al-Sawahiri - der "Nummer zwei" von al-Qaida - an
alle Muslime aus, "die Amerikaner zu bekämpfen" und "die Westler von
der arabischen Halbinsel, der 'heiligen Erde des Islam' zu
vertreiben". "Die Kreuzfahrer und die Juden verstehen nur die
Sprache des Todes, des Blutbads und der brennenden Häusertürme",
hieß es weiter. "Entscheidet euch, Muslime, die Botschaften der USA,
Großbritanniens, Australiens und Norwegens anzugreifen, ebenso wie
die Firmen dieser Länder und ihre Angestellten."
Innerhalb der Netzwerke, denen die
Selbstmordanschläge normalerweise zugeschrieben werden, sind
inzwischen drei Kämpfergenerationen aktiv. Neben den "Afghanen", den
Veteranen des Krieges gegen die Russen (wie Ussama Bin Laden, der
Türke Adnan Ersöz oder der Londoner Prediger Abu Qatada), gibt es
eine jüngere Gruppe von "Bosniern" und "Tschetschenen", Aktivisten
wie der Türke Azad Ekinci, der die Anschläge in Istanbul vorbereitet
hat, die Brüder David und Jérome Courtailler oder Menad Benchellali,
Sohn eines Imams aus Lyon, der einen Anschlag mit Nervengift auf die
russische Botschaft in Paris geplant hat. Diesen erprobten Kämpfern
möchte eine dritte Generation nacheifern: Junge Leute um die zwanzig
wie etwa der Brite Richard Reid (der Mann mit dem Sprengsatz in der
Schuhsohle).
Der Nachwuchs sei, so der türkische
Islamismus-Experte Rusen Cakin, in "namenlosen Grüppchen"
organisiert, die durch ein religiöses Wahnsystem und durch die
Ideologie der Aufopferung zusammengehalten werden. Ihre Mitglieder
sind bereit, für ein verherrlichtes fernes Ziel zu sterben: Den Sieg
des Islam, die Wiedererrichtung des Kalifats und die erneute Einheit
aller Muslime. Die salafistische Bewegung bietet das Beispiel, wie
im verklärenden Bezug auf das Goldene Zeitalter des Islam das Rad
der Zeit angehalten werden soll.
Den Feind verdinglichen
Die Kriegerideologie bietet den
Vorteil, dass man einen verdinglichten Feind festlegen kann, der
ganz und gar böse ist und als Grund aller Übel und Bedrängnisse
gelten kann: die Amerikaner, die Israelis, die Franzosen (aus Sicht
der Nordafrikaner). Auf eine eigene Nationalität erheben diese
Kämpfer keinen Anspruch mehr, sie reklamieren vielmehr eine Art
globaler Identität: die Zugehörigkeit zur weltweiten Umma, der
Gemeinschaft der Gläubigen.
Die meisten der Attentäter stammen
aus multikulturellen oder entwurzelten Familien, manche haben sogar
mehrere Staatsangehörigkeiten. Neben die Moschee als Ort der
Zusammenkunft tritt für sie nun das Internetcafé. Die
Selbstmordkandidaten schaffen sich so ihre eigene symbolische
Weltkarte: Überall, wo sie sind und wo man "legitime" Anschläge
durchführen kann, ist in ihrer Vorstellung islamischer Boden.
Wir haben es hier mit einer
erstaunlichen Form von "Glokalisierung" zu tun. Die Solidarität
unter den Kämpfern hat lokale Wurzeln, oft stammen sie -
vergleichbar mit Jugendbanden - aus derselben Stadt oder sogar
demselben Viertel, kennen sich seit Jahren. Ihre Kontaktleute sind
dagegen weltweit unterwegs und sorgen dafür, dass zwischen den
einzelnen Gruppierungen keine Verbindungen aufkommen, ja, sie
verbauen mögliche Kontakte regelrecht. Die marokkanische
Islamistengruppe al-Sirat al-Mustaqim, ("Der rechte Weg"), der acht
der vierzehn Terroristen von Casablanca angehörten, war halb eine
Sekte und halb leine okale Gang aus dem Armenviertel Sidi Moumen -
ihr Imam (Richard Robert) dagegen kam aus Frankreich.
Zum Islam bekehrte oder islamisch
"wiedergeborene" Westler (17) können
sowohl zur Ausspähung künftiger Anschlagsziele eingesetzt werden -
wie Richard Reid in Israel - als auch falsche Dokumente beschaffen,
indem sie wie Zacarias Moussaoui einen Pass als verloren melden und
neu ausstellen lassen. Häufig reisen die Aktivisten nach Pakistan,
Afghanistan oder Kaschmir. Am Geld fehlt es nicht: Nach Angaben von
Scotland Yard verfügt das Netzwerk der 4 000 islamischen
Vereinigungen und ihrer 50 Banken jährlich über einen Etat von drei
Millionen Pfund aus den Almosen (zakat) der Muslime. Die Reisen und
das Internet tragen dazu bei, den Kampf zu internationalisieren.
Prägend für diese Milieus ist die
Bereitschaft, das eigene Leben hinzugeben. Ein Beispiel für die
mythischen Vorstellungen, durch die eine Selbstaufopferung selbst
für absurde Ziele sinnvoll erscheinen kann, waren die
Selbstverbrennungen von Mitgliedern der iranischen
Volksmudschaheddin (MKO), als ihre Vorsitzende Mariam Radschawi im
Juni 2003 vom französischen Inlandsgeheimdienst DST verhaftet wurde.
Solche Phänomene kennt man aus anderen Zusammenhängen.
Kollektivselbstmorde gab es unter den Gefangenen der PKK ebenso wie
bei verschiedenen Sekten, die den jüngsten Tag erwarteten und sich
von Feindschaft und Unverständnis bedroht sahen: Erinnert sei an den
Massenselbstmord der Templer unter Jim Jones in Guyana 1978 oder an
den der Davidianer unter David Koresh 1993 im texanischen Waco oder
an die Massenselbstmorde der Sonnentempler 1994 und 1995 in der
Schweiz und in Frankreich.
Für das Versprechen, ihr Los zu
bessern - ob auf Erden, nach dem Sieg der gerechten Sache, oder im
Jenseits - steht den Militanten ein Führer, ein Guru, ein Emir ein,
der als einzige Legitimationsquelle oft nur sein Charisma hat.
Richard Robert, der "Imam mit den blauen Augen", Planer der
Attentate von Casablanca (Marokko), stammt aus der Gegend von St.
Etiènne. Der Personenkult erzeugt eine quasireligiöse Verehrung der
Führungsperson, der man darum auch das Opfer des eigenen Lebens
schuldig ist: Das gilt für Mariam Radschawi ebenso wie für Ussama
Bin Laden, PKK-Führer Abdullah Öcalan oder Riduan Isamuddin alias
Hambali, den militärischen Chef der indonesischen Jamaa Islamija.
Oder für Vellupilai Prabha-ka-ran (18):
Der im Untergrund lebende LTTE-Führer lädt die Todeskandidaten als
Belohnung für ihren künftigen Einsatz zum Abendessen ein - manchmal
schenkt er ihnen auch sein Porträtfoto.
Ihre Anschlagsziele wählen die
Gruppen im globalen Rahmen: Die Vereinten Nationen, das Rote Kreuz,
das World Trade Center, Banken … Ihre Methoden werden immer
skrupelloser, so genannte Kollateralschäden werden billigend in Kauf
genommen - sogar der Angriff auf Muslime ist nicht länger tabu. Das
Vorgehen legitimiert sich aus der Verurteilung aller "Heuchler",
seien es die als "Halbjuden" denunzierten Schiiten oder die
"schwachen" Gläubigen, denen ein ausschweifendes Leben nach
westlichem Vorbild unterstellt wird. Bei den Anschlägen auf die
Wohnsiedlung Mohaja in Riad am 8. November 2003 kam kein einziger
Westler um, die Opfer stammten aus neunzehn Ländern, überwiegend aus
dem Nahen Osten. Und unter den neunzehn Opfern des Anschlags auf
eine Synagoge in Istanbul waren nur fünf türkische Juden. Wie der
Schweizer Journalist und Chefredakteur von Radio France
Internationale Richard Labevière zutreffend festgestellt hat, kann
das Al-Qaida-Netz, das Washington inzwischen überall am Werk sieht,
längst als "Feind mit Kultstatus" gelten.
Die Attentate in Istanbul
symbolisierten die Abkehr vom traditionellen politischen Islam:
Adnan Ersöz, Begründer der türkischen Hisbollah, ist ein "Afghane",
während Azad Ekinci, der die jungen Selbstmordattentäter im
Internetcafé von Bingol anwarb und ihnen ihre Instruktionen gab, zur
zweiten Generation, den "Bosniern" und "Tschetschenen", gehört.
Diese Selbstmordanschläge galten einem Land, das im Irakkrieg den
USA die Unterstützung verweigerte und wo eine aus dem politischen
Islam hervorgegangene Partei an der Regierung ist. Recep Erdogan,
türkischer Ministerpräsident und Vorsitzender der Partei für
Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), erklärte nach den Anschlägen:
"Dieser Angriff auf unsere jüdischen Mitbürger galt der gesamten
Türkei!" Tatsächlich markieren die Anschläge den Bruch zwischen
jenen "verfassungskonformen" politischen Islamisten, die seit den
1980er-Jahren auf den Erfolg bei Wahlen setzten, und den kleinen
versprengten Gruppen, aus deren Reihen nun die Attentäter der neuen
Generation kommen.
Natürlich bestehen Zusammenhänge
zwischen dem ersten und dem zweiten Typus des Selbstmordattentäters.
Die erste Generation lieferte der zweiten die symbolische Vorgabe:
den Mythos des islamischen Märtyrertums. Doch sie unterscheiden sich
in ihrem Vorgehen. Der Plan eines "weltweiten Kriegs gegen den
Terrorismus" ist genau die falsche Politik, weil er die
verschiedenen Gruppierungen und Handlungsweisen nicht auseinander
hält. Ob in Tschetschenien, Palästina oder anderswo - der
ethnisch-national und religiös grundierten Bereitschaft zum
Selbstmordanschlag wird man nur mit politischen Verhandlungen
begegnen können. Als Israel seine Truppen aus dem Libanon abzog, sah
sich die Hisbollah in ihrer (schon in den letzten Jahren der
Besatzung getroffenen) Entscheidung bestätigt, von der Praxis der
Selbstmordanschläge Abstand zu nehmen. Die Anschläge der Hisbollah
hatten im Übrigen ausschließlich militärischen Zielen gegolten.
In der Regel fordert das brutale
Vorgehen von Besatzungstruppen - ob indisch, russisch, srilankisch
oder israelisch - weit mehr Opfer als alle Attentate. Es legitimiert
zugleich den Terrorismus als die Waffe der Schwachen; und es dient
als Rechtfertigung, die Zivilbevölkerung nicht mehr als unschuldige
Opfer zu sehen: Sei es, weil Zivilisten selbst eine bewaffnete
Gruppe bilden (wie die israelischen Siedler), sei es, weil sie (wie
die russischen Einwohner Tschetscheniens) so tun, als wüssten sie
nichts von den Massakern an der autochthonen Bevölkerung. Außerdem
sorgen die Übergriffe der Besatzer für den nötigen Rückhalt der
Terroristen in der Bevölkerung und sichern den Nachschub an
Selbstmordkandidaten.
deutsch von Edgar Peinelt
Fußnoten:
(1) Libanon, Israel/Palästina, Argentinien,
Tschetschenien/Inguschetien/Ossetien und Russland, Kaschmir, Indien,
Sri Lanka, Tadschikistan, Indonesien, Saudi-Arabien, Syrien,
Marokko, Afghanistan, Vereinigte Staaten, Türkei, Irak (im
schiitischen Süden wie im "sunnitischen Dreieck" und im irakischen
Kurdistan), Jemen, Pakistan, Philippinen, Tunesien, Ägypten, Kenia,
Tansania, Kuwait, Kroatien, Spanien, Usbekistan. Zwei gescheiterte
Anschläge galten Singapur und Malaysia.
(2) Zu den genannten Staaten kommen unter diesem Aspekt noch
Großbritannien, Jordanien, Spanien, Frankreich, Deutschland,
Italien, Australien und die Schweiz (Angriff auf das Rote Kreuz in
Bagdad).
(3) Der erste Selbstmordanschlag galt 1981 der irakischen Botschaft
in Beirut - er wurde ausgeführt von der islamistischen Gruppe
al-Daua, die heute im irakischen Übergangsrat vertreten ist.
(4) Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE)
(5) Amélie Blom, "Les kamikazes du Cachemire: 'martyrs' dune cause
perdue", Critique internationale, Nr. 20, Juli 2003.
(6) "An alternative strategy for the war on terrorism", 11. Dezember
2002.
(7) 1948 flohen 750 000 bis 850 000 Palästinenser aus ihren
Wohngebieten. In der palästinensischen Geschichtsschreibung gilt
dieser Exodus als die "Katastrophe" (al-naqba).
(8) Siehe Ajad Sarraj, "Israel-Palestine, la déchirure des enfants
au front", Le Monde diplomatique, November 2000.
(9) Vortrag bei der 6. Biennale de arabischen Films, am Institut du
Monde arabe (Paris), 2002.
(10) Jacques Semelin, "Les rationalités de la violence extrême",
Critique internationale, Nr. 6, Juli 2000, S. 143.
(11) Zu Kaschmir siehe Amélie Blom, a. a. O. (Anm. 5), sowie
Penelope Larzillière, in: Diechkoff und Leveau (Hg.), "Israéliens et
palestiniens: la guerre en partage", Paris (Balland) 2003, S. 105.
(12) Amélie Blom, a. a. O. (Anm. 5).
(13) Siehe Barbara Victor, "Femmes kamikaze", Paris (Flammarion)
2003.
(14) Zit. n. Barbara Victor, s. o.
(15) Bruce Hoffman, "The Logic of Suicide Terrorism", The Atlantic
Monthly (Boston), Juni 2003.
(16) Luis Martinez, "Le cheminement singulier de la violence
islamiste en Algérie", Critique internationale, Nr. 20, Juli 2003.
(17) Olivier Roy, "LIslam mondialisé", Paris (Seuil) 2002.
(18) "Enigma Description, inside an elusive Mind: Prabhakaran",
Narayan Swamy (Neu-Delhi), September 2003.
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15-06-2004 |