Vor 10 Jahren begann die Hamas mit Selbstmordanschlägen:
Die effektivste Waffe der Palästinenser
Von Thorsten Schmitz
Am 16. April 1993 sprengte sich zum ersten Mal
ein palästinensischer Selbstmordattentäter der Hamas in die Luft –
da startete gerade der Friedensprozess von Oslo. Das Attentat im
Westjordanland zeigte, dass der 1987 gegründeten palästinensischen
Terrororganisation nicht an einem Ausgleich mit Israel gelegen ist,
sondern an der Vernichtung des jüdischen Staates. Der 22 Jahre alte
Attentäter Sahar Tamam Nabulsi hatte sein Auto mit Gaskanistern
beladen, auf dem Beifahrersitz lag der Koran. Mit hoher
Geschwindigkeit schoss Nabulsi auf zwei israelische Busse bei einem
Straßencafé zu. Nabulsi tötete sich und einen weiteren
Palästinenser, er verletzte acht Israelis.
Seitdem haben sich Palästinenser jedes Jahr in die
Luft gesprengt, mit Ausnahme von 1999, als Ehud Barak Premier wurde.
114 Hamas-Selbstmörder haben sich seit 1993 umgebracht, allein 73
seit Beginn der zweiten Intifada im September 2000. In den letzten
zehn Jahren wurden insgesamt 230 Selbstmordattentate in Israel, im
Gaza-Streifen und im Westjordanland verübt.
Sich in die Luft sprengen und andere mit in den
Tod reißen, sei die "effektivste Waffe" palästinensischer
Terroristen, die es mit einer der besten Armeen der Welt zu tun
haben, sagt Ariel Merari. Der Psychologe von der Tel Aviver
Universität, der in einer Langzeitstudie die Profile von 50
Selbstmordattentätern analysiert hat, listet die "Vorteile" von
Selbstmordattentaten auf: Der meist aus einem luftgetrockneten
Gemisch von Aceton, Phosphat und Wasser bestehende Sprengstoff sei
leicht und billig zu besorgen. Selbstmordattentate erforderten keine
komplizierten Rettungsaktionen. Sie garantierten fast immer ein hohe
Zahl von Toten, Verletzten und einen hohen Sachschaden, da der
Attentäter spontan über Zeit und Ort der Explosion entscheiden
könne. Zudem erzeugten die Attentate aufgrund ihrer
Unvorhersehbarkeit genau das, was die Hamas beabsichtige: ein Gefühl
von Hilflosigkeit und Angst in der israelischen Bevölkerung.
In der palästinensischen Bevölkerung stoßen
Selbstmordattentate auf breite Zustimmung. Einer palästinensischen
Studie zufolge begrüßen 78 Prozent der Palästinenser im
Gaza-Streifen die blutigen Anschläge, was auch an der Popularität
der Hamas in diesem Gebiet liegt. Sie unterhält dort ein dichtes
soziales Netz aus Armenküchen, Schulen und Pflegediensten. Zudem
zahlt Hamas den Hinterbliebenen eine lebenslange "Rente" in Höhe von
bis zu 600 US-Dollar. In weiten Kreisen werden Selbstmordattentate
als "Märtyrertum" verklärt, was auch Palästinenserpräsident Jassir
Arafat predigt. In Zeitungen finden sich Todesanzeigen, in denen die
Hinterbliebenen stolzerfüllt das "Märtyrertum" ihrer Söhne und
Töchter bekannt geben. Auf den Trauerfeiern gratulieren Verwandte
und Freunde und trinken dabei süßen Tee.
Seit dem ersten Selbstmordanschlag vor zehn Jahren
hat sich das Profil des klassischen Attentäters grundlegend
geändert. Bislang ging man in Israel davon aus, dass sich lediglich
unverheiratete, junge, arbeitslose und islamistische Männer dafür
entschieden. Die Studie des Psychologen Merari belegt jedoch, dass
nur noch 64 Prozent der 50 von ihm untersuchten Attentäter dem
klassischen Profil entsprechen. Inzwischen sprengen sich auch junge
Frauen in die Luft, die kurz vor dem Magister-Abschluss stehen,
verheiratete Familienväter, Minderjährige, Professorensöhne und
Kinder vermögender Restaurantbesitzer. Auch werden nicht alle einer
Gehirnwäsche durch Hamas- und Dschihad-Funktionären unterzogen, die
den Weg ins Paradies versprechen. Auch säkulare Gruppen wie die
Fatach-Organisation Arafats und die "Volksfront zur Befreiung
Palästinas" schicken inzwischen Selbstmörder mit Sprengstoffgürteln
auf blutige Mission. Taten sich die Terrorgruppen anfangs noch
schwer mit der Rekrutierung potenzieller Selbstmörder, sei es
inzwischen ein Leichtes, diese zu finden: "Wir müssen uns nicht mehr
wie früher groß anstrengen, Freiwillige zu finden", erklärte jüngst
Hamas-Sprecher Abdel Asis Rantisi, der am Dienstag einem Attentat
der israelischen Armee entging. Das durch die israelische Besatzung
erschwerte Leben macht potenzielle Selbstmörder empfänglich für den
Gedanken, auf Erden nichts mehr zu erwarten. Manche Männer glauben
an die Prophezeiung, im Paradies erwarteten sie 70 Jungfrauen,
weshalb sich alle männlichen Selbstmordattentäter vor Anschlägen
duschen, rasieren und parfümieren.
hagalil.com
13-06-03 |