Arabische Diskussionen um islamischen
Selbstmörderterror:
Selbstmord oder
Märtyrertum
Die Diskussionen um die Selbstmordanschläge
palästinensischer Organisationen in Israel und den palästinensischen
Autonomiegebieten nehmen weiterhin einen großen Raum in den arabischen
Medien ein. Insbesondere im Anschluß an Äußerungen des saudischen
Kronprinzen Abdallahs und des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak im
Mai 2002, die als Kritik der Anschläge auf Zivilisten gedeutet wurden,
finden sich immer häufiger Stimmen, die die Anschläge kritisieren.
Im Folgenden dokumentiert Memri drei Leserbriefe, die
in den letzten Wochen in der arabischensprachigen Tageszeitung al-Quds
al-Arabi zu diesem Thema erschienen sind. Unmittelbarer Anlaß des ersten
Leserbriefes war eine Kontroverse zwischen führenden geistlichen
Autoritäten um die Legitimation der Anschläge. Die Autoren, die sich in
ihrer Argumentation aufeinander beziehen, geben einen Ausschnitt der
gegenwärtigen Diskussionen wieder.
Am 30. April 2002 veröffentlichte die Zeitung al-Quds
al-Arabi einen Brief des in Kopenhagen wohnhaften Palästinensers Abd
Allah Muhammad Khalil al-Anbatawi:
"In der Ausgabe Nr. 4017 [der Tageszeitung al-Quds
al-Arabi] vom 17. April habe ich die Nachricht von der Wiederkehr des
Disputs um die Haltung des Islams zu Märtyrer-Operationen gelesen. Es
ging um einem Streit zwischen dem Scheich der al-Azhar Universität,
Scheich Muhammad Sayyid at-Tantawi, der diese Aktionen, die die
israelische Zivilbevölkerung zum Ziel haben und damit seiner Ansicht
nach dem Geiste des Islams widersprechen, ablehnt und Scheich Yusuf
al-Qaradawi, der bekräftigt, dass diese Operationen mit der Idee des
Djihads und der Selbstverteidigung übereinstimmen und zu den höchsten
Stufen des Märtyrertums gehören.
Als arabisch-muslimischer Palästinenser sehe ich es als
meine Pflicht an, meine bescheidene Meinung in dieser Angelegenheit zu
äußern und über ihre geschätzte Zeitung meine Sicht dieser Operationen
darzulegen, indem ich mich auf Gottes Buch und die Sunna, das Leben des
Propheten, beziehe. Vielleicht ist es am besten, dieses Thema mit Gottes
Worten aus seinem Buche zu beginnen: ‚...wenn einer jemanden tötet, (und
zwar) nicht (etwa zur Rache) für jemand (anders, der von diesem getötet
worden ist) oder (zur Strafe für) Unheil (das dieser) auf der Erde
(angerichtet hat), es so sein soll, als ob er die Menschen alle getötet
hätte. Und wenn einer jemanden (wörtlich ‚ihn') am Leben erhält
(wörtlich 'lebendig macht'), soll es so sein, als ob er die Menschen
alle am Leben erhalten hätte.' (Sure 5: 32) Auch wenn sich dieser Vers
an die Kinder Israels richtete, so gilt er auch für uns Muslime. So
erwähnt Ibn Kathir, der Damaszener, in seinem Koran-Kommentar einen
Hadith des Ibn al-Mubarak, nach dem Sulaiman Bin Ali al-Rab'i gefragt
habe: ‚Ich sagte dem Hasan: Oh Abu Said, ist dieser Vers für uns
bestimmt? Er sagte: Im Namen des einziges Gottes Ja, so, wie er für die
Kinder Israel bestimmt war. Denn alle Lebewesen im Universum sind Gottes
Geschöpfe, sie genießen seine Barmherzigkeit, daher haben sie das Recht
auf Würde und Erhaltung. Denn Gott sagt: Die sieben Himmel und die Erde
und (alle) ihre Bewohner preisen ihn. Es gibt (überhaupt) nichts, was
ihn nicht lobpreisen würde. (Sure 17: 44)'
Der Kampf gegen den Feind wird nicht nur gefordert,
sondern er ist eine Pflicht - aber mit Mitteln und Wegen, die dem Gesetz
nicht widersprechen. Gibt es denn keine andere Möglichkeit für die
Brüder in Palästina, auf die Aggression zu reagieren und den Feind
zurückzuschrecken, als sich selbst zu töten, was dem widerspricht, was
Gott verbot? Gott sagt: ‚Und spendet (für den Krieg) um Gottes willen!
Und stürzt Euch nicht ins Verderben!'. (Sure 2: 195) Der Prophet sagte:
‚Wer sich selbst tötet, der ist des Feuers (gehört zur Gemeinschaft des
Feuers) auch wenn er, an der Seite des Propheten und der Muslime den
härtesten Kampf kämpft.' (al-Bukhari) Sind die Möglichkeiten der Araber
und Muslime, ihre Brüder in Palästina zu unterstützen, bereits so weit
erschöpft, dass ihnen nur noch bleibt, Rechtsgutachten herausgeben,
welche die jungen Männer, Frauen und Kinder in den Tod schicken und die
Aussagen des Propheten ignorieren, die bekräftigen, dass ‚wer einen Ahl
al-Dhimma [d.h. einen Angehörigen der geschützten religiösen
Gemeinschaft der Juden oder Christen] tötet, der wird den Duft des
Paradieses nicht riechen'?
Die Söhne Palästinas haben bewiesen, dass sie Aktionen
durchführen können, die dem Feind schaden und Verluste in seinen Reihen
verursachen, ohne dabei selbst getötet zu werden. Geniessen diese etwa
einen geringeren Status vor Gott als jene, die wählten, sich und den
Feind zu töten? Worin liegt die Notwendigkeit, eine junge Frau oder
einen jungen Mann zu opfern, die im Besitz aller Fähigkeiten zum Djihad
und bereit sind, solange wie möglich ihre Tatkraft und ihren
Widerstandsgeist zu bewahren? Das Ende eines Widerstandskämpfers als
Märtyrer ist das Ende des Widerstands, den er unterstützte und den er
weiter hätte unterstützen können, wenn er noch leben würde.
Ist es den Milliarden Muslimen in der Welt nicht mehr
anders möglich, dem Leid, dass der muslimischen Sache in Palästina
zugefügt wurde, Ausdruck zu verleihen? Mit Methoden, die der Heiligkeit,
Ehrbarkeit und Rechtmäßigkeit der Sache mehr entsprechen, zumal
angesichts der zunehmenden Versuche des Feindes, sich diesen Methoden
anzupassen. Der Feind ist erfolgreich darin, die Potentiale und
organisatorischen Kräfte des Widerstands in einer Form zu treffen, die
den Schaden dieser [Selbstmord-] Operationen in den Reihen des Feindes
übertreffen. Hinzu kommt das negative Echo in der internationalen
öffentlichen Meinung. Diese Aktionen haben manchmal die sogenannte
Zivilbevölkerung zum Ziel, die für die Stärke des Feindes nicht
ausschlaggebend ist. Dagegen nimmt der Feind als Antwort darauf
unschuldige Zivilisten ins Visier und zerstört Häuser und begeht
barbarische Massaker wie zuletzt im Lager von Jenin. Er schlägt ohne
Gnade und ohne Nachsicht den Widerstand und ihre Führer, was sich
negativ auf die Fortführung des Widerstandes und dessen Effektivität
auswirkt.
Diese und andere Fragen lege ich über ihre ehrenwerte
Zeitung in die Hände unserer Wissenschaftler und hochgeschätzten
Scheichs, die das Märtyrertum als Reisepaß ins Paradies anpreisen. Zudem
lege ich diese Fragen in die Hände einiger unserer arabischen Führer,
die den erstickenden finanziellen Engpaß des palästinensischen Volkes
ausnutzen. Sie bringen die Besten der palästinensischen Jugend dazu,
Selbstmord zu begehen, indem sie finanzielle Unterstützung für die
Familien dieser jungen Frauen versprechen. Können diese Führer das Geld
nicht an die Lebenden zahlen, beispielsweise zur Unterstützung des
Widerstandes oder des Kaufes von Waffen? Oder fließen diese Gelder
nicht, wenn im Gegenzug kein palästinensisches Blut fließt? Zuletzt
stellt sich die sehr wichtige Frage, für die ich und - so denke ich -
auch niemand anderes eine Antwort hat: Warum haben wir noch keinen Sohn
und keine Tochter der Führer des Widerstandes oder der ehrenhaften
Scheichs gesehen, die den Akt den Selbstmordes, der ihnen den Himmel
sichert, ausführten? Gelten die Rechtsgutachten und Gesetze etwa nur für
die Allgemeinheit, nicht aber für besondere Personen? Oder ist es diesen
Führern und Scheichs nicht gelungen, ihre Kinder im Sinne der
Rechtsgutachten zu erziehen, die sie für die Muslime erlassen?"
Am 18/19. Mai 2002 erschien ein weiterer Leserbrief,
in dem ein ägyptische Student an der Universität Sorbonne, Frankreich,
auf den obigen Brief reagierte:
"In ihrer Ausgabe vom 30 April habe ich in unter den
Leserbriefen den Beitrag von Abd Allah al-Anbatawi gelesen. Er widmet
sich dem Thema der Selbstmordoperationen, die von jungen
palästinensischen Frauen und Männern begangen werden, und dem Streit, ob
diese Aktionen dem Geist des Islams widersprechen, oder ob sie ganz im
Gegenteil als höchste Stufe des Märtyrertums einzuordnen seien.
Ich habe nicht vor, das, was al-Anbatwai hinsichtlich
der koranischen Hinweise und der Aussagen des Propheten über das Verbot
des Selbstmordes und der Tötung von Zivilisten angeführt hat, zu
kommentieren. Vielmehr möchte ich mich dem Thema aus einer anderen
Perspektive widmen und der Frage nachgehen, ob diese Aktionen dazu
beigetragen haben, die palästinensische Sache voranzubringen und die
Besatzung mit ihrem feindlichen, barbarischen Treiben zu entlarven. Am
Rande [sei noch gesagt], dass es sich bei diesen Operationen und
Selbsttötungen - und damit meine ich den Tod desjenigen, der die
Operation durchführte - um ein den Arabern und Muslimen fremdes Phänomen
handelt. Es wäre gut, wenn diejenigen, die jeden Abend das
Satellitenfernsehen schmücken und die Jugend, die sich in die Luft
sprengt, loben und ermutigen und die Rechtsgutachten herausgeben, die
diese Operationen unterstützen - es wäre gut, wenn sie - und sei es nur
für einen Moment - sich selbst überprüfen und nach den Gewinnen und
Verlusten fragen würden. Sie würden feststellen, dass diese
Selbstmordoperationen dem palästinensischen Volk im Ergebnis nur Trümmer
und Zerstörung brachten. Die Selbstmordoperationen waren niemals Teil
einer offiziellen Strategie der palästinensischen Führung, der Fatah
oder gar der islamischen Bewegungen. Vielmehr waren sie das Ergebnis der
Ausbeutung des Elends und der Resignation, welche das palästinensische
Volk durchlebt, durch die [ihre] Führer. So brachten sie die jungen
Männer und Frauen in der Blüte ihres Lebens dazu, sich inmitten von
zionistischen Ansammlungen in die Luft zu sprengen.
Das Schmerzhafteste daran ist, dass diese Führer wissen,
dass diese Attentate keinen Feind besiegen, kein Land befreien und
keinen Angriff abwehren werden. Ganz im Gegenteil, sie liefern Scharon
die Rechtfertigung dafür, seine blutige Unterdrückungspolitik und
Belagerung zu verstärken, zu töten und zu vertreiben und Häuser zu
zerstören. Zudem beeinflussen diese Operationen die internationale
öffentliche Meinung zugunsten der Verbrecher und nicht zugunsten der
Opfer.
Die Führer und Scheichs sind eingeladen, diese Fragen,
die durch den Kopf eines jeden Arabers und eines jeden Muslimen gehen,
zu beantworten: Haben diese Attentate, von denen es seit Beginn der
Intifada über hundert gab, die Forderungen der Palästinenser
verwirklicht? Oder war es ihnen möglich, einen Teil - und sei es auch
nur ein kleiner - der palästinensischen Rechte einzufordern? Haben sie
dazu beigetragen, den Feind abzuwehren und den Angreifer aufzuhalten?
Die Antwort auf all diese Fragen ist: Nein!"
Ein vorläufig letzter Beitrag erschien am 04. Juni
2002. Autor des Briefes ist Nadjib al-Baqali, Marokko:
"In der Ausgabe vom 18/19. Mai 2002 fragte der
ägyptische Student an der Universität Sorbonne, Zakaria, nach dem Nutzen
der Aktionen, die von ihm als Selbstmordoperationen beschrieben wurden.
Wir werden diese Angelegenheit in der Logik, die der erwähnte Student
versteht, der Logik der Politik, von Gewinn und Verlust, vom
Gleichgewicht der Kräfte und der Logik, die danach fragt, welche Mittel
effektiver, taktischer und strategischer sind, um Palästina zu befreien
und den Feind auszubluten. Ist es die Entscheidung für Verhandlungen
oder für den Widerstand und das Märtyrertum?
Die palästinensischen Widerstandsbewegungen flüchteten
sich in die Märtyreroperationen, da sie das einzige Mittel sind
angesichts der zerrütteten arabischen Lage und der Regierungen, die als
Handlanger der USA in der Region auftreten. Die Märtyrer leben nicht,
wie die westlichen Medien verbreiten, in einer elenden und
hoffnungslosen Situation. Vielmehr haben die meisten von ihnen einen
hohen Bildungsstand, und ich glaube nicht, dass sie [die Medien] nicht
wußten, dass die Märtyrerin Wafa Idris diesen Sommer heiraten wollte,
aber dennoch dem Ruf des Märtyrertums folgten.
Was ebenfalls niemanden entgangen seinen dürfte, ist,
dass die reaktionären arabischen Regime in den letzten 50 Jahren des
arabisch-zionistischen Konfliktes nicht das erreichen konnten, was
insbesondere die Märtyrer-Operationen, aber auch die Intifada im
allgemeinen, in den vergangenen zehn Jahren verwirklicht hätten. Dies
wird deutlich mit dem Anstieg der Auswandererzahlen aus Israel, der
Zerstörung der Illusion von Sicherheit und der Verbreitung von Schrecken
inmitten des zionistischen Gebildes. Dem lassen sich die großen
Auswirkungen auf die Wirtschaft hinzufügen. Die allgemeine lokale
Produktion ist um 0,6% im Vergleich zum Jahre 2001 und das pro Kopf
Einkommen ist von 20000 auf 17000 Dollar gesunken. Demgegenüber sind die
Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit, um der Intifada zu begegnen,
gestiegen. Die Verluste der Tourismusbranche liegen bei 2,1 Milliarden
Dollar. Die Anzahl der Touristen ist von 1,7 Millionen auf 879000
Personen zurück gegangen. Es wird erwartet, dass dieser Rückgang
weitergehen wird. Die Industrieproduktion ist um 7% gesunken. Selbst
einige Analytiker schließen die Möglichkeit nicht aus, dass Israel in
die Situation Argentiniens kommen könnte, wenn es keine Unterstützung
durch das IWF bekommt.
Die meisten Intellektuellen unterstützen die bewaffneten
Aktionen, selbst wenn sie nur das Ziel haben, das Kräftegleichgewicht
zum Vorteil der Verhandelnden zu verändern, so wie es bei Burhan Ghaliun
[ein bekannter syrischer Soziologe] in seiner Kritik der Realpolitik
heißt. Die Bewegungen, die sich für den Widerstand entschieden haben,
verstehen etwas vom strategischen Gleichgewicht. Sie wissen, dass das
Kräfteverhältnis aufgrund der westlichen und amerikanischen
Unterstützung zugunsten des zionistischen Gebildes steht. Unter den
derzeitigen Bedingungen ist es unmöglich, in einen regulären Krieg mit
Israel zu treten. Vielmehr ermöglichen es die Märtyreroperationen, in
einen sogenannten Volksbefreiungskrieg zu treten, so wie ihn der
islamische Widerstand im Südlibanon betrieb. Dort zeigte sich, wie sich
der Feind gedemütigt und ohne Verhandlungen oder Feilschen und ohne die
einfachste Bedingung zurückzog. Sie [die Operationen] tragen zu einer
allgemeinen Ausblutung des Feindes bei, bis die Kosten der Besatzung
höher werden als der Nutzen, und er sich folglich zurückzieht."
THE MIDDLE EAST MEDIA RESEARCH INSTITUTE
(MEMRI)
eMail:
memri@memri.de,
URL:
www.memri.de
haGalil onLine 17-06-2002 |