Die Stimme der Straße:
Wer die PLO nicht wollte, wird jetzt Hamas bekommen
Analyse von Danny Rubinstein, Haaretz,
06.08.2002
Übersetzung Daniela Marcus
Die Führung der Hamas achtet viel mehr auf die Stimmung der
palästinensischen Straße als auf das, was Yassir Arafat sagt.
Das trifft sowohl auf die West Bank wie auf Gaza zu und wurde
durch die Ereignisse der letzten Tage bestätigt.
Vor einem Monat konnte man in den Territorien aufgrund der
täglichen, durch die Intifada auferlegten Schwierigkeiten ein
allgemeines Gefühl der Müdigkeit spüren, und viele sprachen
öffentlich über die Notwendigkeit, die Selbstmordanschläge in
Israel zu beenden. Die Hamas bemerkte dies und auf den Druck der
Straße hin reagierte die Organisation damit, Selbstmordanschläge
innerhalb der Grünen Linie zu unterlassen. Es gab auch Druck von
arabischen Ländern, angeführt von Ägypten, Jordanien und
Saudi-Arabien. Diese forderten die islamischen Zeloten auf, die
Selbstmordanschläge einzustellen, da sie versuchten, eine neue
diplomatische Initiative mit den USA auszuarbeiten.
Doch nach der Ermordung Salah Shehadehs, bei der auch 15
Zivilisten getötet und mehr als 100 verletzt wurden, änderte
sich alles. Bei Massendemonstrationen und auf dem Hintergrund
der Bilder arabischer Fernsehsender, die die Schrecken toter
Babies zeigten, erhob sich auf der Straße die Forderung nach
Rache und die Hamasführung reagierte.
Ismail Abu Shenab, einer der führenden Hamasaktivisten in Gaza,
mag in einem Zeitungsinterview gesagt haben, dass es nicht Rache
war, sondern nur die Fortführung des Kampfes gegen die
Besatzung. Doch andere Sprecher der islamischen Bewegung sagten
nach dem Anschlag auf den Bus an der Meron-Kreuzung, dass sie in
Reaktion auf Shehadehs Tod 100 Israelis töten wollen – und dass
sie die Fähigkeit dazu haben.
Hamas ist viel besser organisiert als die Tanzim-Aktivisten der
Fatah-verbundenen Al-Aqsa-Märtyrer-Brigade. Die wieder
aufgenommene israelische Kontrolle über palästinensische Städte
in der West Bank hat eine weitaus größere Wirkung auf Tanzim als
auf Hamas. Der Grund dafür ist, dass Tanzim eine zum großen Teil
offene Organisation ist, deren Mitglieder beinahe öffentlich
agieren. Der israelische Geheimdienst Shin Bet und die
israelische Armee können diese Leute viel einfacher finden als
die Hamasaktivisten, die der israelischen Invasion weitaus
besser gewachsen waren als ihre Fatah-Rivalen.
Hamas ist das Arbeiten im Untergrund und im Geheimen gewöhnt
und die Mitglieder sind darin trainiert, den israelischen
Sicherheitskräften aus dem Weg zu gehen. Während sich die
Tanzim-Zellen hauptsächlich als lokale Gangs von Punkern und
Schlägern erwiesen –die durch die israelische Invasion zerstreut
wurden- passte sich die Hamas der neuen Situation an. Alle
israelischen Operationen, auch diejenigen, die das Leben in den
palästinensischen Städten zum Stillstand brachten, stoppten die
neuste Runde von Selbstmordanschlägen nicht. Die Hamas
entschuldigte sich nur für einen Fehler – das Töten
amerikanischer Bürger beim Anschlag auf die Cafeteria der
Hebräischen Universität letzte Woche. Abdel Aziz Rantisi, einer
der Schlüsselfiguren der Bewegung in Gaza, sagte, die
Hamas-Aktionen "sind nicht dazu gedacht, Nicht-Israelis zu
töten".
Dies ist auch ein Zeichen für die Sensibilität der Hamas
bezüglich politischer Umstände und der Atmosphäre in den
Territorien, wo Rache an Israel und dessen Regierung gesucht
wird und nicht an anderen. Tatsächlich kommen die derzeitigen
politischen Umstände der Hamas sehr gelegen. Diese fühlt ihre
Kraft wachsen. So lange es keinen politischen Horizont gibt,
schwindet Arafats Führungsmacht und die seiner Leute, während
diejenigen, die bewaffneten Widerstand als eine Alternative zur
Diplomatie vorschlagen, das Gefühl haben, dass ihre Rolle
bedeutender wird.
Der palästinensische Minister Nabil Sha’ath, der über die
Details des Dialogs zwischen der PA und der Hamas sprach, sagte:
"Die Hamas denkt, sie muss reagieren und Rache an den Israelis
nehmen, während die Leute der PA denken, dass die Anschläge auf
Israelis Sharon eine gute Entschuldigung liefern, uns
anzugreifen."
Vor neun Jahren, zu Beginn des Sommers 1993, entschied der
damalige Premierminister Jitzchak Rabin, die Richtung zu ändern
und Arafat und die PLO anzuerkennen. Er tat dies nicht, weil er
plötzlich die freundlichen Gesichter von Arafat und dessen
Kollegen entdeckte. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass er es
deshalb tat, weil er Angst hatte, Israel würde sich der Hamas
gegenüber finden, wenn es nicht mit der PLO verhandeln würde.
Selbst nach dem Kollaps des Oslo-Prozesses bleibt das Dilemma
das gleiche: Hamas ist die stärkste und effektivste politische
Macht in der palästinensischen Öffentlichkeit. Gemäß einiger
Meinungsumfragen ist sie populärer als die PA.
hagalil.com
07-08-02 |