Schuldzuweisungen:
Der Tod einer Zehnjährigen
Von Ulrich W. Sahm
Gewiss ist nur: die zehn Jahre alte Nouran Iyad
Dib ist tot. Sie wurde am Kopf verletzt, sagen palästinensische
Ärzte in Rafah. Das Mädchen wurde "angeblich" auf dem Weg zur
UNO-Schule getroffen.
Etwa 3000 Palästinenser und 1000 Israelis starben während der
Intifada. Dennoch ist Nourans Tod keine Routine. Die Intifada ist
angeblich beendet. Dem "informellen Waffenstillstand" wird von
beiden Seiten gehuldigt, obgleich es an irritierenden Zwischenfällen
nicht mangelt. Solange die Israelis von einem "drastischen Rückgang
der Gewalttaten" reden und der funktionslose "starke Mann" Muhamad
Dahlan mit dem israelischen Verteidigungsminister Marathongespräche
führt, muss man zuversichtlich sein. Die Israelis wollen
palästinensische Städte räumen: Kalkilja, Tulkarem, Ramallah,
Jericho und Bethlehem. Die Palästinenser träumen von einer
Freilassung von 8000 Gefangenen. Ministerpräsident Ariel Scharon
wird wohl dem Palästinenserpräsidenten Muhammad Abbas die Zahl der
amnestierten Gefangenen als Morgengabe übergeben.
Dann kam der Tod von Nouran Iyad Dib. Die Hamas schoss Granaten auf
Neve Dekalim. Eine landete auf dem Dach eines Hauses. Der Putz der
Decke stürzte auf den Esstisch einer Familie beim Mittagessen.
Verletzt wurde niemand. Die Hamas redete von einer
"Vergeltungsaktion" für den Tod des Mädchens. Die Israelis
beschwerten sich. Bewaffnete palästinensische Polizisten sollten
doch solchen Beschuss verhindern.
Erste Informationen über den Tod des Mädchens veröffentlichte der
"Palestine Monitor". Der Titel enthielt eine Schuldzuweisung:
"Israel verletzte erneut den Waffenstillstand". Doch in der zweiten
Zeile heißt es vorsichtiger: "Die Kugel kam ANGEBLICH von einer
israelischen Militärstellung an der Grenze zu Ägypten." Adnan,
Gehilfe des Friedensaktivisten und Präsidentschaftskandidaten
Mustafa Bargoutti, der um die 20 Prozent der Stimmen gegen Mahmoud
Abbas gewann und den Informationsdienst betreibt, gestand: "Sie
haben durchaus recht, wenn Sie da einen Widerspruch entdecken..."
Der aufklärende Rückruf kam nie.
Ein paar Zeilen weiter wird der Sprecher des UN-Hilfswerks für
palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), Paul McCann, zitiert: "Dies
ist der fünfte Vorfall, in dem Kinder beim Unterricht in unserer
Schule durch israelischen Beschuss verletzt wurden." Eben war das
Mädchen noch auf dem Schulweg, inzwischen sitzt es schon im
Unterricht. Der neutrale UNO-Sprecher weiß genau, dass es eine
israelische Kugel war. Weiter heißt es: "Palästinensische Polizei
bezog Stellung zwischen der Schule und israelischen Posten. Die
Gegend war ruhig. Israelisches Feuer passierte die
palästinensisch-kontrollierten Gebiete ohne Provokation."
ap berichtete von einer "Belastungsprobe für den Waffenstillstand".
Das Kind wurde von einem "Panzer beschossen und am Kopf getroffen".
Nach palästinensischen Angaben war es aber nur eine Kugel.
Der israelische Militärsprecher behauptete, die Untersuchung sei
"nicht abgeschlossen. Kein israelischer Soldat habe geschossen.
Wenig später meldete der Militärsprecher, in der Gegend habe es zwei
Zwischenfälle gegeben, aber nicht dort, wo das Mädchen ums Leben
gekommen sei. Palästinenser hätten sich bis auf 50 oder 100 Meter
israelischen Stellungen in Sperrzonen genähert. Die Warnschüsse
hätten keinesfalls das Mädchen treffen können. Die verdächtigen
Palästinenser seien infolge der Warnschüsse verschwunden. Bei
Kontakten palästinensischer und israelischer Offiziere sei die Frage
der "Freudenschüsse" frommer Rückkehrer des Hadsch, der Pilgerfahrt
nach Mekka, aufgebracht worden. Die Palästinenser baten ihre
israelischen Partner, wegen dieser Schüsse nicht gleich zu schießen.
Kaum meldete der israelische Rundfunk diese Angabe, da bestätigten
palästinensische Sprecher, dass es in Rafah nahe der Schule ein Fest
mit ortsüblichen Freudenschüssen gegeben habe. Das Mädchen könnte
dieser wilden Schießerei zum Opfer gefallen sein.
Gleichwohl bot Militärsprecher an, den Zwischenfall vom Tod der
Zehnjährigen mit den Palästinensern "gemeinsam aufzuklären".
Die Recherche zu dem Zwischenfall mit einem unschuldigen Opfer
lehrt, dass Wahrheit relativ ist und für politische Bedürfnisse der
UNO, der Hamas, der Israelis und der Autonomiebehörde zurechtgebogen
wird. Ob der letzte Stand der Wahrheit entspricht, lässt sich nicht
überprüfen. Israel und die Autonomiebehörde haben kein Interesse an
einer Eskalation. Sie wollen der Hamas keinen Vorwand liefern,
Angriffe auf Israel zu erneuern. So bleiben die Wahrheit und ein
unschuldiges Menschenleben auf der Strecke. Für den Tod der
zehnjährigen Nouran Iyad Dib wird niemand die Verantwortung
übernehmen oder zur Rechenschaft gezogen.
hagalil.com
01-02-2005 |