"Wir machen
weiter!"
Heute ist der 02.
Dezember. Für mich beginnt ein ganz normaler Arbeitstag. Ich fahre mit
dem Fahrrad zur Schule, in der ich als Freiwilliger arbeite. Dort
angekommen erfahre ich, dass in der letzten Nacht ein Anschlag in
Jerusalem stattgefunden hat. Der zweite große Anschlag in dieser Woche.
Immer die gleichen Fragen: Wie viele Tote, wie viele Verletzte, fast
schon ein automatisches Programm. Die Situation scheint sich wieder
etwas zu beruhigen, es bahnen sich Gespräche an ... ein Anschlag und
schon wurde ein Schritt nach vorne wieder zu zwei Schritten rückwärts.
"...wir machen weiter."
Gegen 12.00 Uhr telefoniert ein Mädchen im Gang und teilt mir mit, es
habe noch einen Anschlag in Haifa gegeben. "Zahlen seien noch nicht
bekannt. Bald spricht sich die Neuigkeit unter den ArbeitskollegInnen
herum. Alle sind hektisch. Handys werden eingeschaltet - ist den
Verwandten aus Haifa etwas passiert? - Jeder kennt irgendjemanden, der
betroffen sein könnte. Das ganze Land, ein Ghetto, in dem jeder jeden
kennt. Eine Kollegin ärgert
sich, dass sie kein Radio im Zimmer habe. Eine andere wird sarkastisch
und fragt sie, ob sie den Anschlag life übers Radio miterleben wolle.
Sarkasmus ist für uns alle ein Weg, um in diesen Tagen nicht verrückt zu
werden, die Waffe der Passiven und der subjektiven Beobachter, zu denen
ich mich zähle. Diese
Momente sind die Einzigen, in denen Israelis über Politik diskutieren,
oder besser: Das sind Momente, in denen Israelis in politischen Dingen
einer Meinung sind. Eine
Arbeitskollegin ist der Meinung, in solchen Momenten sollte man die
Arbeit liegen lassen und nach Hause zurückkehren. Ihre Kollegin meint,
würden sie sich so verhalten, würden die Attentäter erreichen, was sie
wollen. Im selben Moment ist sie bemüht, einem Kind, dem sie sich
zuwendet, ein falsch-fröhliches Lächeln entgegenzubringen, um ihm ihre
Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.
"...wir machen weiter."
Ich fahre nach Hause - zum Glück mit dem Fahrrad - denke ich mir. Vorbei
an den nachmittäglichen Staus, vorbei an den Menschen, die einkaufen,
zur Arbeit gehen, im Cafe sitzen. Ob es noch stimmt, dass in Israel mehr
Menschen durch Verkehrsunfälle umkommen als in Terroranschlägen - frage
ich mich. Zu Hause schalte
ich sofort den Fernseher ein. Inzwischen ist die Zahl der Toten allein
in Haifa auf 15 gestiegen. Inzwischen gab es auch weitere "kleinere"
Anschläge. Über den Bildschirm flimmern Bilder von ausgebombten
Autobussen und weinenden Angehörigen. Mehrere Passbilder von Todesopfern
werden eingeblendet, damit das ganze Land mittrauern kann. Jeder, der
die Opfer auch nur im Entferntesten kannte, äußert sich in den
Nachrichten, welch gute Menschen sie doch waren. Ein Schulfreund eines
toten 15-Jaehrigen sagt mit mechanischem Ton: "Wir können nichts dagegen
(gegen die Situation) tun - wir machen weiter."
Jetzt ist es 23.00 Uhr. In den letzten zwoelf Stunden haben sich in
diesem Lande mindestens drei Anschläge ereignet.
...
Es liegt in unseren Händen...
Die Azrieli-Towers erstrahlen schon seit Wochen in blau-weißen
Lichtfontänen, als seien sie Zielscheiben für vorbeifliegende Flugzeuge.
In riesigen animierten Leuchtbuchstaben steht geschrieben "Das gehört
uns". "...wir machen weiter."
ig / haGalil onLine
03-12-2001 |