Matthias Küntzel
Entscheidend ist die Tat selbst. Hunderte in den
eigenen Selbstmord hineinzureißen, damit Tausende an ihren
Arbeitsplätzen verbrennen – das ist beispiellos. Erneut wurde die
Unzulänglichkeit unserer an Vernunftkriterien orientierten
Vorstellungskraft deutlich. Vielleicht erklärt dies die Eilfertigkeit,
mit der das Verbrechen als »Antwort auf die Aufteilung der Welt in Arm
und Reich« rationalisiert wurde, anstatt es aus der Perspektive jener
wahnhaften Vorstellungsstruktur zu interpretieren, die im Vorgehen der
Täter ihren Ausdruck fand.
Nicht zufällig hatte schon für Hitler das Symbol des
Infernos über Manhatten einen besonderen Reiz. »Nie habe ich ihn so
außer sich gesehen wie gegen Ende des Krieges, als er wie in einem
Delirium sich und uns den Untergang New Yorks in Flammenstürmen
ausmalte«, erinnerte sich Albert Speer. »Er beschrieb, wie sich die
Wolkenkratzer in riesige, brennende Fackeln verwandelten, wie sie
durcheinanderstürzten, wie der Widerschein der berstenden Stadt am
dunklen Himmel stand.« Hitler geriet bei dieser Vorstellung in Ekstase,
weil »Wall Street« für ihn die Chiffre für jüdische Weltherrschaft war,
»sozusagen das Generalstabsgebäude Judas. Von hier aus gehen die Fäden
Judas über die ganze Welt«, wie eine Programmschrift des deutschen
Antisemitismus schon 1919 halluzinierte.
Der arabische Antisemitismus, der mit dem deutschen nicht
identisch ist, weist gleichwohl ähnliche Züge auf. Seine ideologische
Quelle sind die ägyptischen Muslimbrüder, die im Kontext der
Weltwirtschaftskrise von 1929 gegen »Kreuzfahrer und Juden«
mobilisierten und so die erste islamistische Massenbewegung initiierten.
Von Anbeginn an verherrlichte diese Bewegung – nicht zuletzt unter dem
Einfluß des europäischen Faschismus – »Kampf« (Djihad), »Tod und
Märtyrertum« sowie, so ihr Gründer Hasan al-Banna, die »Kunst des
Sterbens«.
Wichtigster Autor der Muslimbrüder ist Sayid Qutb, dessen
antisemitische Pamphlete den militanten Islamisten derzeit vertrauter
sind als der Koran selbst. »Wir dürfen nicht vergessen«, schrieb Qutb
1964 in seinem Hauptwerk Soziale Gerechtigkeit im Islam, »daß
Kommunismus und Freimaurerei jüdische Institutionen sind und daß die
erste Säule des jüdischen Plans zur Zerstörung der Welt ... darin
besteht, die Religion ... von der Welt zu entfernen.« Die »fortwährende
Rolle der Juden« sei ihre »Verschwörung gegen den Islam« durch
»Vereinigung der antiislamischen Kräfte sowohl in der kreuzfahrerischen
imperialistischen Welt wie auch in der materialistischen kommunistischen
Welt« (zitiert nach W. E. Shepard:
Sayyid Qutb and Islamic Activism, Leiden 1996). In der Logik der
Djihadisten beseitigte ihr Sieg in Afghanistan den Kommunismus, weshalb
sie jetzt die Zeit für gekommen halten, den anderen Feind des Islam zu
zerschlagen, die »jüdisch infizierte« Weltordnung des Westens.
1995 gründeten Bin Laden und der ehemalige ägyptische
Muslimbruder Ayman an-Zawahiri als militantesten Flügel des arabischen
Antisemitismus die »Islamische Front für den Djihad gegen die Juden und
die Kreuzfahrer«. Mohammed Atta, der als »Kopf« der Attentäter vom
11.September gilt, soll Mitglied in der von Zawahiri geführten
Organisation Ägyptischer Islamischer Djihad gewesen sein.
Die Aneignung von Wissenschaft und fortgeschrittenster
Technologie, wie etwa die der Kernspaltung, gelten den Djihadisten als
Voraussetzung für militärische Überlegenheit und als Grundlage zur
Befreiung der Welt. Doch nicht nur in diesem Punkt ist ihre Revolte
modern. Wie Hitler einst »einen neuen Sozialstaat von höchster Kultur«
angekündigt hatte, so will die »antikapitalistische« Rebellion der
Djihadisten die »umfassende Weltsicht des Islam« durch eine von Zins und
Gewinnsucht »gereinigte« Ökonomie verwirklichen. Schon in den dreißiger
Jahren gründeten deshalb die Muslimbrüder »befreite« Industriebetriebe.
In den Neunzigern machte auch Osama Bin Laden den Versuch, »mit
Musterbetrieben die wirtschaftliche Einigung der umma, der
islamischen Welt also, anzustoßen« (»FAZ«, 29.9.01). Dem freilich stehen
die Feinde im Weg: So hatte der Selbstmordattentäter Mohammed Atta in
seiner Harburger Diplomarbeit »anonyme Mächte« für die »Zerstörung von
menschlicher Lebensqualität« verantwortlich gemacht. Niemals ist solch
»verkürzter« Antikapitalismus der Herrschaft des Geldes gefährlich
geworden. Stets aber war seinem Programm ein Identitätswahn
eingeschrieben, der auf Beseitigung der »anonymen Mächte«, der »Juden«
und der »Kommunisten«, sinnt.
Die Täter des 11. September hatten die Wahl, und die Tat
zeugt vom Motiv. Ihr eliminatorischer Haß gegen das »jüdische« New York,
dem Tausende zum Opfer fielen, ist weder »verrückt«, noch »religiös
versponnen« oder »rückwärtsgewandt«, sondern das Antriebsmoment ihrer
regressiven Revolution: Der Anschlag auf das World Trade Center war die
bisher monströseste Offenbarung eines erneut auf Vernichtung zielenden
Antisemitismus. Wer darin einen beliebigen »Terror« und eine interne
Angelegenheit der USA sieht, hat nicht verstanden, worum es geht. Die
brennenden Türme sind das Fanal einer antisemitischen Revolution, die
ihre Energie aus einer Mischung diesseitiger Wahnvorstellungen und
jenseitiger Heilserwartungen bezieht. Da dieser Fall in den Kampagnen
von Antiimperialisten und Friedensfreunden nicht vorgesehen war,
verbietet sich das »weiter, wie bisher«. Statt dessen ist der eigene
Standort in einer neuen weltweiten Konfrontation zu bestimmen, die die
Urheber des Anschlags zwingend auf die Tagesordnung gesetzt haben.
Dieser Kampf findet unter paradoxen Voraussetzungen statt:
Erstens kann er nur im Rahmen jener kapitalistischen Verfaßtheit geführt
werden, welche das Potential zur absoluten Barbarei stets neu aus sich
heraus erzeugt. Zweitens sind seine Voraussetzungen nicht überall, wo
das Wertgesetz herrscht, a priori gleich. Während dem Identitätswahn der
Attentäter die britische und US-amerikanische Vorstellung vom Individuum
als politischem Subjekt eher konträr gegenübersteht, ist deren Weltbild
mit der völkischen, die »kulturelle Identität« betonenden Doktrin der
Deutschen durchaus verwandt. Schon »Zivilisation« ist bei Gerhard
Schröder stets rassistisch konnotiert (um sich von den weniger
»zivilisierten« Russen, Serben oder Yankees abzugrenzen), während Tony
Blair damit »zivilisierte Verhaltensweisen« jenseits von Abstammung oder
Geographie zu fassen sucht. Im Kampf gegen die Djihadisten gewinnen
solche Unterschiede an Bedeutung und beeinflussen Politik: Die jetzt
besonders enge Kooperation zwischen Washington und London hat vermutlich
auch hierin ihren Grund.
In dieser Auseinandersetzung verändert sich drittens das
Paradigma der antikapitalistischen Kritik: Selbstverständlich müssen die
amerikanische und die britische Politik weiterhin kritisiert werden.
Jedoch nicht deshalb, weil sie die Djihadisten verfolgt, sondern weil
sie diese nicht zielgenau und konsequent genug verfolgt.*
In Washington kann von einer Klärung des Charakters der
Anschläge keine Rede sein: Das Wort vom »Terrorismus« verdunkelt, worum
es eigentlich geht. Das kleinlaut nachgeschobene Eingeständnis, diesen
nur dann bekämpfen zu wollen, »wenn er die Vereinigten Staaten bedroht«
(»International Herald Tribune«, 24.9.01), macht den instrumentellen
Charakter der Bush-Kampagne offenbar und erklärt, weshalb beispielsweise
Albanien oder die mit Bin Laden kooperierende UCK auf der Liste der
Terrorsymphatisanten fehlen, während ausgerechnet Israel vom weltweiten
Anti-Terror-Bündnis der USA demonstrativ ausgeschlossen bleibt und ein
aktiver Förderer des Djihadismus wie Saudi-Arabien als bevorzugter
Verbündeter hofiert wird.
Immerhin haben Washington und London damit begonnen, die
antisemitischen Netzwerke Bin Ladens zu zerstören, was von der Berliner
Politik, die besonders deshalb zu kritisieren ist, kaum behauptet werden
kann.
Während die nationalistische deutsche Linke die
Bundesregierung wegen ihres angeblich vorauseilenden Gehorsams gegenüber
Washington kritisiert, ist die entgegengesetzte Entwicklung längst im
Gang. Beim Kampf gegen den Terrorismus machen wir mit, ruft Gerhard
Schröder laut. Aber nur, weil wir leider müssen, fügt vor dem Bundestag
leise Rudolf Scharping hinzu, da sonst »das Risiko des Sonderwegs«
besteht.
Von einer transatlantischen »Kampffront gegen den
Terrorismus« kann jenseits der rhetorischen Blüten also keine Rede sein.
»Die Sprengwirkung der Attentate (reicht) bis in das Innerste der
Allianz«, warnte am 13. September Berthold Kohler, Mitherausgeber der
»FAZ«. Schon heute ist die Nato in ihrer bisherigen Form kaum mehr als
ein Relikt. Daß man im Kampf gegen die Djihadisten sich einzig auf die
Briten verlassen und auf Deutsche wie auch Franzosen pfeifen könne,
wurde von amerikanischen Regierungsbeamten auch öffentlich erklärt. Die
neue Kriegführung, so US-Verteidigungsminister Rumsfeld, werde ganz neue
Koalitionen von Ländern hervorbringen, die sich verändern und jeweils
neu zusammensetzen können.
In dieser durch Auflösung und Neuformierung
gekennzeichneten Gemengelage scheint Deutschland eine Doppelstrategie zu
verfolgen. Während man einerseits den Eindruck eines Abschieds von der
internationalen »Anti-Terrorismus-Front« peinlich zu vermeiden sucht,
wird gleichzeitig gegenüber den USA eine eigenständige Großmachtpolitik
verfolgt. Die Mitteilung der Bundesregierung vom 2. Oktober 2001, sich
erstmals vier bis fünf eigene, das heißt von der Nato unabhängige,
militärische Aufklärungssatelliten zu beschaffen, ist hierfür nicht das
einzige Indiz. In ungewöhnlicher Offenheit gewährte Lothar Rühl, ein
ehemaliger Staatssekretär im Bundeskriegsministerium, nur wenige Tage
nach dem Anschlag in New York einen Blick auf bevorstehende Szenarien,
in welchen es keine Bündnisse, sondern nur noch »Großstaaten«, also
Großmächte, zu geben scheint.
»In den akuten Krisen zum Jahrhundertbeginn« erweise sich
der Einfluß der USA »als umstritten, unsicher und begrenzt«, behauptet
Rühl. »Mittelasien ist wie der Mittlere Osten Objekt der
strategisch-ökonomischen Konkurrenz und damit ein aufgeladenes
Spannungsfeld zwischen den Großstaaten und deren Klienten.« Die
europäisch-deutsche Position werde »in dieser Weltkrise kritisch ... für
die Neubestimmung der Machtverhältnisse sein« (»FAZ«, 17.9.01).
Neuformierung der Machtverhältnisse, strategische
Konkurrenz: Dies ist das Terrain der islamismusfreundlichen deutschen
Politik und der Hintergrund der Bundestagserklärung von Rudolf Scharping
vom 26. September, eine militärische Antwort der USA auf das Massaker
nur dann unterstützen zu wollen, wenn »der Dialog zwischen Kulturen und
Religionen, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bewahrung
von Lebensgrundlagen, Förderung von Rechtsstaatlichkeit durch die Art
der Reaktion nicht diskreditiert und in Zweifel gezogen werden können« –
also eigentlich nie!
Neuformierung der Machtverhältnisse, strategische
Konkurrenz: Dies ist heute auch das Terrain der Friedensbewegung und
ihrer antiamerikanischen Freunde, die nolens volens bei der
Neuformierung Deutschlands gegen den US-amerikanischen Rivalen ein
Aktivposten sind. »America’s New War« betitelte beispielhaft und
bedrohlich die Wochenzeitung »Freitag« ihre fortlaufende Rubrik, um an
dreierlei Postulaten von vornherein keinen Zweifel aufkommen zu lassen.
Erstens: Nicht die Djihadisten, sondern die USA hätten den Krieg
erklärt. Zweitens: Falls die USA auf den Djihadismus militärisch
reagierten, sei dies nur ein neuer imperialistischer Krieg, wie einst
gegen Nicaragua oder Vietnam. Drittens: Der Kampf gegen den Djihadismus
sei einzig und allein Sache der USA.
Die ersten beiden Punkte halten der Analyse nicht stand,
während die dritte Position im Land der Mörder, das den eliminatorischen
Antisemitismus bis zur letzten Kriegsminute praktizierte, auch den
moralischen Bankrott markiert: Anstatt gegen massenmörderische
Antisemiten zu mobilisieren, was hierzulande tatsächlich einmal etwas
Neues wäre, wird in Sachen Feindmarkierung mit ihnen der Schulterschluß
praktiziert.
Der neue Haß, der den USA nicht zufällig im Moment der
Schwäche und größter menschlicher Verluste entgegenschlägt, ist mehr als
nur der Nachvollzug eines heimlichen Regierungsprogramms. Er verweist
zugleich auf jene wahnhafte Vorstellungsstruktur, die im Vorgehen der
islamistischen Attentäter ihren Ausdruck fand: verkürzter
Antikapitalismus plus antisemitische Rebellion.