So, wie Israels Außenminister Shimon Peres sie kurz nach
dem Attentat auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in
Washington sah, war die Welt bisher: In den USA, philosophierte der Mann
mit der längsten politischen Karriere im jüdischen Staat, gebe es schon
lange eine klare Trennung zwischen Rauchern und Nichtrauchern. Wer sich
selbst und seine Mitbürger mit Nikotin vergifte, müsse in den
Rauchersektionen Platz nehmen. Also an den Katzentischen der Cafés und
Restaurants, in den dunklen Ecken zwischen den Schwingtüren zur Küche
und dem Durchgang zu den Toiletten. Und so würde sich nun die Welt
teilen: Zwischen den »guten« Nichtrauchern, den Staaten, die an der
Seite der USA einen Kampf gegen den Terrorismus führen, den Mächten des
Lichts. Und den »bösen« Rauchern.
»Schurkenstaaten« wie Afghanistan unter dem
Taliban-Regime, Syrien, Iran oder Irak, die Außenpolitk betrieben, indem
sie islamisch-fundamentalistische Organisation wie Osama Bin Ladens
Al-Qaida, die shiitische Hisbollah oder deren sunnitische Brüder von der
palästinensischen Hamas unterstützten. Den Mächten der Finsternis.
PLO-Chef Yassir Arafat, spekulierte Peres, würde gewiß nicht mehr im
Verein der Bösen spielen wollen, endlich seine Intifada-Warlords
zurückpfeifen und an den Verhandlungstisch zurückkehren. Peres’
radikaler Chef Ariel Sharon hegte noch ganz andere Hoffnungen. Jetzt
würde die westliche Welt vielleicht endlich begreifen, daß auch der
PLO-Chef in die Liga der Terroristen gehört, denen man den Kampf ansagen
dürfe. Sharon hatte leider den wesentlichen Unterschied zwischen Bin
Laden und Arafat übersehen. Bin Laden will das Weiße Haus bombardieren.
Arafat möchte es besuchen.
Es dauerte keine zwei Wochen, da saßen die Jungs mit den
dicken Zigarren an den noblen Nichtrauchertischen. Yassir Arafat
spendete publicitywirksam Blut. Seine Medien wurden angewiesen, nur noch
»Blümchen- und Kerzchenbilder« zu zeigen: keine über den Terroranschlag
jubilierenden Palästinenser mehr. Sondern nur noch mitfühlende Kinder,
die bewaffnet mit »Wir hassen Terror«-Schildern vor dem US-Konsulat im
arabischen Ost-Jerusalem Kerzen anzünden und Blumen niederlegen. Syrien,
der Iran und der Sudan wurden umschwärmt von Delegationen westlicher
Diplomaten wie in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr. Der neue
»Schurke« war dabei schnell ausgemacht. Israels Premier Sharon sei ein
»Krebsgeschwür im Nahen Osten«, zitierte die britische Zeitung
»Guardian« einen Diplomaten des Foreign Office. Die Bemerkung wurde
geschwind dementiert. Englands Außenminister Jack Straw drückte es bei
seinem Besuch in Irans Hauptstadt Teheran diplomatischer aus. »Ich
verstehe, daß einer der Gründe, die zum Wachsen des Terrors beitragen,
die Wut vieler Menschen dieser Region über die Ereignisse in Palästina
in den letzten Jahren ist.«
Wohlgemerkt: Die Gründe für das Wachsen des Terrors liegen
demzufolge nicht unter anderem darin, daß eine korrupte Herrschaftselite
in Teheran die Gelder der schwerreichen sogenannten
»Wohlfahrtsorganisationen« nicht zur Lösung wirtschaftlicher und
sozialer Probleme wie Arbeitslosigkeit und Armut ausgibt, sondern zur
Unterstützung fundamentalistischer Gruppierungen wie Hamas, die den
Befreiungskampf mittels Bomben auf israelische Zivilisten führen. Oder
daß Syrien die Hisbollah in einem Freiheitskampf unterstützt, dafür
aber, ganz im Sinne des Freiheitsgedankens, unliebsame Regimegegner
reihenweise in den Knästen verschwinden läßt. Und welche »Ereignisse der
letzten Jahre in Palästina« mag Straw wohl meinen? Die israelische
Politik der eisernen Hand, die brutalen Vergeltungsschläge des
israelischen Militärs auch gegen palästinensische Zivilisten, die in der
Tat für reichlich berechtigte Wut sorgen? Oder auch die »Ereignisse« von
Camp David und Taba, wo ein Verhandlungsangebot auf dem Tisch lag, nach
dem sich die Israelis aus weit über 90 Prozent der besetzten Gebiete
zurückgezogen, die Souveränität über Jerusalem geteilt und den
allergrößten Teil der jüdischen Siedlungen geräumt hätten? Und die
Tatsache, daß PLO-Chef Yassir Arafat ablehnte und mit einer Intifada
antwortete, die, nach neuesten Veröfffentlichungen in PLO-nahen
Zeitungen, tatsächlich vom Palästinenserpräsidenten angeordnet worden
war?
Wozu brauchen die USA die »Schurkenstaaten« in der
»Anti-Terror-Koalition«? Vielleicht um westliche Geheimdienste zur
Abwechslung mal nicht mit den Aktivitäten der Syrer und Iraner zu
beschäftigen, sondern jenen Regierungen, die noch vor kurzem als
»Sponsoren des Terrors« galten, Informationen über das Netzwerk von
Osama Bin Ladens Organisation Al-Qaida zu entlocken. Eher allerdings
braucht man die neuen Mitstreiter, um eine Anti-Terror-Koalition nicht
so übel nach einem Kampf »Westen versus islamische Welt« aussehen zu
lassen.
Wozu aber brauchen die »Schurkenstaaten« die Mitarbeit in
der »Anti-Terror-Koalition«? Um dem Westen, mit den USA an der Spitze,
endlich einmal den Unterschied zwischen »Terror« und »Widerstandskampf«
sowie zwischen »Besatzung« und »Nachbarschaftshilfe« beizubringen.
Israel nämlich besetzt palästinensisches Gebiet in West Bank, Gaza und
Ost-Jerusalem. Syrien dagegen, das das Nachbarland Libanon mit Hilfe von
mindestens dreißigtausend Soldaten und einem Spitzelnetz fest im Griff
hat, unterhält ein karitatives Unternehmen zur Stabilisierung der
Region. Die Hisbollah, die shiitische, im Libanon operierende und vom
Iran wie Syrien unterstützte Truppe, übt natürlich keinen Terror aus.
Sie führt einen Widerstandskampf gegen den israelischen Besatzer in der
sogenannten Sicherheitszone des Süd-Libanon. Mit einem einzigen Ziel:
Die Erfüllung der UN-Resolution 425, die Israel zum Rückzug auffordert.
Man nimmt Resolutionen des UN-Sicherheitsrats nämlich sehr ernst im
Nahen Osten. Dann jedenfalls, wenn eigene Interessen nicht tangiert
werden.
Nachdem Israel sich im Juni letzten Jahres tatsächlich
endlich aus der Sicherheitszone zurückgezogen und die Vereinten Nationen
den Rückzug als »komplett« absegnet hatten, riefen die Kämpfer der
Hisbollah: »Gilt nicht«. Ein paar Quadratmeter müssen immer noch
»befreit« werden, schon allein damit die Hisbollah nicht ihren raison
d’être verliert: die »Sheba-Farms« etwa, die laut UN zu Syrien gehören
und deren Rückgabe deshalb mit Damaskus verhandelt werden müßte. Da
Syriens Staatschef Bashir al Assad, ganz in der Tradition seines
diktatorischen Vaters, sich weigert, mit Israel auch nur zu sprechen,
führt die Hisbollah eben den Kampf weiter. Nur sind ein paar
Guerillaaktionen auf so kleinem Territorium nicht sonderlich
befriedigend. Deshalb leistet die Hisbollah jetzt den palästinensischen
Brüdern von der Hamas personelle, logistische und finanzielle
Schützenhilfe im Kampf gegen den israelischen Besatzer. Wobei man mit
Vorliebe immer dann aktiv wird, wenn Yassir Arafat gerade mal wieder
einen »Waffenstillstand« ausgerufen hat.
Déja-vu. Genau wie im Golfkrieg vor zehn Jahren, als Bush
senior eine große Koalition gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein
zusammenschmiedete, sitzt Israel in der Anti-Terror-Koalition von Bush
junior nicht mal auf der Reservebank, sondern im hintersten
Umkleideraum. Auf dem Spielfeld flüstern die alten und neuen Mitstreiter
dem US-Schiedsrichter die neue Regel zu: Ohne den
israelisch-palästinensischen Konflikt gäbe es auch keinen
islamisch-fundamentalistischen Terrorismus. Die Attacke auf das World
Trade Center sei hauptsächlich Ausdruck der »andauernden Erniedrigung«
der muslimischen Welt durch die Besetzung arabischen Landes und die
ewige Unterstützung der Amerikaner für Israel. Würden sich Israel und
die Palästinenser endlich einigen, wäre ein Hauptschritt im Kampf gegen
den Terror getan. Macht ja nichts, daß zu denen, die plötzlich einen
endgültigen Frieden zwischen Arafat und Israel als Lösung allen Übels
empfehlen, nicht nur die Vertreter der Europäischen Union oder Ägypten
und Jordanien gehören – von denen letztere wenigstens einen Vertrag mit
dem Nachbarstaat geschlossen haben –, sondern auch der Libanon, Syrien
und sogar der Iran, die bislang jeden Ausgleich, der auch das
Existenzrecht Israels garantiert, als »Verrat am palästinensischen Volk«
denunzierten. Macht auch nichts, daß die meisten arabischen Staaten,
inklusive Jordanien und Ägypten, nach wie vor sorgsam darauf achten,
Israel in der öffentlichen Meinung ihrer Länder weiterhin zum »Feind
Nummer eins«, zum »zionistischen Krebsgeschwür im Nahen und Mittleren
Osten« zu stilisieren – allein schon, um mit einem satten Feindbild von
den eigenen Fehlleistungen und Problemen abzulenken. Der
israelisch-palästinensische Konflikt dient nach wie vor zur
Entschuldigung dafür, daß man sich nicht im geringsten um drängendere
Probleme wie Überbevölkerung, Analphabetismus oder die Konflikte
zwischen verschiedenen Minderheiten und Bevölkerungsgruppen kümmert.
Offensichtlich darf man in einigen arabischen Ländern die eigenen
Probleme erst anpacken, wenn wirklich kein Palästinenser mehr leidet.
Wird die US-Regierung die Empfehlungen ihrer neuen
arabischen und ihrer alten europäischen Verbündeten aufnehmen, mit viel
Druck Israelis und Palästinenser an den Verhandlungstisch zurück und zu
einem »endgültigen« Frieden zu zwingen, etwa entlang der Linien, die
Bushs Vorgänger Bill Clinton entwickelte? Werden sie den Sturkopf Sharon
drängen, endlich ein paar substantielle Angebote zu machen? Allein schon
deshalb, weil es spannend wäre zu sehen, ob Arafat sich dadurch wirklich
beeindrucken läßt oder ob er lieber weiter den Salah-eddin für die
palästinensischen Massen spielen und seine Ziele ausschließlich mittels
bewaffneten Kampfs erreichen will? Weit gefehlt. Die US-Regierung wird,
geben amerikanische Diplomaten zu, Israelis wie Palästinenser
allerhöchstens »nachdrücklich auffordern«, ihr gegenseitiges
Blutvergießen wenigstens nicht so lärmend zu betreiben. Krach an der
israelisch-palästinensischen Front könnte sich abträglich auf die
»Anti-Terror-Koalition« auswirken und bei der Suche nach Osama Bin Laden
stören, die ein paar tausend Kilometer ostwärts stattfindet. Die
Bush-Administration wird aber nicht, sozusagen als Nebeneffekt ihres
Kampfes gegen den Terror, Arafat und Sharon massiv unter Druck setzen
und zu Kompromissen zwingen oder sich so akribisch in die Einzelheiten
möglicher Lösungen einarbeiten, wie das die Clinton-Administration getan
hatte.
Zu dumm. Es wäre doch wirklich interessant zu erfahren,
welche Gründe für den Terrorismus islamisch-fundamentalistischer
Gruppierungen aufgeführt würden, wenn der israelisch-palästinensische
Konflikt tatsächlich gelöst wäre.