
ISRAEL UND DER KAMPF GEGEN DEN TERRORISMUS:
Schimären der Erinnerung
Nach dem 11. September glaubten viele Menschen in Israel,
die internationale Gemeinschaft werde der Regierung in Jerusalem einen
Platz in der vordersten Front der Antiterrorallianz anbieten. Dass eher
das Gegenteil geschah, resultiert nicht nur aus den Bündnisinteressen,
die vorrangig auf die arabischen und islamischen Staaten Rücksicht
nehmen. Zu der Entfremdung trägt auch das israelische Selbstverständnis
bei, das zunehmend ein nationalethnisches Bewusstsein reflektiert - und
damit in Widerspruch zu universalen Begründungen gerät.
Von NATAN SZNAIDER
AUCH in Israel brach der 11. September aus, aber anders,
als man es im Lande erwartet hat. Die meisten Menschen hier rechneten
mit einer "Israelisierung" der westlichen Welt, einer aufrechten
Solidarität zwischen allen (Terror-)Opfern. Haben nicht alle
Fluggesellschaften die strikten Sicherheitsmaßnahmen der El-Al
übernommen? Mussten in dieser Situation nicht alle Menschen Israelis
werden? Am Abend bot man in den israelischen Talkshows den Amerikanern
vielfältige Unterstützung an. Wir gehören alle zusammen - glaubte man.
Wie sehr man sich politisch und emotional verrechnen kann!
In der Tat gehört der Terror zum israelischen Alltag. Längst hat man sich
an die ständige Möglichkeit einer Bombenexplosion gewöhnt. Jedes Treffen
im Café kann das letzte sein, jede Fahrt in einem öffentlichen
Verkehrsmittel - oder auch im eigenen Auto neben einem Bus - mag die
letzte Fahrt sein. Jeder weiß es, kaum jemand spricht darüber. Man lebt
mit der Angst, integriert sie in den Alltag, aber man kann sie nicht
vergessen. Auch im noch gar nicht existierenden Palästina überschattet
der Terror jeden Alltag, obwohl die israelische Besatzung einen
richtigen Alltag noch gar nicht entstehen ließ.
Jedes öffentliche Gebäude wird überwacht; den Griff, mit dem am Eingang
der Einkaufszentren routiniert die Handtaschen kontrolliert werden,
nimmt man gar nicht mehr wahr. Der anhaltende Terror des letzten Jahres
hat auch die Intellektuellen sprachlos gemacht, die bis dahin nach einer
friedlichen und politischen Lösung suchten. Terror kann nichts anderes -
er erzeugt verlegenes und verängstigtes Schweigen. Er unterscheidet
nicht zwischen rechts und links, zwischen Kindern und Erwachsenen,
zwischen "Schuldigen" und "Unschuldigen". Das ist die Rationalität des
Terrors, die hinter den irrationalen Taten steckt.
Solange man noch "verstehen" wollte, die Motivationsstrukturen der Täter
verstehbar schienen (etwa: Terroristen bomben mangels anderer Waffen im
antikolonialen Kampf), so lange gab es Formeln, mit denen man sich
auseinander setzen konnte, wie etwa: Ein Rückzug aus den besetzen
Gebieten bringt Frieden und ein Ende des Terrors. Entsprechend sah die
israelische Linke den Dreh- und Angelpunkt im Jahre 1967. Sie hatte
stets argumentiert, wenn man die Sünde (der Okkupation) von 1967
rückgängig mache, werde die Erlösung kommen, über Verhandlungen und
Kompromisse. Auf dieser Analyse basierte Oslo.
Die israelische Rechte hat diese Formel nie akzeptiert. Sie war schon
immer kompromisslos, weil sie von der Kompromisslosigkeit der anderen
Seite ausging. Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzungn war in ihren
Augen nicht 1967, sondern 1948 - die Staatsgründung. Oder noch klarer:
die jüdische Existenz selbst. Als die Palästinenser in der letzten
Verhandlungsrunde das "Recht auf Rückkehr" aufbrachten (das heißt auch
die Rückkehr der 1948 vertriebenen Palästinenser), schienen sie die
Analyse der Rechten zu bestätigen, wonach es den Palästinensern nicht um
die Besatzung der Gebiete gehe, sondern um die Illegitimität des Staates
Israel. Dass die Palästinenser das Rückkehrrecht in die Verhandlungen
einbringen mussten - da nun plötzlich alle den Konflikt beenden wollten,
statt ihn wie vorher zu institutionalisieren -, haben die Rechten
erfolgreich ausgeblendet. Das brachte die Linke zum Schweigen und zu der
Einsicht, dass sie sich mit diesem Konflikt aus dem politischen Raum
verabschieden; die Zeit des Nullsummenspiels brach an. Als dann
Autobusse, Diskotheken und Pizzarestaurants in die Luft flogen, war
fortan jede Solidarisierung mit dem "Feind" unmöglich.
Die israelische Rechte kannte "den Feind" einfach schon länger und besser.
Sie redete in fast metaphysischen Formeln über die Araber als "das Böse"
(daher der ständige Vergleich Arafat/Hitler). Mit dem "Bösen" verhandelt
man nicht (wenn doch, geht es wie bei Chamberlain und Hitler aus,
weshalb die Friedensverhandlungen als "Münchner Abkommen" denunziert
wurden). Das Böse verweigert sich der Kommunikation, sieht Gewalt nicht
als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck, es genießt den Terror.
Man denke nur an die Bombe, die im August zur Mittagszeit in einem
Jerusalemer Pizzarestaurant gezündet wurde, just zu der Zeit, wo dieser
Ort von Müttern mit ihren Kindern besucht wird. Warum verstärkte sich
der Terror gerade in der Zeit der Verhandlungen und
Kompromissbereitschaft, wenn nicht, um diese zu unterwandern?
Die Intellektuellen Israels sahen sich mit einer Gewalt konfrontiert, die
zwar durch die israelische Besatzung ausgelöst war, sich aber längst von
ihrem ursprünglichen Motiv verselbständigt hat. Damit verwandelte sich
der Terror aus einer politischen Waffe in ein antipolitisches
Instrument, das jegliche Kommunikation auslöscht: die perfekte Mischung
zwischen Georges Sorel und islamischem Fundamentalismus. Verständnis
beginnt da, wo die Gewalt aufhört, doch die anhaltende Gewalt hat
langsam jedes Verständnis untergraben. Friedenswillige und
kompromissbereite Israelis zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück und
begannen allen Ernstes zu überlegen, ob nicht die Rechte Recht hat - und
sie selbst jahrelang einem Irrtum aufgesessen sind.
So weit war man bei uns in Israel am 10. September. Dann stürzten die
Türme ein, und die Welt wurde Israel. Sind wir damit alle in eine
globale Schicksalsgemeinschaft hineingebombt worden? Verwandelte sich
die ganze Welt in jüdische Opfer, die erneut dem destruktiven Bösen
gegenüberstehen? Wird nun die spezifisch jüdische Erinnerung an Opfer
und Verfolgung zur globalen Erinnerung? Solche Fragen kamen vielen
Israelis spontan und nicht nur angesichts der Bilder von tanzenden
Palästinensern. Noch nie hatte sich Israel derart als integraler Teil
der "zivilisierten" Welt verstanden geglaubt. "Zivil" in dem Sinne, dass
die Angst vor dem gewaltsamen Tode der Motor aller gesellschaftlichen
Ordnung ist. Terroristen setzen diesen zivilisatorischen Fortschritt
außer Kraft. Bin Laden schien am Beginn der Bombardierung die neue
israelische Zugehörigkeitsgewissheit noch zu bestätigen, wonach es nicht
um einen Kampf der Kulturen gehe, sondern um Palästina. Als ob in Israel
jemals jemand daran gezweifelt hätte.
Arafat ist Bin Laden, hörte man auf den Straßen des Landes; das klingt
gut, das klingt überzeugend, und wer hätte am 11. September ahnen
können, dass Bin Laden es in seiner Rede am 7. Oktober bestätigen würde?
Umgehend erstarrte das von Arafat für die Terroropfer gespendete Blut.
Ist Terror nicht gleich Terror und gleichbedeutend mit dem Ende der
politischen Kommunikation?
Aber langsam wurde klar, dass das neue, auf dem Schrecken des 11.
September beruhende globale Gedächtnis Israel vergessen möchte. Die
Anschläge waren in den Augen der Welt kein Angriff auf die Macht
Amerikas und seiner Verbündeten, sondern ein Angriff auf Zivilisation
und Freiheit. Ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Bevor die Bombardierung Kabuls begann, war der Beginn einer neuen globalen
Politik spürbar, in der jedem seine Rolle zugedacht war. Das ist der
Krieg im globalen Zeitalter. Die Symbolik des angegriffenen Objekts
bestätigte geradezu die Globalität des neuen Krieges. In Israel
akzeptierte man die Stimmen, die ringsum ertönten: Amerika sei in der
arabischen Welt wegen der Unterstützung Israels verhasst. Das machte
Sinn für die Israelis und verband die USA und Israel zu einer
Schicksalsgemeinschaft. Aber andere Sichtweisen interpretierten die
Geschichte mehr "jüdisch" als "israelisch"; hier und da war
herauszuhören, der Angriff gelte dem "internationalen Judentum",
symbolisiert schon immer durch New York. Es gehe nicht nur um
israelische Besetzung, sondern um die Verknüpfung von Juden und New
York.
Der Hass auf Amerika könnte also mit Israel zusammenhängen, aber auch
tiefer im Gedächtnis angesiedelt sein. Er könnte auch damit
zusammenhängen, dass in den Augen vieler Antisemiten Amerika immer für
einen von Geld angetriebenen, "verjudeten", ortlosen Ort stehe - ein
Symbol für emanzipierte Frauen und ethnische Durchdringung. So gesehen
wäre der Angriff auf Amerika ein Angriff auf die Spätmoderne und kein
antikolonialistischer Befreiungskampf, gespeist aus der Erinnerung der
Alten Welt.
Israel als verspätete Nation
DIE ersten Anzeichen dafür, dass Israel und die Welt nicht im Kampf gegen
den Terror verbunden sind, kamen nicht zufällig von den ehemaligen
Kolonialherren des Nahen Ostens. Der französische Botschafter in Israel
wie der britische Außenminister versuchten, Israel die feinen
Unterschiede des Terrors zu erklären: In Israel sei der Terror nur "so
genannter Terror" (oder "was in Israel als Terroranschlag bezeichnet
wird", wie es die BBC formuliert), da es sich schließlich um den
palästinensischen Unabhängigkeitskampf handele. Die Erfahrungen mit der
eigenen kolonialen Geschichte (FNL und IRA) dürften an dieser
Übertragung nicht unbeteiligt sein.
Nach dem 11. September, so wollen es England und Frankreich (vor dem
Hintergrund der eigenen Erinnerung an Kolonialismus und
Entkolonisierung) den Israelis beibringen, seien die Probleme der Welt
auf einer anderen Ebene angelangt. Die Angriffe auf New York und
Washington gehören nach diesem Verständnis einer neuen historischen
Stufe an; Israel ist plötzlich historisch in einen Rückstand geraten, ob
seines kolonisierenden Ethnonationalismus zur verspäteten Nation
geworden.
So bildete sich die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten heraus, auf
der die politischen Missverständnisse des 11. September in Israel
basieren. Auf der einen Seite hatte sich in den letzten Jahren über die
nationalstaatlichen Grenzen hinweg ein globales Gedächtnis konstituiert;
transnational ausgeprägt in der Erinnerung an Holocaust, Völkermord,
Sklaverei und Kolonialismus. Auf der anderen Seite ist im offiziellen
israelischen Gedächtnis der Holocaust nach wie vor ein Verbrechen gegen
das jüdische Volk. Während also die Reaktion auf den 11. September neue
transnationale Kooperationen hervorbringt - noch nie war ein so großer
Teil der Welt im Abwehrwillen gegen den Terror derart vereint -, sieht
die Einschätzung in Israel aufgrund der eigenen Geschichte völlig anders
aus.
Was für viele Israelis die Situation noch unverständlicher macht, ist der
unterschiedliche Weg, den das globale und kosmopolitische Gedächtnis
eingeschlagen haben. Jüdisches Gedächtnis war lange und gerade vor der
israelischen Staatsgründung ein Diaspora- oder Exilgedächtnis. Entortung
war konkretes jüdisches Schicksal, bevor sie global zum Identitätsträger
wurde. Das Gegenstück der Entortung ist die Verwurzelung, eine
"natürliche", örtlich gebundene Zusammengehörigkeit. Vor der
Staatsgründung fußte die jüdische Existenz gemeinhin nicht auf
geografisch definierter nationaler Zugehörigkeit, sondern auf der
Möglichkeit und Erfahrung transnationaler Solidarität, welche die
Möglichkeit eines grenzübergreifenden Gedächtnisses überlieferte.
Daher sollte man jüdische Erfahrung nicht mit israelischer Erfahrung
verwechseln, wie es innerhalb und außerhalb Israels oft getan wird. Die
auf dem Nationalinteresse beharrende israelische Position definiert sich
heute geradezu als Gegenstück zum globalen Kosmopolitismus.
Gleichzeitig-ungleichzeitig hinkt das in Kategorien des 19. Jahrhunderts
verfangene Israel dem 21. Jahrhundert hinterher. Vom Beginn an wollte
das sich gründende Israel das Exil als jüdische Existenzweise negieren,
wollte diese durch Ethnonationalismus aufheben. Das war nicht immer
einfach. Die zionistische Revolution wollte den neuen jüdischen Menschen
auf eigenem Territorium erschaffen, konnte dies aber nur im Rückgriff
auf schon vorher existierende jüdische Symbolik. Der Zionismus war nie
eine universale Ideologie, er wandte sich immer nur an eine bestimmte
ethnisch-religiöse Gruppe. Nationale Symbole sind gleichzeitig religiöse
Symbole. Israel ist säkulare Heimat und heiliger Boden.
Als der Zionismus mit seiner nationalen Befreiungsidee Heimat schuf,
befreite er zugleich das Heilige. Während anderswo die Moderne als
integrierendes Prinzip die Religion verdrängte, wurde diese in der
jüdischen Nationalbewegung freigesetzt. Ohne religiöse Symbolik kann
sich der jüdische Staat kaum legitimieren, geschweige denn seine Bürger
integrieren. Die Rückkehr zum "Ort" ist für Israel deswegen nicht nur
geopolitische Realität, sondern mit der Problematik der Überwindung der
Diaspora verflochten. Nur so kann man erklären, warum der Kampf um
Territorium in Israel so erbittert ausgetragen wird. Es geht um mehr als
nur um Land. Es geht um "heilige" Verortung. Der Terror kämpft gegen
diese Verortung, sieht den Ort unrechtmäßig in Besitz genommen und will
den Ort zerstören. Nicht mit politischen Mitteln, sondern mit heiligem
Terror.
Der Friedensprozess im Nahen Osten versuchte die Politik zu entheiligen,
so wie der globale Einfluss der USA der Welt ihren Heiligenschein nimmt.
Terror hingegen holt das Heilige zurück in die Politik, wodurch diese
verzaubert wird, weil Tod und Gewalt alle zivile Errungenschaften
überlagern. Terror kennt keinen Kompromiss, man kann sich mit ihm nur
militärisch auseinander setzen. Und gerade hier im Nahen Osten, wo
Religion niemals als Privatsache gelten kann, wo Religion und Nation
nicht zu trennen sind, ist die Verheiligung der profanen Politik immer
präsent.
In Israel treffen also verschiedene Arten von Gedächtnis aufeinander.
Kosmopolitische Erinnerung ist nicht die Summe aller partikularen
Gedächtnisse. So wie Diasporagemeinschaften in ihrer Geschichte gelernt
haben, Raum mit Anderen zu teilen, bemüht sich das kosmopolitische
Gedächtnis, die Zeit mit anderen zu teilen. Kosmopolitische Erinnerung
ist Diasporaerinnerung. Die Existenz Anderer geht auf in der eigenen
Existenz.
Entsprechend versucht Amerika, die Terroristen von den gemäßigten Muslimen
zu isolieren und zur bedingungslosen Kapitulation zu bringen. Das ist
die Ideallösung des Konflikts, die aber keinen Platz für Israel bietet,
da andere Bündnisse vonnöten sind. Als dies hierzulande klar wurde,
verstand man die Welt nicht mehr: Täglich ging der kleine Terror weiter,
aber "draußen" redeten Bush und Blair vom unabhängigen Palästina statt
vom gleichen Boot.
Scharon trat die Flucht nach vorne an: Wenige Tage vor Beginn der
Bombardierung Afghanistans warnte er in einer seiner aggressivsten Reden
die Amerikaner, dass Israel das große und gewagte globale Spiel nicht
mehr mitzuspielen bereit sei. Israel sei nicht die Tschechoslowakei von
1938. Damit verrückte der israelische Ministerpräsident den
kosmopolitisch-globalen Konflikt des Jahres 2001 auf die partikulare
historische Ebene der verorteten Nationalstaatlichkeit, mit der das
israelische Gedächtnis vertraut ist. Die Nazis stehen vor den Toren! Und
wieder spielten Engländer und Franzosen die Hauptrollen. 1938 lieferten
Chamberlain und Daladier die Tschechoslowakei an Hitler aus. Scharon
wollte vielleicht London und Paris an diese Zeit (und ihre Schuld)
erinnern und damit kundtun, Israel werde sich von nun an auf sich selbst
verlassen, was in Zeiten transnationaler Kooperationen wie aus einer
anderen Welt klingt. Diesmal würden die Juden nicht passiv wie die
"Schafe zur Schlachtbank" gehen, gilt doch die "Passivität" als das
Symbol der Diaspora, des Exils, der scheinbaren Politiklosigkeit - auf
die der Staat Israel die "aktive" Antwort darstellt, nämlich die
Rückkehr des jüdischen Volkes in die Geschichte.
Aber trotz der Rede Bin Ladens wird Israel nicht mit offenen Armen in die
Koalition aufgenommen. Vielmehr drängt das globale Bündnis, das sich
gegen den Terror formiert, Israel gerade deshalb in die passive Rolle,
weil man glaubt, so den kosmopolitischen Kampf gegen den Terror besser
bestehen zu können. Aber Israel wird damit wiederum "jüdischer".
Derweil stehen die Israelis in ihrer ganzen Verwirrung Schlange, um die
alten Gasmasken aus dem Golfkrieg gegen neue einzutauschen. Auch damals,
als die irakischen Raketen ins Land einschlugen, sah sich Israel von den
Amerikanern zur Passivität verdammt: ein Staat, so das Bild, das um die
Welt ging, voller hilfloser Juden, die plötzlich wieder "vergast" werden
sollten. Während den älteren Juden die Lage bekannt vorkam, konnten
besonders die jungen, kampfbereiten Israelis nur schlecht mit dieser
Situation umgehen. Dieses jüdische Moment der Hilflosigkeit (und gerade
Scharon lehnte die israelische Passivität damals ab) war es wohl, was
zum Beginn des Friedensprozesses etwas mehr als ein Jahr später führte.
Nun steht Israel erneut vor einem solchen Scheideweg.
Gibt es überhaupt noch einen Ausweg? Bleibt nur noch die Flucht in die
Utopie? Oslo war zum Scheitern verurteilt, weil man nur in
Scheidungsformeln denken wollte und sich nicht vorstellen konnte, dass
der einzige Weg jenseits des gegenseitigen Mordens darin liegt, die
Erfahrung, die Erinnerungen, die Lebenswelten der anderen Seite in das
eigene Leben einzubeziehen, ein gemeinsames Schicksal, gemeinsames Leben
zu entwerfen, mit anderen Worten: kosmopolitisches Gedächtnis hierher zu
verpflanzen. Man sollte also nicht von Identität reden, sondern von
Leben. Die Millionen Menschen, die in Israel leben, müssen sich daran
gewöhnen, dass hier nichts einfach zu trennen ist, dass die Region
vielmehr längst wirtschaftlich und sogar kulturell eine Einheit ist. Das
bedeutet auch: mit gemeinsamen Erinnerungen, die sie sich dringend
aneignen muss.
Es geht also keineswegs nur um die Vergangenheit, sondern vor allem um die
zukunftsbezogene Projektion eines gemeinsamen Gedächtnisses, das,
kosmopolitisch ausgerichtet, sich aus der Anerkennung des Leidens des
Anderen und der Institutionalisierung dieses Leidens zusammensetzt. Das
hieße, dass Israelis anerkennen, was die Palästinenser 1948 zu erleiden
hatten, ohne dass das Leid der Juden und Israelis damit in irgendeiner
Weise geschmälert würde. Und dass die Palästinenser aufhören, den
Holocaust als zionistische Propaganda abzutun. Dass begonnen wird, sich
gegenseitig Geschichten zu erzählen, statt die eigene Geschichte zu
Mythen umzubauen. Was diese Geschichten verbindet, ist vor allem Leid.
Es kann nur eine gemeinsame Zukunft geben. Utopie? Wahrscheinlich. Aber
utopisch ist auch die Gewalt, die das Verschwinden des Anderen erträumt.
Natan Sznaider unterrichtet Soziologie am Academic
College of Tel-Aviv in Israel. Soeben erschien (mit Daniel Levy):
"Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust", Frankfurt (Suhrkamp)
2001. Ihr Thema: die Möglichkeit eines vom Holocaust hervorgerufenen
kosmopolitischen Gedächtnisses.
Der vorliegende Beitrag erschien nur in der Ausgabe für Deutschland und
Luxemburg.
Le Monde diplomatique Nr. 6602 vom 16.11.2001, Seite 3, 383 Dokumentation
haGalil onLine 27-12-2001 |