"Das ist doch unser Land"
Wenn nichts mehr sicher ist -
kein Bus, kein Kino, kein Café. Wie die Anschläge das Leben der
Israelis in jeder Minute, in jedem Moment bestimmen
Von Richard Chaim Schneider
Berliner Zeitung,
05.08.02
Tel Aviv, im August. Vierzig klingelnde Handys
auf einem Billardtisch, von den Sanitätern ordentlich
nebeneinander aufgereiht. Vierzig klingelnde Handys, deren
Besitzer nicht mehr in der Lage sind, die besorgten Anrufe ihrer
Liebsten anzunehmen und sie zu beruhigen. "Hakol Beseder!",
alles in Ordnung. Nichts ist mehr in Ordnung für diese vierzig,
für die Opfer eines palästinensischen Selbstmordanschlags in
Rischon-Le-Zion in einem Spielsalon vor einigen Wochen.
Yaniv hat das Bild der Mobiltelefone auf dem
Billardtisch gedreht, denn Yaniv ist Kameramann beim
israelischen Fernsehen. Seit Jahren schon ist er Zeuge der
kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und
Palästinensern, kaum ein Ort hier, an dem es zu einer
Katastrophe kam, an dem er nicht war. Er kennt die Bilder alle:
Leichenteile, Blut, heraushängende Gedärme, zerfetzte
Fensterscheiben, verkohlte Autos und Busse, herumirrende,
schreiende Menschen.
Welche Straße nimmt man?
Mit seiner Frau Shula redet Yaniv kaum über
solche Eindrücke, Shula arbeitet als Producerin für einen
amerikanischen Sender, auch sie kennt die Bilder, das
Filmmaterial, das täglich auf den Schneidetisch kommt und von
dem vieles nicht gesendet wird, weil es zu brutal und dem
Publikum in Übersee nicht zuzumuten ist. Wozu noch einmal
darüber reden? Doch heute spricht Yaniv über die vierzig Handys,
er erzählt seinen Besuchern an diesem Abend, was er erlebt hat;
und wie er es erzählt, wird deutlich: Yaniv ist nicht cool, kein
zynischer Journalist, dem das alles nichts anhaben kann. Er hat
Angst, ihm bricht der Schweiß aus. Shula, die in der
amerikanischen Küche steht, vor einer Anrichte im Wohnzimmer,
blickt auf ihren Mann. "Er braucht das. Endlich kommt es raus,
ich machte mir Sorgen, da er nie redet." Shula kennt diesen
Zustand, jeder Israeli kennt ihn. Die Angst, die Panik, die
Hilflosigkeit haben sich wie Schatten über die Seelen der
Menschen gelegt. Doch der Alltag muss weitergehen, irgendwie
darf man nicht aufhören so zu tun als sei noch alles normal.
Immerhin - man lebt im eigenen Staat, nicht irgendwo im
europäischen Ghetto wie die Vorväter. Hier lebt man als Jude in
Freiheit, man darf erst gar nicht so tun, als sei es anders.
Doch die Schatten lassen sich nicht abschütteln,
bestimmen den Tagesablauf. Shula hat ihren beiden Kindern, der
siebenjährigen Anna und der dreizehn Jahre alten Dorit, schon
vor langer Zeit verboten, Bus zu fahren. Wie aber sollen die
Kinder sich nun fortbewegen? Eine Elterninitiative hat sich
zusammengetan. Jeden Tag fährt jemand anders eine Gruppe von
Kindern in die Schule und holt sie wieder ab. Und danach? Shula
ist ebenso wie andere Mütter zum Chauffeur der Kinder geworden:
Klavierunterricht, Ballettstunde, Basketballtraining - die
Nachmittage sind strategische Planspiele. Wann fährt man welches
Kind wohin? Welche Strecke fährt man zu welcher Zeit? Um
siebzehn Uhr auf dem Ayalon-Highway zu fahren, gilt bereits als
selbstmörderisch: Dauerstau mit zahlreichen Bussen vor einem,
neben einem. Wenn da einer hochgeht. Also lieber die
Nebenstrecke fahren, die ist sicherer. Sicherer? Vielleicht
haben palästinensische Terroristen schon bemerkt, dass viele
Mütter inzwischen diese Strecke bevorzugen, vielleicht steht da
schon ein Wagen voller Sprengstoff bereit?
My home is my castle - diese Überzeugung haben
Yaniv und Shula schon lange nicht mehr. Sie leben in Ramat
Hasharon, einem schönen, ruhigen Vorort von Tel Aviv. Hier lebt
der besser verdienende Mittelstand, die ganz Reichen wohnen noch
ein bisschen weiter weg von der Stadt. Der Mittelstand wählt
traditionell links, die Arbeitspartei oder Meretz. Doch
inzwischen ist auch bei dieser Wählerschaft Skepsis aufgekommen.
An die Arbeitspartei glaubt man längst nicht mehr. Peres ist
ihnen ein eitler, arroganter Verräter seiner eigenen Sache und
seiner Partei; ein Mann, dem sein Ministerposten unter Scharon
wichtiger ist als der Friedensprozess. Verteidigungsminister
Ben-Elieser, mittlerweile so bullig wie sein Premier, wird
lediglich als Scharons Werkzeug begriffen. Dass er auch der
Vorsitzende der Arbeitspartei ist, wird nur mit einem müden
Lächeln zur Kenntnis genommen. Bedeuten tut dies nichts.
Yaniv und Shula und alle ihre Freunde, Anwälte,
Ärzte, Journalisten, Akademiker, sie verfluchen ihre Regierung,
machen sich keinerlei Illusionen über die Absichten Scharons,
wiederholen immer wieder ihr Mantra, die Okkupation müsse
endlich aufhören, die Armee, die Siedlungen vor allem müssten
dort endlich verschwinden, doch dann entfährt es Shula ganz
plötzlich: "Ich bin nur froh, dass unsere Armee zurzeit in den
palästinensischen Städten ist. Kannst du dir vorstellen, was
hier los wäre, wenn wir uns zurückziehen würden?" Kaum einer in
der Runde an diesem Abend protestiert, obwohl jeder weiß, dass
dies im völligen Widerspruch zu ihren alten politischen
Überzeugungen steht. Doch alle sind sie Eltern und leben in
ständiger Angst um ihre Kinder. Die dreizehnjährige Dorit trifft
sich mit ihren Freundinnen im "In-Café" von Ramat Hasharon, das
stets überfüllt ist. Ein ideales Ziel für Attentäter.
"Bis vor wenigen Monaten konnten wir uns ja
sicher fühlen hier, wir dachten, die Attentate geschehen nur in
den Ballungszentren", sagt Noah, ein Freund der Familie, der als
Islamwissenschaftler sein Geld verdient. Doch das hat sich im
letzten Herbst schlagartig geändert. Drei mutmaßliche
palästinensische Terroristen hatten sich in der Schule von Ramat
Hasharon verschanzt, als sie vor der Polizei auf der Flucht
waren. Sie hatten eine Schulklasse als Geisel genommen, die
kleine Tochter von Chagit, Shulas bester Freundin, war unter den
Kindern. Knapp 36 Stunden war die Klasse in den Händen der
Araber, bis Scharfschützen der israelischen Polizei die drei
Palästinenser töteten. Wohl nirgends in der Welt sind die
Trauma-Abteilungen der Krankenhäuser besser ausgerüstet als in
Israel. Die Therapeuten nahmen sich sofort der Kinder an,
betreuen manche von ihnen noch heute.
Der Schrecken der Kinder
Die elf Jahre alte Nava sitzt bei der Erzählung
dieser Ereignisse ungerührt neben ihrer Mutter Chagit. Erst auf
die Frage, wie es ihr heute damit gehe, antwortet sie: "Man muss
alle Palästinenser vertreiben, besser noch: alle ausrotten. Es
ist die einzige Lösung!" Erschreckend sind die Worte des
Mädchens, doch nicht, weil sie mit Hass gesagt werden, im
Gegenteil, Nava ist völlig gelassen. Sie spricht die Sätze wie
eine Selbstverständlichkeit.
Seit letztem Herbst wissen die Bewohner von
Ramat Hasharon, dass der Terror auch vor ihrer Haustür lauert.
Dorit löst das Problem auf ihre Weise: Sie hört einfach keine
Nachrichten mehr. Wenn es einen neuen Anschlag gegeben hat und
die Eltern wieder einmal wie gebannt auf den Bildschirm starren,
um irgendeine vielleicht ganz wichtige Information
aufzuschnappen, dann wird Dorit wütend und beginnt ihre Eltern
anzubrüllen.
Und wenn sie dann bei einem der Attentate auch
noch mitbekommt, dass vielleicht ein Kind ihres Alters getötet
wurde, dann rennt sie schreiend aus dem Haus, läuft einfach weg,
irgendwohin, die Eltern können nichts tun, sie vergehen vor
Angst, Dorit könnte etwas Dummes anstellen, wissen aber, dass
sie das Kind jetzt in Ruhe lassen müssen.
Anna, die Jüngere, ist quengelig bei jedem neuen
Anschlag. Weil dann Mama und Papa wieder das Nachrichtenprogramm
sehen und die Herrschaft über die Fernbedienung innehaben, wo
doch auf Kanal acht ein Zeichentrickfilm kommt, den sie
keinesfalls verpassen möchte. "Blöde Palästinenser", sagt Anna,
"ich hasse sie. Sollen sie doch auch Zeichentrickfilme sehen,
das macht doch mehr Spaß als sich und uns in die Luft zu jagen!"
Seit die Zahl der Attentate so zugenommen hat,
sind Yaniv und Shula, die Eltern, sehr viel daheim. Ins Kino?
Ins Theater? In ein Konzert? Zu gefährlich. Zum Abendessen? Ja,
das noch gelegentlich. Inzwischen haben alle Cafés und
Restaurants in Israel Sicherheitsleute mit Maschinenpistolen vor
den Eingängen postiert. Als wir an diesem Abend beschließen ins
"Stefan Braun" zu gehen, ein Restaurant in der Allenby-Street in
Tel Aviv, ist das zugleich auch eine kleine Mutprobe. Niemand
würde das so deuten oder gar formulieren, doch nichts anderes
ist es.
Auswanderungspläne
Dort angekommen, das inzwischen typische Bild:
Der Durchgang in den Hinterhof, wo sich das Lokal befindet, ein
mit Jasminbäumchen links und rechts gesäumter schmaler Weg, ist
jetzt durch ein schweres Eisentor versperrt. Dahinter ein
großer, wuchtiger Mann, Handschellen und Pistole im Gürtel, die
Uzi im Anschlag. In seinem gutturalen, russisch eingefärbten
Hebräisch fordert er uns auf, die Taschen zu öffnen. Automatisch
haben fast alle bereits damit begonnen, noch ehe er etwas sagen
konnte. Überwachung, Sicherheit, Kontrolle - das ist so
alltäglich, dass es inzwischen als Normalität wahrgenommen wird.
Die meisten Israelis werden sich der Absurdität und der
Anspannung ihres Lebens erst im Ausland bewusst, dann, wenn sie
in Rom oder Paris, in München oder Berlin in einem Straßencafé
sitzen und ihnen klar wird, dass sie sich nicht ständig
umschauen müssen, wenn sie feststellen, dass die Plastiktüte,
die irgendwo herumliegt, niemanden interessiert, dass darin ganz
gewiss keine Bombe ist.
Drinnen im "Stefan Braun", dem Restaurant in Tel
Aviv, sitzen junge, schöne Frauen, mit dicklichen, arrogant
wirkenden Männern. Sie essen, trinken und lachen. Für einen
Abend wollen die Menschen die Intifada vergessen. Yaniv und
Shula wissen, dass dies hier nur Illusion ist. Viele Elternpaare
überlegen seit Monaten, Israel zu verlassen - wegen der Kinder.
"Habe ich ein Recht, meine Kinder um ihre Kindheit zu
betrügen?", fragt Shula. "Was ist das für eine Kindheit, so in
Angst leben zu müssen, sich nicht frei bewegen zu können?"
Zusammen mit ihrem Mann hatte sie sich ein Häuschen in Amsterdam
angeschaut, wohin sie ziehen wollten. Yaniv war begeistert,
ebenso Shula. Es schien alles beschlossene Sache, bis sie zurück
waren in Ramat Hasharon und erkannten: "Wir können nicht so ohne
weiteres gehen. Das ist doch unser Land. Wenn wir gehen, dann
heißt das doch, dass der ganze Zionismus umsonst war."
Die Auswanderungspläne haben sie fallen
gelassen. Die Angst bleibt. Und Shula sagt bitter: "Ich liebe
dieses Land so sehr, dass ich wahrscheinlich die Letzte am
Flughafen Ben Gurion sein werde, wenn Israel untergeht. Dann
kann ich wenigstens noch das Licht ausdrehen und sagen: Ich war
die letzte Israelin!"
hagalil.com
06-08-02 |