Selbstmordanschlag in Jerusalem:
Der Mörder kam mit der Kippa
Palästinensische Selbstmord-Attentate zeigen, dass der neue Premier
Abbas sich noch nicht durchsetzen kann
Von Thorsten Schmitz
Der ultra-orthodoxe Mann löst bei den
Passagieren im Linienbus Nummer6 keinen Argwohn aus. Es ist früh am
Morgen, viertel vor sechs, die Sonne geht gerade auf und die meisten
Buspassagiere dösen vor sich hin. Junge Soldaten hören Walkman.
Sonntag ist der erste Werktag im jüdischen Kalender, die meisten
Passagiere sind auf dem Weg zur Arbeit oder zu ihren Einheiten.
Einige blättern in Morgenzeitungen und lesen die Schlagzeilen über
den Anschlag Samstagabend in der jüdischen Enklave in Hebron, bei
dem eine schwangere Frau und ihr Mann von einem palästinensischen
Selbstmord-Attentäter getötet wurden – und über das ergebnislose
Treffen zwischen Premierminister Ariel Scharon und seinem
palästinensischen Kollegen Machmud Abbas.
Der scheinbar orthodoxe Mann steigt nahe der
israelischen Ortschaft Pisgat Zeev ein, die im Westjordanland liegt,
aber von der Jerusalemer Stadtverwaltung verwaltet wird. Der Bus
fährt Richtung Nord-Jerusalem, zum so genannten French Hill, einen
Stadtteil, der seit Beginn der Intifada vor zweieinhalb Jahren von
mehr als einem Dutzend Anschlägen heimgesucht worden ist. Plötzlich
detoniert ein Sprengsatz, der Fahrer verliert die Kontrolle über
seinen Bus. Sieben Passagiere, die eben noch gelebt hatten, sind auf
der Stelle tot – mehr als zwanzig zum Teil schwer verwundet. Manche
Tote sitzen in ihren Sitzen als lebten sie noch. Innerhalb weniger
Minuten erreichen Krankenwagen und Polizei den Ort des Grauens. Der
Berufsverkehr kommt zum Erliegen. Bei einer ersten Untersuchung
macht die Polizei eine makabre Entdeckung: An den Überresten des
palästinensischen Attentäters kleben Kippa und Gebetsschal. Der
Terrorist hatte sich als orthodoxer Jude verkleidet.
Das Attentat entspricht blutiger Regelmäßigkeit:
Jedesmal, wenn Israel und die Palästinenser ihre Kontakte
intensivieren, wird Israel von einer Terrorwelle erfasst. Sprecher
der Terrororganisation Hamas lobpreisen das Morden und kündigen
Fortsetzungen an. Und prompt werden jedesmal zaghaft geknüpfte
Kontakte suspendiert: Scharon sagte gestern zunächst seine Reise
nach Washington ab und berief für den Abend das Kabinett zu einer
Dringlichkeitssitzung ein. Sein Büro erklärte, Scharon wolle
angesichts der Attentate Israel nicht verlassen – und forderte Abbas
auf, gegen die palästinensischen Terrormilizen vorzugehen.
In der israelischen Regierung gelten die Anschläge
als Indiz dafür, dass Abbas, der in der palästinensischen
Bevölkerung über keinen Rückhalt verfügt, selbst vier Wochen nach
seinem Amtsantritt noch immer nicht mit der Entwaffnung der
Terrorgruppen begonnen habe. Dass ausgerechnet wenige Stunden vor
dem Gipfeltreffen in Jerusalem Saeb Erekat zurücktrat, der bislang
als palästinensischer Chefunterhändler an allen Verhandlungen
teilgenommen hatte, gilt als weiterer Beleg für den aussichtslosen
Kampf Abbas’ gegen den Terror in den eigenen Reihen – und gegen die
Allmacht Jassir Arafats. Innerhalb von zwölf Stunden verübten
palästinensische Terroristen vor und nach dem Gipfeltreffen vier
Attentate. Der Anschlag auf das jüdische Siedler-Ehepaar kurz vor
dem Scharon-Abbas-Gespräch hatte besonders große Abscheu ausgelöst.
Die Frau war schwanger gewesen, ihr Baby konnte nicht mehr gerettet
werden. Kurz nach dem Bus-Attentat sprengte sich ein weiterer
Palästinenser im Osten Jerusalems offenbar vorzeitig in die Luft –
und tötete sich selbst.
Wie gespalten die israelische Gesellschaft ist,
lies sich vor Scharons Jerusalemer Amtssitz ablesen, in dem er mit
Abbas drei Stunden lang über den Friedensfahrplan des
Nahost-Quartetts konferierte. Hundert Mitglieder der israelischen
Friedensbewegung "Peace now" forderten ein Ende der israelischen
Besatzung und eine Evakuierung aller jüdischen Siedlungen im
Westjordanland und im Gaza-Streifen. Nur wenige Meter von den Linken
entfernt demonstrierten aufgebrachte jüdische Siedler und verlangten
einen Abbruch des ersten hochrangigen Treffens eines israelischen
Premiers seit fast drei Jahren. Kurz vor Beginn der Intifada im
September 2000 hatte der damalige Premier Ehud Barak Jassir Arafat
in seinem Privathaus in Kochav Jair empfangen und mit Küsschen
verabschiedet. Vier Tage später war die Intifada ausgebrochen.
hagalil.com
19-05-03 |