So viel Lava, so viel Gestein
VERLETZTE SEELEN
Notizen über einen Familienbesuch in Israel
Rodika Mandel
Seit Monaten forderte mein Mann mich auf, wir sollten
endlich wieder zu den Verwandten nach Israel fahren, wir seien schon
viel zu lange nicht mehr dort gewesen. Bei Anrufen aus Tel Aviv endete
jedes Gespräch mit der Frage, wann kommt ihr wieder? Ich konnte nicht
gut erklären, dass mich die Angst zaudern ließ - Angst wegen der
Bombenanschläge, der Attentate, der Sirenen, der Nachrichten in den
Medien. Meine Familie in Israel muss jeden Tag damit leben und nicht wie
ich nur mit den Bildern. Fast könnte ich sagen, dass ich an schreckliche
Angst gewöhnt bin. Sie hat mich oft in meinem Leben begleitet, obwohl
ich nicht im Budapester Ghetto war wie meine Mutter und keine
Zwangsarbeit leisten musste, wie mein Vater während der Nazizeit.
Gottseidank gibt es eine allmächtige Lebensenergie, die
mich dann doch verreisen ließ - und so waren wir für einen Monat in
Israel. In einem Land, in dem diesmal so vieles anders war, als ich es
kannte.
Ich empfinde Trauer über das Trauerspiel meines Volkes,
wie ich es jetzt erlebt habe. Trauer über diesen Berg, der so viel Lava
und Gestein ausspuckt, jeder Brocken bereit, mich zu erschlagen, und
wenn jemand neben mir steht, den gleich mit. Dieser Vulkan, der nicht
nur in mir, sondern in ganz Israel ausgebrochen scheint, der die Araber
vertrieben hat, das Vertrauen erschlägt und nur Asche und öden Hass
hinterlässt. Wie soll es Frieden geben, wenn auf beiden Seiten Vulkane
tätig sind, wenn Menschen sterben, deren tote Seelen in der Luft zu
spüren sind und keine Entspannung zulassen? Zwar feiert man in der
Familie und in Freundeskreisen, trifft man sich wie in jeder Woche am
Sabbat zum gemeinsamen Essen und fühlt sich wohl. Doch in dem
Augenblick, da man sein Zuhause verlässt, ist eine unglaubliche
Anspannung zu spüren. Wenn du in den Bus einsteigst, schaust du den
Leuten genau ins Gesicht - ist das ein Araber, ein Selbstmörder, der mit
dir fährt? Solltest du an der nächsten Station aussteigen? Hat
vielleicht deine letzte Stunde geschlagen?
Ich verbringe einen Tag am Toten Meer, steige entspannt aus dem Hotelpool,
da begegnen mir die ersten Männer im Rollstuhl. Schöne, dunkeläugige,
kräftige Männer. Einer hat ein kleines Mädchen auf seinen Beinen sitzen,
das mit ihm herumgefahren wird. Kinder sind kreativ, können dem Leben
wunderbare Seiten abgewinnen. Sie sind so hilfsbereit - sie können Nähe,
Lustigkeit und Vergessen spenden.
Am Frühstücksbüffet bedient eine junge Frau ihren Mann. Wie gut sie es
haben: Zwei Wochen im Jahr bezahlt die israelische Krankenkasse den
Verletzten einen Aufenthalt in diesem Hotel bei Anwendung all der
Gottesgaben des Toten Meeres. Der Schwefel, die Salze, das Klima lindern
die Schmerzen. Und für den Rest des Jahres, wie leben sie da, die
einstigen Soldaten, diese lebenshungrigen Männer mit ihren amputierten
Beinen und Armen? Was tun die Kinder, wenn der eigene Vater zum
hilflosen Kind wird? Wenn er nicht mehr das Frühstück vorbereiten kann,
nicht mehr mit ihnen um die Wette läuft und gewinnt?
Abends in der Hotelbar beobachte ich einen Vierjährigen. Er rempelt die
Leute an, tritt seine Schwester im Rhythmus der Musik. Er scheint
ausgesprochen musikalisch. Er hat die Schwingungen in sich, kann die Wut
gegen das Leben wenigstens gegen die große Schwester auskosten. Die
wirkt ein wenig hilflos: soll sie sich vor allen Leuten schikanieren
lassen - wie viel soll sie hinnehmen? Wie gut, dass man tanzen kann,
dass man lebt. Der Vater schaut vom Rollstuhl aus zu. Ist er dankbar,
dass er überlebt hat? Oder findet er das Leben, das bleibt, ungerecht,
weil es ihn so behandelt? Ihn, der einmal so gern getanzt hat?
Immer ist für mich in diesen Tagen der Terror der arabischen Fanatiker
präsent. Ob ich im Pool schwimme und zuschaue, wie ein junger Mann mit
einer Hebeeinrichtung in den Pool gehoben und später wieder
herausgezogen wird. Während der stündlichen Fernsehnachrichten bei
meinen Verwandten. (Schon am frühen Morgen läuft der Fernsehapparat.)
Oder im Bus, wenn der Fahrer Radio hört, vollaufgedreht, damit alle
dabei sein können, wenn es wieder eine Horrornachricht gibt und alle
hilflos und wütend zuhören.
Wie lebt meine Cousine damit, dass ihre beiden Söhnen jetzt, da sie die
Wehrpflicht unbeschadet überstanden haben, wieder für mindestens eine
Woche im Monat verschwinden? Wie schafft sie es, zur Arbeit zu gehen,
zum Friseur, mit den Nachbarn zu reden, mit den Freunden Karten zu
spielen? Ist es das Gehaltenwerden durch die anderen, die ein ähnliches
Schicksal haben, und mit denen man pokert? Was kann eine Mutter tun,
wenn sie ihren Sohn so bedroht fühlt wie jetzt? Kann man sich bei dieser
Angst wirklich noch gegenseitig helfen?
Die Mutter meiner Cousine war in Auschwitz. Jede Energie, die ihr damals -
in den Jahren des Lagers - blieb, war nur auf das Überleben gerichtet.
Wie geht sie jetzt mit der Gefahr für ihre Enkelkinder um? Den Jüngeren
verwöhnt sie mit einem Schnitzel, während der Rest der Familie mit einem
Omelett auskommen muss - sie mixt ihm einen Bananen-Shake, weil er so
wenig isst. Dabei ist er 19 und beherrscht so manchen Handgriff an der
Waffe. Du bekommst alles, was du willst, nur bleib am Leben, komm gesund
wieder, damit ich dir wieder ein Milch-Shake mixen machen kann. Jeder
Streit ist verziehen, wenn er geht.
In Berlin ruft meine Freundin an: Bist du erkältet aus Israel zurück
gekommen? War das Wetter nicht schön? - Was soll ich ihr sagen? Dass
meine belegte Stimme nicht von einer Erkältung herrührt, sondern vom
Weinen über Israels Kinder? Ich erzähle, was ich erlebt habe, und
beschreibe meine Verwunderung darüber, dass die Familie trotz der
alltäglichen Gefahren zu leben - gut zu leben versteht. Dass sie dort
mit einer Bedrohung leben, die sich - unterschwellig, unhörbar,
unüberwindbar - mit jener alte Erfahrung verbindet, die in ihnen ist und
die sie nicht immer zwischen Realität und Fata Morgana unterscheiden
lässt. Ich erzähle, wie gut sie ihren Alltag beherrschen, dass es
Kichererbsen (Humus) mit Falafel gibt und dass es ihnen oft gelingt, die
Angst in Trotz und Wut zu verwandeln, um über die Schmerzen der anderen
Seite hinwegzugehen und das Land zu verteidigen.
Ich erzähle, dass mich ein solches Leben schmerzt, weil es so viel
Ungerechtigkeit in sich trägt und mich meine Ohnmacht spüren lässt.
Dieses tiefe Gefühl, hilflos zu sein, hatte meiner Mutter im Ghetto das
Leben gerettet, als sie sich vor den SS-Leuten in einem Hauseingang
versteckt hielt und ihnen nicht trotzig entgegentrat. Mir aber hat es
bis heute eine Bürde aus Angst auferlegt, ja keinen falschen Schritt zu
tun.
Auf dieser Reise ist mir mehr als jemals zuvor, die Hilflosigkeit bewusst
geworden, in der sich viele Israelis befinden. Der 19-jährige Sohn
meiner Cousine hatte mir eines Tages erklärt: "Mir ist es lieber, mein
Freund bleibt am Leben, als dass ich die besetzten Gebiete halte. In
Jerusalem ist es anders, dort werden wir von ihren Gewehren bedroht
sein, wenn wir nachgeben ..."
Und ich dachte während des Gesprächs, warum sagt ihr nicht, dass ihr keine
Mörder seid, dass ihr auf die Steinewerfer reagiert? Warum sagt ihr
nicht, dass die Soldaten an der Staatsgrenze nicht mit Steinen werfen
können, wenn sie ihr Land verteidigen? Warum sagt ihr nicht, dass ihr
Vorschläge habt für den Frieden, warum hört man so wenig von Euch in den
Medien? Ihr steht da, wie Leute, die anderen etwas weggenommen haben,
und nicht wie solche, die Sicherheit für ihre Kinder und Enkelkinder
wollen. Und ich höre ihre Antworten: "Wir wissen nicht, wie wir es
machen sollen. Wenn wir zu Konzessionen und Verträgen bereit sind,
werden die Forderungen an uns erhöht, dann will die andere Seite immer
mehr - noch mehr von unserer Sicherheit. Und wir wissen nicht, wo ist
die Grenze für sie. Es fehlen uns 2000 Jahre Erfahrung. Wie sollen wir
vertrauen, wenn das Leben uns das nicht gelehrt hat?"
Die Eltern von Rodika Mandel sind Opfer des Holocausts, haben Deportation
und Zwangsarbeit überlebt und gingen 1945 nach Israel. 1962 übersiedelte
die Autorin nach Deutschland und unterrichtete später als Studienrätin
Französisch und Geschichte an einem Gymnasium in Berlin. Heute arbeitet
sie als freie Autorin.
haGalil onLine 14-02-2002 |