MEMRI Special Dispatch -
5. August 2003
Syrischer Kolumnist
Hashem Saleh:
Reformprozesse in Europa und der
arabischen Welt
Der
in Paris lebende syrische Denker und Kolumnist Hashem Saleh beschäftigt
sich immer wieder mit Geschichte und Gegenwart von Reformprozessen. Vor
dem Hintergrund der europäischen Geschichte prognostiziert er der
arabischen Welt langwierige und heftige Auseinandersetzungen.
Überkommene Gewissheiten, so Saleh, müssen dekonstruiert und abgebaut
werden, um neuen Entwicklungen Platz zu machen. Mit Blick auf den
Irakkrieg hatte Saleh bemerkt: "Eine Entwicklung, für die der Westen
zweihundert Jahre gebraucht hat, kann in der arabischen und islamischen
Welt nicht plötzlich eine Sache von ein paar Jahren oder Jahrzehnten
sein." Der folgende Text erschien in der in London herausgegebenen
Zeitung Al-Sharq al-Awsat am 25. Juli 2003:
Wann sieht die arabische
Welt Licht am Ende des Tunnels?
Von Hashem Saleh
Als fundamentalistische
Strömung betrachte ich nicht nur jene streng-religiösen Bewegungen, die
sich an die Theologie des Mittelalters und eine traditionelle Auslegung
der Religion klammern. Fundamentalistisch ist vielmehr auch die
rechts-extreme arabische Strömung, die sich auf rassistische Theorien
stützt - wie etwa die extreme Rechte in Frankreich, Deutschland und
Italien oder ganz allgemein die europäische faschistische Rechte.
Als modernisierende
Strömung verstehe ich auf der anderen Seite all jene neuen aufsteigenden
Kräfte, die von einer anderen Zukunft träumen - einer Zukunft, die auf
der Philosophie der Menschen- und Bürgerrechte aufbaut wie sie in den
fortgeschrittenen europäischen Staaten verwirklicht worden ist. Diese
Philosophie entwickelte sich in Europa nach der Renaissance,
insbesondere nach dem Zeitalter der Aufklärung. Am Ende führte sie zur
Entstehung des modernen demokratischen Staats von Recht und Gesetz,
religiöser Toleranz, Meinungs- und Gewissensfreiheit sowie der
Gleichheit aller seiner Kinder - ungeachtet deren rassischer,
konfessioneller oder ideologischer Provenienz.
Allerdings ruft allein die
Thematisierung solcher Fragen [in der arabischen Welt; d.Ü.] schon Angst
und Schrecken hervor. Warum? Weil klar wird, dass eine tiefe Kluft
zwischen den Bedingungen besteht, in denen wir leben und denen, in denen
wir leben sollten. Und weil es heißt, dass in der arabischen Welt ein
heftiger Kampf zwischen diesen beiden Strömungen toben wird - wenn er
nicht schon begonnen hat. Was auch bedeutet, dass der Moment der
Befreiung, also jener Augenblick, in dem wir am Ende eines dunklen
Tunnels ins Licht treten, noch fern ist. Denn wenn wir die europäische
Geschichte betrachten, erkennen wir, dass dieser Zweikampf auch in
Europa erst nach heftigen und mindestens zweihundert Jahre währenden
Kämpfen beendet werden konnte.
Sollen nun die arabischen
Völker - und nach ihnen auch alle islamischen Gesellschaften -
zweihundert Jahre lang warten, bis ihr Problem gelöst ist und sie
sicheren Boden betreten? Natürlich nicht. Aber es wäre ein Irrtum, zu
glauben, dass es leicht werden und einem kurzen Spaziergang durch ein
Tal voller Blumen gleichen wird. Schließlich steht uns das Wichtigste
noch bevor. Darum kann ich mich auch nur über die Vermessenheit (...)
solcher Zeitgenossen wundern, die die Arabische mit der Europäischen
Union [Einheit] vergleichen und sich darüber wundern, wie Erstere
scheitern und Letztere Erfolg haben konnte!
Dieser Vergleich ist von
Grund auf falsch (...). Denn die europäischen Völker sind entwickelte
und vernunftgeleitete Völker, die wissen, was sie wollen und was nicht.
Und vor allem: Sie sind emanzipierte Völker, befreit von allen
Überresten der finsteren Vergangenheit und mittelalterlicher
Geisteshaltung. Allerdings brauchte es zu dieser Befreiung vier
Jahrhunderte und mehrere theologische, wissenschaftliche, philosophische
und nicht zuletzt politische Revolutionen. Die europäischen Völker
kennen die Bedeutung von religiöser Reform und theologischer Befreiung:
Es ist die Befreiung von all den überkommenen Dogmen, welche die
Mentalität der Christen im düsteren Mittelalter prägten.
Können wir das auch über
die islamischen bzw. arabischen Gesellschaften sagen? Zweifelsohne
können wir seit den Tagen des großen Muhammad Ali bis heute auf einige
Entwicklungen und Errungenschaften verweisen. Zweifellos gibt es
aufgeklärte und vernunftgeleitete Segmente in der arabischen Welt. Aber
soziologisch betrachtet liegt das zahlenmäßige Übergewicht noch immer
auf Seiten der fundamentalen Kräfte, die uns eng an die Vergangenheit
binden und an das menschliche Sein und an Gemeinschaftsgefühle
appellieren - so wie es die extreme Rechte in der ganzen Welt tut. Und
diese Gemeinschaftsgefühle sind tief im arabischen und islamischen
Bewusstsein verwurzelt und verankert.
Deshalb meine ich, dass der
Kampf lang und schwer, ja sogar brutal sein wird. Bevor er politisch
gewonnen werden kann, muss er zunächst intellektuell gewonnen werden.
Und er wird intellektuell nur erfolgreich sein, wenn wir den Dingen
wirklich auf den Grund gehen. Denn wenn sich die arabischen Parteien
jetzt an die Geschichte klammern oder den Kopf in den Sand stecken,
zeigt sich in solchen Strategien ihr verheerendes Scheitern. Vor unseren
Auge gehen sie zur Zeit zugrunde. Das Denken der Zukunft hingegen, das
sich demnächst entwickeln wird, muss sich der Realität zuwenden, statt
dieser von oben eine blinde Ideologie überzustülpen, die mit der
Realität nichts zu tun hat! Das Denken der Zukunft wird - zumindest in
der ersten Phase - dekonstruktiv [fragmentierend, auflösend,
analysierend; d.Ü.] und nicht vereinheitlichend [vereinigend,
zusammenfassend, synthetisierend] sein.
Die arabische Geschichte
bewegt sich derzeit in Richtung Spaltung und Zerfall - ganz im
Gegenteil zum aktuellen europäischen Geschichtsverlauf. Da brauchen wir
uns über den Erfolg der europäischen und das Scheitern der arabischen
Union nicht zu wundern. Es gibt objektive Gründe für dieses Scheitern -
und ich gehe so weit zu behaupten, dass die einzige Befreiungsbewegung
in der arabischen Welt derzeit die dekonstruktive Bewegung ist. Warum?
Weil sich die Realität Ausdruck verschaffen, ja herausplatzen möchte -
nach all der Verdrängung, den ideologischen Lügen und hohlen Parolen.
Lassen wir also die
Realität sprechen, lassen wir all das Verdrängte ausbrechen (...). Erst
dann werden wir erkennen, was wir machen können und was nicht. Bis dahin
aber rennt jeder, der die dekonstruktive Bewegung im Namen von
"Patriotismus", "Nationalismus" oder anderer leerer Parolen bremst,
gegen den derzeitigen Lauf der Geschichte.
Man muss wissen, dass das
wie ein politisches Wunder erscheinende europäische zivilisatorische
Projekt, auf zwei Bewegungen basierte: der dekonstruktiven und der
konstruktiven [aufbauenden] Bewegung. Zunächst erfolgte die
Dekonstruktion aller althergebrachten und felsenfest im Bewusstsein
verankerten Vorstellungen und Dogmen. Das europäische Bewusstsein trat
zu jener Zeit in eine Phase der schrecklichen Zerrissenheit, der
Konfessions- und Religionskämpfe ein - ganz so wie es heute in der
arabischen bzw. islamischen Welt der Fall ist. Die intellektuelle
Auseinandersetzung wurde äußerst brutal geführt, so dass der Großteil
etwa der französischen Philosophen entweder im Exil oder im Gefängnis
war, Publikationsverbot erhielt oder ihnen mit dem Tod gedroht wurde.
Dies ließ den Wert dieser Zivilisation, die uns heute so strahlend
erscheint, enorm steigen. Sie fiel [den Europäern] aber nicht als
Geschenk des Himmels in den Schoß. (...)
Dann, nachdem sie ihre
Rechnungen beglichen und alle falschen Bilder voneinander abgebaut
waren, die Katholiken dazu brachten, Protestanten abzuschlachten und
umgekehrt - erst dann begann die Phase des Aufbaus und der Vereinigung
auf einer völlig neuen Grundlage. Zu dieser Zeit kristallisierte sich
die moderne humanistische Philosophie heraus, auf die heute alle Völker
der Erde verpflichtet sind, die selbst aber erst nach der Dekonstruktion
der ganzen mittelalterlichen Theologie sichtbar wurde - Stein für Stein
und Mauer um Mauer. Vor diesem Hintergrund sage ich, dass im Laufe des
fortschreitenden zivilisatorischen Projekts die Dekonstruktion der
Konstruktion vorausgeht.
Wir sind also in die
dekonstruktive Bewegung eingetreten, deren Anfang ich sehen kann, nicht
aber ihr Ende. Ihr Platz ist die Realität, die nach all den
Verdrängungen aus tiefsten Tiefen explodiert und in aller Deutlichkeit
spricht. Das mag uns anfänglich überraschen und schockieren, aber es ist
unvermeidlich. Und was jetzt noch hinter verschlossenen Türen gesprochen
wird, das wird eines Tages in der Öffentlichkeit auftauchen.
Die erstarrte und
abgenutzte, aus vorgeschichtlicher Zeit zu stammen scheinende Sprache
der arabischen politischen Parteien hat ihre Glaubwürdigkeit verloren
und überzeugt niemanden mehr. Doch aus ihren Trümmern wird eine neue
Sprache entstehen: eine Sprache geprägt durch Aufrichtigkeit, Klarheit
und Transparenz. Das arabische zivilisatorische Projekt wird sich nicht
auf der Basis von Demagogie, Lüge und List erheben. Denn kein
zivilisatorisches Projekt entstand je auf etwas Anderem als dem Konzept
von Recht und Wahrheit. Wenn das vergessen oder nicht beachtet wird,
dann verschwinden und vergehen die Kulturen. Der beste Beweis dafür ist
die arabisch-islamische Kultur, die in ihren Anfängen und auf ihrem
Höhepunkt während der ersten sieben Jahrhunderte der islamischen
Zeitrechnung zu den großartigsten Zivilisationen gehörte und dann - nach
dem Tod der Philosophie in der islamischen Welt - Stück für Stück
einging.
In den kommenden Jahren
werden gewichtige Grundgewissheiten in der arabischen Welt
zusammenbrechen, sie werden ausgehöhlt und aufgelöst werden. An ihre
Stelle werden neue Wahrheiten treten, die auf philosophischer und
wissenschaftlicher Vernunft beruhen. Denn Verbesserungen beginnen an den
Wurzeln (...). Wenn wir nicht zu den Wurzeln der Krankheit vorstoßen,
dann können wir sie auch nicht heilen und von ihr genesen. Ja, der
historische Kampf um Offenheit in der arabischen Welt ist ausgebrochen -
und er wird so bald nicht zu Ende gehen...
THE MIDDLE EAST MEDIA RESEARCH
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