In Syrien probt die kurdische Minderheit den
Aufstand:
Unruhen in Assads Reich
Von Thomas von der Osten-Sacken, Suleymaniah
In Südamerika war ein Fußballspiel vor Jahrzehnten
Anlass eines Krieges, in Syrien löste am 12. März ein Spiel zwischen
einer arabischen und einer kurdischen Mannschaft immerhin die
größten politischen Unruhen aus, die das Land seit über 20 Jahren
erlebt hat. Fans des arabischen Teams skandierten: "Lang lebe Saddam
Hussein!" Woaufhin Fans der kurdischen Mannschaft mit "Lang lebe
Kurdistan" antworteten und den US-amerikanischen Präsidenten
hochleben ließen. So führte ein Fußballspiel, so viel ist bislang
sicher, immerhin zu der ersten Massendemonstration in Syrien, bei
der nicht die Vernichtung Israels oder der USA, sondern eine
Demokratisierung des eigenen Landes gefordert wurde.
Nach den Ausschreitungen in Kameshli verbreiteten
sich die Unruhen in Kürze über ganz Nordostsyrien und erreichten
sogar die Hauptstadt Damaskus. Statuen des Präsidenten Bashir
al-Assad wurden gestürzt, Polizeistationen geplündert, und in
einigen Orten kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen
Kurden und Arabern. Die
syrische Armee verlegte daraufhin Truppen in das Gebiet und
verhängte den Ausnahmezustand. Bislang sollen Angaben von Human
Rights Watch zufolge 40 Menschen getötet worden sein, kurdische
Quellen sprechen von über 100 Toten, Tausende wurden verhaftet.
Amnesty International fürchtet, dass viele von ihnen gefoltert
werden. Auch in den Städten
Aleppo und Damaskus fanden kurdische Demonstrationen statt, wobei in
Aleppo Sicherheitskräfte gewaltsam eine Kundgebung zum Gedenken an
die Giftgasattacken auf die irakisch-kurdische Stadt Halabja
auflösten und in die Menge schossen. Die Unruhen entluden sich
ebenfalls in Übergriffen auf arabische Syrer. Schon sprechen
syrische Oppositionsparteien von einem nationalen Aufstand, während
die syrische Regierung die Ereignisse als Provokation ausländischer
Agenten herunterspielt. Seit
längerem schon häufen sich in Syrien Unmutsäußerungen über die
Politik der diktatorisch regierenden Ba'ath-Partei. In den syrischen
Kurdengebieten ist das Regime besonders unbeliebt. In Syrien leben
zwischen 1,5 und zwei Millionen Kurden, mehr als 250 000 wird seit
den sechziger Jahren die Staatsbürgerschaft vorenthalten, die ihnen
im Rahmen einer Arabisierungspolitik entzogen wurde. Anders als im
Irak oder im Iran erkennt die syrische Regierung die Kurden nicht
als nationale Minderheit an.
Seitdem der benachbarte kurdische Nordirak, der sich seit 1991 einer
weitgehenden Selbstverwaltung erfreut, nach dem Sturz Saddam
Husseins in der neuen irakischen Übergangsverfassung offiziell als
föderaler Bestandteil einer demokratischen Republik Irak anerkannt
ist, gärt es auch in den kurdischen Gebieten des Iran und Syriens.
Mit Großdemonstrationen wurde die neue irakische Verfassung in den
kurdischen Gebieten des Iran gefeiert. Seitdem hat die Armee dort
den Ausnahmezustand verhängt.
Fast scheint es, als ginge ein Jahr nach dem Beginn der dritten
Golfkrieges der Plan der US-amerikanischen Neokonservativen früher
auf als erwartet. Ein Sturz Saddam Husseins führe, so argumentierten
sie, notwendig zu einer Destabilisierung der diktatorisch regierten
Nachbarländer. Nun könnten die Ereignisse in Syrien, aber auch im
Iran der Beginn des erhofften Dominoeffektes sein.
Nur ist man in den USA nicht recht glücklich über die
Dynamik. Denn die US-Amerikaner sind vollkommen mit dem Irak
ausgelastet. So erklärte ein Vertreter der Coalition Provisional
Authority (CPA) im Nordirak, man begrüße zwar jede demokratische
Bewegung im Nahen Osten, nur kämen die Demonstrationen in Syrien gut
ein Jahr zu früh. Obgleich die
US-Regierung droht, Sanktionen gegen Syrien zu verhängen – mit der
Begründung, die Regierung in Damaskus unterstütze weiter
Terrororganisationen wie Hamas und Hizbollah –, scheint eine
Mehrheit in Washington insgeheim zu hoffen, dass Bashir al-Assad
nachgibt. Denn die US-Administration verfügt über keinerlei
konsistenten Plan, was ansonsten mit Syrien geschehen solle.
Offen sogar opponiert die CIA gegen etwaige
Umsturzpläne, da sie die Kooperation im "Krieg gegen den Terror" mit
dem Assad-Regime sucht, während Teile des Außenministeriums
fürchten, die Lage in Syrien könne außer Kontrolle geraten, das Land
in einem ethnischen Bürgerkrieg versinken.
Unklar ist, inwieweit es in Syrien tragfähige
Alternativen zum herrschenden Regime gibt. Zwar ist die
Unzufriedenheit mit dem korrupten Ba'ath-Regime in Damaskus groß,
zugleich aber ließen viele Syrer sich in der vergangenen Zeit noch
immer mit antiamerikanischen und antiisraelischen Parolen
mobilisieren. Und einige
syrische Oppositionelle fürchten, dass momentan eine
Destabilisierung vor allem den Islamisten in die Hände spielen
könnte. 1983 ließ der Vater des amtierenden Präsidenten einen
Aufstand der Muslimbrüder in der Stadt Hama blutig niederschlagen;
über 20 000 Menschen kamen damals ums Leben. Seitdem aber haben
islamistische Kräfte sich reorganisiert, und im Norden des Landes
bestimmen inzwischen vollkommen verschleierte Frauen das Stadtbild.
Obgleich es im Interesse des Regimes liegt, vor einer islamistischen
Gefahr zu warnen – sollte die herrschende Partei gestürzt werden,
kann ein solches Szenario nicht ausgeschlossen werden.
Ein syrischer Intellektueller schätzte gegenüber der
US-amerikanischen Zeitung Knight Rider, dass bei freien Wahlen die
Ba'ath-Partei fünf bis zehn Prozent, die Islamisten 30 und
unabhängige Kandidaten 60 Prozent der Stimmen gewinnen könnten.
Jedoch stehen die syrischen Oppositionskräfte erst am Beginn einer
effektiven Zusammenarbeit.
Vertreter verschiedener syrischer Oppositionsparteien erklärten in
den vergangenen Tagen den aufständischen Kurden ihre Solidarität in
der Hoffnung, der Funke springe aus dem Norden auf andere
Bevölkerungsgruppen über. Sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen,
sondern sich der Konflikt ethnisieren, würde er der angeschlagenen
syrischen Regierung helfen, die einmal mehr den panarabischen
Nationalismus ausrufen und die Araber hinter sich sammeln könnte.
Spätestens seit die irakischen Kurden sich gegen Saddam Hussein mit
den USA verbündet haben, gelten in panarabischen und islamistischen
Kreisen Kurden als "Agenten des Zionismus", "fünfte Kolonne des
Imperialismus" oder einfach als ungläubige Teufel.
Die syrischen Kurdenparteien im Exil betonen nun,
dass sie wie die Kurden im Irak keinen eigenen Staat anstrebten,
sondern lediglich für Demokratie und Föderalismus und gegen die in
Islamismus und Panarabismus liegenden Ursachen des Terrorismus
kämpfen. "Die Mörder in Madrid sind die gleichen wie die Mörder in
Kameshli", schreibt Kamal Mirawdeli in Kurdish-Media. "Sie
entstammen der gleichen auf Barbarei, Despotismus und Hass auf
Freiheit, Pluralität, Gleichheit und Toleranz fußenden Kultur."
Im kurdischen Nordirak, wo seit Tagen Tausende ihre
Solidarität mit den syrischen Kurden bekunden, hofft man, dass die
Ereignisse in Kameshli der Anfang vom Ende der Assad-Diktatur sind.
"Ohne die Kurden würde es im Irak keine umfassende Debatte über
Demokratie, Menschenrechte und Föderalismus geben", erklärt einer
der Demonstranten auf dem Campus der Universität Suleymaniah. "Wir
verlangen für die Kurden in Syrien, im Iran und der Türkei die
gleichen Rechte wie für uns."
So könnte sich das Fußballspiel in Kameshli als weiterer Markstein
auf dem Weg zu einem "neuen Nahen Osten" erweisen oder der Beginn
eines ethnisierten Bürgerkrieges und der Libanonisierung Syriens
sein. Oder aber es gelingt den syrischen Sicherheitskräften, mit
Gewalt die Unruhen zu unterdrücken und die Friedhofsruhe wieder
herzustellen, die seit Jahrzehnten in Syrien herrscht.
Erschienen in:
Jungle World - 24.
März 2004
hagalil.com
26-03-2004 |