Wahhabismus in der Kritik:
Riss im Hause Saud
Im saudischen Establishment schwelt
ein Machtkampf. Al-Qaida versucht, ihn zu radikalisieren
Von Thomas von der Osten-Sacken
Jungle World,
18.02.2004
US-Vizeaußenminister Richard Armitage sagte nur die halbe Wahrheit,
als er im vergangenen Herbst nach einem verheerenden
Selbstmordattentat in der saudischen Hauptstadt Riad warnte,
al-Qaida verfolge das Ziel, "die Herrscherfamilie und die Regierung
von Saudi-Arabien zu stürzen". Denn auch wenn al-Qaida ihren Terror
in Saudi-Arabien intensiviert, verfügt das Netzwerk zugleich über
exzellente Kontakte zu einflussreichen Kräften innerhalb des
saudischen Establishments, die es weiter fördern und unterstützen.
Es geht al-Qaida weniger um eine Beseitigung der wahhabitischen
Regierung in Saudi-Arabien als darum, bestehende Fraktionskämpfe
innerhalb des Establishments zu radikalisieren.
Längst tobt in dem Land, dessen König Fahd seit 1995
durch einen Herzinfarkt politisch ausgeschaltet ist, ein Machtkampf
nicht nur um die Thronfolge, sondern um die politische Zukunft des
Landes. Saudi-Arabien befindet sich in einer ökonomischen
Dauerkrise. Wie zuvor im benachbarten Irak funktioniert das Modell
eines auf Abschöpfung und Verteilung der Ölrente basierenden
repressiven Wohlfahrtsstaates nicht mehr: Das jährliche
Pro-Kopf-Einkommen fiel in den vergangenen Jahren von 15 000 auf 9
000 US-Dollar, inzwischen ist Schätzungen zufolge jeder fünfte Saudi
arbeitslos. Die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung wächst,
und während auf der einen Seite der Ruf nach Reformen und
Demokratisierung lauter wird, radikalisiert sich auf der anderen
Seite das wahhabitische Establishment.
Innerhalb des Herrscherhauses, einer 7 000köpfigen
Prinzengarde, spiegelt sich diese Polarisierung der Gesellschaft in
einem Machtkampf wieder, der sich vor allem zwischen dem über
80jährigen Kronprinzen Abdullah und dem nur Jahre jüngeren
Innenminister Prinz Nayef abspielt. Während Abdullah sich für eine
vorsichtige Öffnung des Landes stark macht, nähert sich Nayef immer
weiter dem die Politik in Saudi-Arabien maßgeblich beinflussenden
Rat der Kleriker, der Ulema, an. Nayef unterstützt nicht nur
öffentlich den weltweiten Jihad, nach dem 11. September 2001 hatte
er auch al-Qaida in Schutz genommen, indem er die Attentate als
"zionistische Verschwörung" bezeichnete.
Für die von Prinz Nayef gestützte Ulema handelt es
sich beim "War on Terror" um einen in New York und Tel Aviv
ausgeheckten und mit Hilfe von Juden, Atheisten und Schiiten in die
Tat umgesetzten Generalangriff auf den wahren sunnitischen Islam,
als dessen Vertreter sich die ideologischen Erben Abdul Wahhabs
sehen, der im 18. Jahrhundert eine strikt fundamentalistische Lehre
entwickelte. Man glaubt sich in einer apokalyptischen
Entscheidungsschlacht, die entweder zum globalen Sieg des Islam oder
zu seiner endgültigen Niederlage führen werde. Für den
wahhabitischen Klerus ist "Widerstand" gegen die "Ungläubigen" in
Irak und Afghanistan ebenso Pflicht wie die Unterstützung des
palästinensischen Jihads.
Al-Qaida und Prinz Nayef sind sich in ihrer Stoßrichtung weitgehend
einig, die auf die "Moderaten" um Kronprinz Abdullah zielt, der seit
längerem unter dem Schlagwort "Taqarub" (Öffnung) eine vorsichtige
Liberalisierung und Demokratisierung des Landes ohne Aufgabe der
"islamischen Identität" anstrebt. Weniger aus Überzeugung als aus
Angst vor internationaler Isolierung, die Saudi-Arabiens ökonomische
Krise weiter verschärfen könnte, rief Abdullah im vergangenen Jahr
zum nationalen Dialog und traf sich sogar mit Vertretern der
verfemten schiitischen Minderheit. Die dysfunktionalen
Schulcurriculae des Landes, die zu 70 Prozent aus wahhabitischer
Indoktrination bestehen, sollten geändert, der Einfluss des Klerus
beschnitten werden. Frauen und Nichtmuslime wollte Abdullah in
gesellschaftliche Entscheidungsprozesse einbeziehen und
außenpolitisch das Land von seinem Ruf befreien, vornehmlich
wahhabitische Terrororganisationen zu finanzieren. Dies schließt den
Dialog mit Schiiten, US-Amerikanern und selbst Israelis ein.
Diese Pläne Abdullahs stießen bei anderen Teilen des
saudischen Establishments auf radikale Ablehnung. Neben dem
Innenminister gilt Verteidigungsminister Prinz Sultan als Hardliner.
Beide favorisieren das der "Öffnung" entgegengesetzte wahhabitische
Konzept des "Tawhid". Tawhid steht für die Reinhaltung der
wahhabitischen Lehre, für Jihad und gnadenlosen Kampf gegen alle
inneren und äußeren Feinde des Islam. Es ist letztlich jenes
Konzept, dem sich sowohl die Taliban als auch al-Qaida verpflichtet
fühlen. Mit der Taktik, ihren
Terror, flankiert von einer Propagandaoffensive in ihr
wohlgesonnenen Medien, zunehmend auch nach Saudi-Arabien zu
verlegen, zielt al-Qaida auf eine Zuspitzung dieser
Auseinandersetzung. Nayef als Innenminister ist gezwungen, immer
öfter gegen die Terroristen vorzugehen. Zugleich signalisiert
al-Qaida ihre Bereitschaft, den Terror einzustellen, sollte
Saudi-Arabien zur reinen Lehre des Wahhabismus zurückkehren. Dies
erfordere eine Ausschaltung der Reformkräfte im Land, die
"Annihilierung" der Schiiten und ein Ende jeder Liberalisierung.
Gewissermaßen verlangt al-Qaida damit vom saudischen
Königshaus nur, wofür dieses jahrzehntelang im Ausland eintrat. Denn
so, wie der Iran sich nach Khomeinis Machtergreifung als Agentur der
schiitischen Revolution definierte, verstanden die Saudis sich als
Zentrale des wahhabitischen Islam. Über eine Unzahl undurchsichtiger
Stiftungen und Wohlfahrtseinrichtungen finanzieren die Saudis auf
der ganzen Welt den Bau von Moscheen sowie Koranschulen und
unterstützen Familien von palästinensischen "Märtyrern" ebenso wie
den Jihad in Tschetschenien oder Afghanistan. Nach saudischen
Angaben sind in den vergangenen 20 Jahren auf diese Weise über 70
Milliarden US-Dollar an "Hilfsgeldern" an islamische Brüder
geflossen. Entsprechend meldet die US-amerikanische Armee, dass sich
unter getöteten Terroristen im Irak immer mehr mit saudischen
Papieren befänden. Seit 1979
befand sich der wahhabitische Islamismus auf dem Vormarsch, während
seine ideologischen Konkurrenten in der arabischen Welt, Kommunismus
und arabischer Sozialismus, an Attraktivität einbüßten. Dabei gelang
Saudi-Arabiens Establishment das Kunststück, als enger, vermeintlich
gemäßigter Alliierter von den USA Protektion zu erhalten und
zugleich gesellschaftliche Unzufriedenheit zu exportieren.
Der "War on Terror" beendete diese Konstellation: In
Afghanistan wurde mit den Taliban ein erklärt wahhabitisches Regime
beseitigt, der Sturz Saddam Husseins ist ein schwerer Schlag gegen
den sunnitisch dominierten Panislamismus. Überdies fürchtet nun das
saudische Establishment einen wachsenden Einfluss der Schiiten im
Irak, der zu einer Stärkung der schiitischen Minderheit im eigenen
Land führen könnte. Schiiten sind der wahhabitischen Lehre zufolge
keine Muslime, sondern Abkömmlinge einer von Juden gegründeten
Sekte, die mit den "Kreuzfahrern" gegen die reine Lehre des Islam
konspiriert. Der Wandel der
Nahostpolitik der USA, die Saudi-Arabien ihre Unterstützung mehr
oder weniger entzogen haben – das Land wird zudem seit der Besetzung
des Irak als Militärstützpunkt am persischen Golf nicht mehr
benötigt –, hat klar gemacht, dass grundlegende Änderungen
bevorstehen. Die zunehmend hysterischen Aufrufe zum Massenmord an
Christen, Juden und Ungläubigen, zum Einsatz von
Massenvernichtungswaffen und zu weltweitem Jihad, die aus
Saudi-Arabiens Moscheen berichtet werden, zeigen deutlich die Panik
der radikalen sunnitischen Islamisten.
Auf der anderen Seite mehren sich kritische Stimmen,
die den Wahhabismus als Herrschaftsideologie in Frage zu stellen
beginnen. So schrieb der Kolumnist Dr. Muhammad Talal Al-Rasheed
kürzlich in der Saudi Gazette: "Wir haben Monster herangezüchtet.
Wir alleine sind dafür verantwortlich zu machen. Wir stellen das
Problem dar, und Amerika ist so wenig die Ursache dafür wie die
Pinguine des Nordpols."
hagalil.com
20-02-2004 |