Das Versagen des geschriebenen Wortes:
Wahrheit und Wahrnehmung
Seit über zehn Jahren berichtet
Amira Hass für die israelische Zeitung "Haaretz" aus dem
Westjordanland und dem Gaza-Streifen. Sie ist für ihre
kompromisslosen kritischen Beiträge in aller Welt bekannt. Sie
selbst lebt in Ramallah, also unter den Menschen, über deren
gefährdetes Leben sie berichtet. Angesichts der politischen
Entwicklung stellte sie sich - und damit ihren Lesern - vor zwei
Wochen eine Frage, die sie nicht nur als Journalistin berührt: Wie
kann man in der israelischen Gesellschaft die Neigung, wegzusehen,
die für die Spirale von Terror und Gegenterror mit verantwortlich
ist, durchbrechen?
Von AMIRA HASS
Hiermit möchte ich ein Versagen eingestehen. Es
geht um das Versagen des geschriebenen Wortes angesichts der
Aufgabe, israelischen Zeitungslesern die Schrecken der
Besatzungspolitik im Gaza-Streifen spürbar zu machen.
Wenn in der Presse berichtet wird, dass
Palästinenser, die am nördlichen oder südlichen Ende des
Gaza-Streifens leben, nicht ans Meer können, bekommt man in der
Regel zu hören: "Sie sind ja auch Terroristen." Wenn etwas über den
Zustand geschrieben wird, in dem manche Viertel im Westen der
Flüchtlingssiedlung von Khan Yunis sind, und wenn man dabei die von
Maschinengewehrsalven und Mörsergranaten durchlöcherten Hauswände
beschreibt, bekommt man zu hören: "Die Palästinenser haben
angefangen."
Und wenn man die Geschichte des fünfzehnjährigen
Jusuf Bashir und seiner Familie erzählt, deren Haus in Dir al-Balah
nur wenige Meter von der Siedlung Kfar Darom entfernt liegt, weshalb
die Armee die oberen Stockwerke konfiszierte und sein Haus in eine
Festung verwandelte - wenn man diese Geschichte in Israel erzählt,
lautet die Reaktion: "Es bleibt uns ja nichts anderes übrig, Kfar
Darom muss geschützt werden, genau so wie die anderen Siedlungen,
Neve Dekalim, Atzmona und Morag."
Wenn hingegen berichtet wird, dass die Soldaten
von dem Militärposten gleich neben Jusufs Haus einem UN-Team die
Genehmigung erteilt haben, Jusufs Familie in der ihr verbliebenen
Erdgeschosswohnung zu besuchen, dann fragt niemand, warum eine
Familie nicht einmal im eigenen Haus einfach die Gäste empfangen
kann, die sie möchte. Vielmehr ist diese Geschichte einmal mehr ein
Beweis dafür, was für nette Menschen die Soldaten sind und wie viele
Risiken sie einzugehen bereit sind. Und wenn man dann liest, dass
einer der Soldaten - ein Offizier, wie ein Sprecher der israelischen
Armee nachträglich mitteilt - auf die Reifen eines "verdächtigen
Fahrzeugs" (das Fahrzeug eben jenes UN-Teams) geschossen habe, dann
wird es diese Schüsse für die Menschen in Israel nie gegeben haben.
Allein die Tatsache, dass in dem Bericht steht,
dass einer dieser Schüsse einen Jungen namens Jusuf Bashir in den
Rücken traf, als er den UN-Besuchern zum Abschied nachwinkte, und
dass dieser Junge für den Rest seines Lebens gelähmt bleiben wird -
allein diese Tatsache und das Wort "gelähmt" bewirken
möglicherweise, dass ein paar Leser den Bericht an sich herankommen
lassen. Aber so viele Geschichten über so viele Jusufs werden nie
aufgeschrieben und nie in die Zeitungen gelangen.
Das Eingeständnis, dass das geschriebene Wort
versagt, bedeutet nicht etwa, dass die Fotografie eine größere
Wirkung besäße. Ein Bild mag in der Tat so viel wert sein wie
tausend Worte. Aber um zu begreifen, was die Besatzung ist, müsste
jeder Israeli sich zigtausende von Fotos anschauen, und zwar Bild
für Bild, oder sich lange Dokumentarfilme ansehen (acht Stunden
vielleicht). So könnte er in Istzeit die Angst in den Augen der
Schulkinder ablesen, wenn sie ein pfeifendes Geräusch über ihren
Köpfen hören, dem alsbald womöglich der Anblick eines ausgebrannten
Metallgehäuses mit verkohlten Leichen darin folgen wird.
Ein weiterer Film sollte den Betrachtern die
Weingärten von Scheik Ajlin zeigen, die reifen Trauben und die
Bauern, die die Weinstöcke und Olivenbäume über Jahre und Jahrzehnte
mit viel Liebe hochgezogen haben, um nun zu erleben, wie diese von
israelischen Panzern und Bulldozern niedergewalzt werden. Bislang
ist es noch nicht möglich, einen Film zu produzieren, der dem
Zuschauer den Geschmack der Weintrauben von Scheik Ajlin auf die
Zunge treibt. Inzwischen sind die Weingärten verschwunden, damit die
israelischen Militäranlagen Netzarim bewachen können.
Wie könnten Fotos die folgenden Tatsachen
anschaulich machen? Zwischen dem 29. September 2003 und dem 29.
Februar 2004 wurden nach Angaben der israelischen Armee 94 Israelis
getötet, 27 Zivilisten und 67 Soldaten. In ziemlich genau demselben
Zeitraum (allerdings nur bis zum 18. Februar dieses Jahres) wurden 1
231 Palästinenser getötet. Waren sie alle Terroristen? Mangels einer
zentralen Palästinenserbehörde gibt es Abweichungen bei den
Zahlenangaben, die von den verschiedenen palästinensischen Gruppen
gemeldet werden, wobei keine dieser Zahlen Anspruch auf letztgültige
Genauigkeit erhebt.
Die Menschenrechtsgruppe Mezan, die im
Flüchtlingslager Jabalya ihren Sitz hat, hat ermittelt, dass 81
Frauen und 344 Kinder im Alter von unter 18 Jahren im Gaza-Streifen
von der israelischen Armee erschossen wurden. 255 palästinensische
Polizisten und Mitglieder der Sicherheitsdienste wurden entweder in
Ausübung ihres Dienstes oder in ihren Büros getötet, häufig im Zuge
von Kampfhandlungen. 264 der Getöteten waren bewaffnete Männer, die
sich an Kämpfen gegen die israelische Armee beteiligten
beziehungsweise versuchten, militärische Positionen oder Siedler und
Siedlungen anzugreifen. Die gezielten Hinrichtungsaktionen der
israelischen Armee trafen in 46 Fällen die tatsächlich
beabsichtigten Leute. 80 weitere Menschen, die bei diesen
"vorbeugenden Präzisionsschlägen" ums Leben kamen, waren zufällige
Passanten.
Die Unfähigkeit, all dies den Zeitungslesern nahe
zu bringen, rührt nicht etwa daher, dass die Wörter zu schwach wären
oder es keine Fotografien gäbe. Die Unfähigkeit erklärt sich aus der
Tatsache, dass die israelische Gesellschaft sich beigebracht hat,
mit folgenden Tatsachen friedlich zusammenzuleben: Es gibt im
Gaza-Streifen 8 000 Juden und 1,4 Millionen Palästinenser. Die
Gesamtfläche beträgt 365 Quadratkilometer. Davon beanspruchen die
jüdischen Siedlungen 54 Quadratkilometer. Zählt man die Areale
hinzu, die nach den Oslo-Abkommen von der israelischen Armee
beansprucht werden, sind 20 Prozent des Gaza-Streifens unter
israelischer Kontrolle. Das heißt: 20 Prozent des Territoriums für
ein halbes Prozent der Bevölkerung.
Die israelische Armee im Gaza-Streifen hat den
Auftrag, die Sicherheit der Israelis zu schützen, also die
Sicherheit von jenem halben Prozent, das große Flächen des Landes
kontrolliert, Bewegungsfreiheit genießt, sich ökonomisch entwickeln
kann und über ausreichend Trinkwasser verfügt - statt der Salzbrühe,
die man den Palästinensern überlässt. Die israelischen
Militärposten, die den Schutz der Siedler gewährleisten sollen,
liegen innerhalb und direkt neben den Siedlungen; und zwar so, dass
von ihnen aus alle Wohngebiete der palästinensischen
Zivilbevölkerung einsehbar sind.
Der eigentliche Grund, der die große Zahl der -
häufig zivilen - palästinensischen Opfer im Gaza-Streifen erklärt,
liegt darin, dass jede dieser Siedlungen sehr nah an den viel zu
dicht bevölkerten palästinensischen Wohngebieten liegt. Denn diese
Nähe bestimmt die Kampfregeln der israelischen Armee, die Typen der
abgeworfenen Splitterbomben, den Einsatz der unbemannten Fluggeräte,
von denen die Raketen abgefeuert werden. Die operative Logik der
israelischen Armee wird von diesen arroganten, zynischen und
rücksichtslosen Siedlungen diktiert, in denen sich ein paar
privilegierte, satte Leute niedergelassen haben - inmitten der
einzigen Gebiete, die den Palästinensern im Gaza-Streifen noch
geblieben sind.
Eingangs war vom Versagen des geschriebenen Wortes
die Rede. Doch es gibt auch Worte, die sehr wirksam sind. Derzeit
etwa wird viel von "Rückzug" geredet, und dieses Wort ist keineswegs
schwach, sondern allmächtig. Es imprägniert die Art und Weise, wie
die Menschen die Wirklichkeit wahrnehmen. Anstatt dass wir uns mit
den konkreten Geschehnissen der Besatzungspolitik konfrontieren,
geben wir uns zufrieden mit dem vagen Versprechen einer in
irgendeiner Zukunft bevorstehenden Entspannung. Anders gesagt: Das
Wort "Rückzug" wirkt wie eine große Straßensperre: Es verhindert,
dass die Tatsachen die Köpfe der Menschen erreichen. Denn trotz all
des Redens über einen "Rückzug" lässt die israelische Gesellschaft
keine Anzeichen erkennen, dass sie die unmoralische Logik überwinden
möchte, die den Siedlungen ihre Existenzberechtigung immer neu
bestätigt. Und das gilt nicht nur für den Gaza-Streifen, sondern
auch für das Westjordanland.
Deutsch von Niels Kadritzke
© Contrapress media GmbH
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Zuletzt erschien von Amira Hass:
Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land
hagalil.com
15-03-2004 |